(Antifa-Rundbrief):
„Nach langem Dulden zur Tat geschritten“.
Ernst Meyer – ein vergessener Akteur der Novemberrevolution.
Von Florian Wilde.
Riesige, teilweise bewaffnete Demonstrationszüge unter roten Fahnen zogen am Morgen des 9. November 1918 aus den proletarischen Außenvierteln ins Stadtzentrum Berlins. Aus den meisten Kasernen, an denen sie vorbeizogen, schlossen sich ihnen Soldaten an. Nur vereinzelt kam es zu Blutvergießen. Mittags erreichten die immer mehr anschwellenden Demonstrationen das Zentrum. Das Polizeipräsidium wurde gestürmt und die Polizisten entwaffnet. In den frühen Nachmittagsstunden brach der Widerstand einzelner Offiziere, die sich in der Universität und in der Staatsbibliothek verschanzt hatten, zusammen. Die Bewegung, die wenige Tage zuvor mit dem Aufstand der Matrosen in Kiel begonnen und sich rasend schnell über das ganze Reich ausgebreitet hatte, hatte nun auch die Hauptstadt erreicht und auch hier in wenigen Stunden die jahrhundertealte Monarchie hinweggefegt. Zwei Tage später beendete ein Waffenstillstand das vierjährige Massenmorden des Ersten Weltkriegs.
Zehntausende waren damals an der Revolution beteiligt. Die allermeisten von ihnen sind vergessen, darunter auch wichtige Akteure der Novembertage. Ein solcher soll in diesem Text vorgestellt werden: Der Spartakus- und KPD-Gründer und spätere KPD-Parteivorsitzende Ernst Meyer (1887-1930)
Leiter der Spartakusgruppe 1918
In der Folge einer erneute Verhaftung von Leo Jogiches lag die Leitung der Spartakusgruppe und die Herausgabe ihrer illegalen Materialien bis zur Haftentlassung von Liebknecht und anderen kurz vor Ausbruch des Novemberrevolution seit dem Frühjahr wieder in den Händen Meyers.
Wilhelm Pieck, mit dem Meyer damals eng zusammenarbeitete, erinnert sich an diese Zeit: „Da fast alle führenden Genossen der Spartakusbewegung in den Kerkern saßen, […] oblag dem Genossen Ernst Meyer die Führung der gesamten Spartakuspropaganda, die im letzten Kriegsjahre in stärkster Weise auf die Organisierung revolutionärer Kämpfe und der Beendigung des Krieges durch den Bürgerkrieg eingestellt war.“
Meyer selbst schrieb später: „Die Herausgeber arbeiteten vollständig illegal, wurden Stunde für Stunde bespitzelt und mussten sich jede Minute auf eine Verhaftung gefasst machen. […] Zuweilen war Leo Jogiches Verfasser, Herausgeber und Bote in einer Person. Nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1918 übernahm wiederum ich die Zusammenstellung, Herausgabe und Verbreitung […]. Die Verbreitung geschah durch Hunderte von Freiwilligen, die mit beispiellosem Opfermut und freudiger Hingabe die Briefe in Tausenden von Exemplaren in die Betriebe, in die Arbeiterorganisationen und sogar in die Schützengräben brachten. Besonders viel leisteten dabei die Jugendlichen und die Frauen. Es wurde so kräftig zugepackt, dass die von uns vorgesehenen Auflagen häufig nicht ausreichten […]. Auf Herstellung und Verbreitung standen hohe Strafen. Zuletzt verhängten die Gerichte Zuchthausstrafen.“
Bis es Meyer gelang, eine neue illegale Struktur zu etablieren, konnten eine Zeit lang kaum Flugblätter und Zeitungen herausgebracht werden, was die illegale Arbeit schwer hemmte. Erst im Juni 1918 erschien nach viermonatiger Unterbrechung wieder ein Spartakusbrief (Auflage: ca. 6.000 Exemplare), und erst ab Juli 1918 verbreitete die Gruppe wieder regelmäßig Flugblätter. Die Aushebung einer Berliner Spartakus-Druckerei im Juni 1918, die Zerschlagung der Struktur für den Spartakusflugschriftenversand am 15. August 1918 und eine damit einhergehende weitere Verhaftungswelle trafen die Gruppe erneut hart. Am 5. September schickte Meyer einen Brief an Lenin, um ihm nach dem Attentat baldige Genesung zu wünschen. Aus diesem Brief geht ein weiteres Mal die schwierige Situation der Gruppe im Sommer 1918 hervor, aber auch ein allmählich wieder zunehmender Optimismus: „Sie werden ebenso ungeduldig wie wir selbst auf die Zeichen revolutionärer Bewegungen in Deutschland gewartet haben und noch warten. Erfreulicherweise sind alle meine Freunde wesentlich optimistischer geworden. Leider können wir von größeren Aktionen in der Gegenwart und in der nächsten Zeit nicht berichten. Aber noch für den Winter ist mehr geplant, und die gesamten Verhältnisse in Deutschland stützen unsere Arbeit. […] Die Vorgänge in Russland haben ein lehrreiches, für niemanden übersehbares Beispiel aufgerichtet. Da die Mehrzahl meiner Freunde noch immer im Zuchthaus oder in Schutzhaft sitzt und Genosse Mehring zur Erholung im Harz weilt, unterzeichne ich diesen Brief allein mit nochmaligen herzlichen Wünschen für ihre baldige Wiederherstellung.“
Meyer in der Novemberrevolution
Mit der Haftentlassung Liebknechts und der Rückkehr Piecks von der Front im Oktober 1918 und dann der Entlassung Luxemburgs aus dem Gefängnis rückte Meyer wieder stärker in den Hintergrund, übernahm aber sowohl in der Zeit unmittelbar vor Ausbruch der Revolution als auch während und nach der Revolution weiterhin wichtige Leitungsaufgaben. In die unmittelbare Vorbereitung der Revolution war Meyer intensiv involviert.
Bereits am 26. Oktober 1918 war er – zusammen mit Liebknecht und Pieck – in den Vollzugsausschuss der Berliner Revolutionären Obleute eingetreten. In diesem kamen Vertreter der Spartakusgruppe und der USPD mit den Führern der Revolutionären Obleute zusammen. In den Wochen vor dem 9. November war der Vollzugsausschuss das zentrale Gremium zur Vorbereitung der Revolution.
Die Zusammenarbeit mit den Obleuten war für die Spartakusgruppe von höchster strategischer Priorität, gerade auch in Anbetracht ihrer eigenen Schwäche. Sie waren für die Spartakisten der notwendige Hebel, um eine revolutionäre Entwicklung in der Hauptstadt in Gang setzen zu können. Außerdem lag der Eintritt der Spartakisten in den Vollzugsausschuss auf der Linie ihres auf der Oktoberkonferenz der Gruppe gefällten Beschlusses, „die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten sofort in allen Orten in Angriff zu nehmen, soweit solche Räte bisher nicht in Funktion getreten sind“. Die in Berlin einem Arbeiterrat am nächsten kommende Struktur bildeten die Revolutionären Obleute.
Am Vormittag des 2. November legten Obleute und Spartakisten in einer Neuköllner Wirtschaft schließlich den Aufstandsplan für Berlin fest: Von den Großbetrieben am Stadtrand aus sollten bewaffnete Demonstrationszüge zu den Kasernen ziehen und von dort aus – gemeinsam mit überlaufenden Soldaten und mit weiteren Waffen ausgestattet – die Machtzentren in der Innenstadt besetzen. Als Datum des Aufstandes wurde der 4. November festgelegt.
Bei einer Aussprache, die Liebknecht, Pieck und Meyer mit anderen Genossen anschließend hatten, wurde der Plan, mit einem Aufstand zu beginnen, kritisiert. Statt dessen solle am Anfang ein Generalstreik stehen, der dann bis zum Aufstand gesteigert werden solle.
Noch am Abend des 2. November kam der Vollzugsausschuss zu einem weiteren Treffen zusammen. Liebknecht, Meyer und Pieck kämpften für ein Festhalten am Vormittags gefällten Beschluss, den Beginn der Aktionen auf den 4. November zu legen. Einigen der Obleute v.a. aus den kleineren Betrieben (sie vertraten immerhin 48.000 Kollegen) waren aber Bedenken über die tatsächliche Revolutionsbereitschaft der Massen gekommen. Nach endlosen Debatten wurde morgens um 3 Uhr mit knapper Mehrheit (22:19) der geplante Aufstandstermin auf den 11. November verschoben und ein von Ledebour verfasster Revolutionsaufruf verworfen.
Während in Berlin die beiden wichtigsten Formationen der revolutionären Linken – Spartakusgruppe und Revolutionäre Obleute – noch um den Revolutionstermin rangen, brach unabhängig von ihnen die Revolution in anderen Teilen des Reiches aus. Nur in Berlin blieb es merkwürdig ruhig, die alten Autoritäten fühlten sich sogar stark genug, noch am 7. November eine Versammlung zur Feier des Jahrestages der Russischen Revolution zu sprengen. Starke Militärpräsenz prägte das Berliner Straßenbild am folgenden Tag.
Hinter den Kulissen drängten die Spartakus-Vertreter in den jetzt fast täglich stattfindenden Geheimsitzungen mit den Revolutionären Obleuten diese verzweifelt, den Aufstandstermin vorzuverlegen. Liebknecht notierte: „Allen Forderungen auf Beschleunigung der Aktion wird seit dem 3. November von Däumig, Barth, Müller usw. stereotyp entgegnet: Jetzt sei alles auf den 11. November vorbereitet, es sei technisch unmöglich, die Revolution früher zu machen! Alle Proteste L.[iebknecht]s gegen diese grob-mechanische Auffassung prallten ab, bis die objektiven Verhältnisse die superklugen Revolutionsfabrikanten überrannten.“
Erst als sich die Revolution bereits im ganzen Reich ausgebreitet hatte, gaben die Obleute dem Drängen der Spartakisten nach. In eine gemeinsame Sitzung des Vollzugsausschusses der Obleute mit dem USPD-Vorstand im Fraktionszimmer der USPD im Reichstag, an der Meyer, nicht aber Liebknecht, teilnahm, platzte am 8. November die Nachricht, Däumig, einer der Führer der Obleute, der die Aufstandpläne bei sich trug, sei verhaftet worden. Mit einer umfassenden Verhaftungswelle war zu rechnen. Nun musste augenblicklich gehandelt werden. Einstimmig wurde beschlossen, die Berliner Arbeiterschaft für den morgen des 9. November zum Losschlagen aufzufordern. Vom Vollzugsrat erschien ein kurzer Aufruf, der „die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen“ forderte, ohne allerdings die nächsten Schritte auf dem Weg dorthin oder auch die Ausgestaltung dieser Republik näher zu benennen.
Noch am gleichen Tag erschien ein von Liebknecht und Meyer unterzeichneter Aufruf: „Arbeiter und Soldaten! Nun ist eure Stunde gekommen. Nun seid ihr nach langem Dulden und stillen Tagen zur Tat geschritten. Es ist nicht zuviel gesagt: In diesen Stunden blickt die Welt auf euch und haltet ihr das Schicksal der Welt in euren Händen. […] Jetzt, da die Stunde des Handelns gekommen ist, darf es kein Zurück mehr geben. Die gleichen >Sozialisten<, die vier Jahre lang der Regierung Zuhälterdienste geleistet haben […], setzen jetzt alles daran, um euren Kampf zu schwächen, um die Bewegung abzuwiegeln. […] Von der Zähigkeit und dem Erfolg eures Kampfes […] hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie eure Kameraden von der Flotte, vereinigt euch mit euren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst euch nicht gegen eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schießt nicht auf die Freiheitskämpfer.“
Am 9. November selbst war Ernst Meyer unermüdlich im Einsatz und an den verschiedensten Schauplätzen der Revolution in Berlin präsent. Bereits am frühen Morgen des 9. November nahm er in der Mühlenstrasse in Schöneberg an einer Besprechung des Vollzugsausschusses teil. Von dort aus eilten Liebknecht, Meyer und Hermann Duncker in die Innenstadt und sprachen von Autodächern aus zu den Massen.
Gemeinsam mit Paul Levi und Käte Duncker beteiligte sich Meyer gegen 13 Uhr an der Befreiung von inhaftierten politischen Gefangenen, unter ihnen Leo Jogiches, aus dem Gefängnis Berlin-Moabit durch bewaffnete Arbeiter und Soldaten. Anschließend eröffnete er die nach der Ausweisung des russischen Botschafters am 5. November geschlossene sowjetische Telegrafenagentur ROSTA neu. Über diesen Vorgang schrieb er später: „Am 9. November ging ich nachmittags, ehe ich die Redaktion der >Roten Fahne< […] übernahm, in das Polizeibüro in der Wilhelmstrasse, wo die Schlüssel zur Rosta aufbewahrt wurden. Ich entfernte die noch vorhandenen Polizeisiegel an den Türen der Rosta und begann sofort wieder die Übermittlung von Nachrichten an die Presse. Eines der ersten Dokumente war der deutsch-japanische Geheimvertrag, den mir Joffe am Tage vor seiner Ausweisung zwecks Publikation übergeben hatte.“Währenddessen wurde unter der Leitung Hermann Dunckers der „Berliner Lokal-Anzeiger“, ein zum Hugenberg-Konzern gehörendes, politisch weit rechtsstehendes Blatt, von einem Trupp revolutionärer Arbeiter und Soldaten besetzt. Duncker erinnert sich: „Ich hatte von der Druckerei aus sofort mir telefonisch erreichbare Freunde aus der Spartakusleitung herbeigerufen. Dr. Ernst Meyer kam als erster und übernahm die Redaktion.“Erstmals seit seiner Entlassung aus der Vorwärts-Redaktion konnte Meyer nun wieder legal in seinem Beruf als Redakteur arbeiten. Die neue Zeitung erschien am Sonntag, den 10. November in einer Auflage von 15.000 Stück und wurde auch an alle Abonnenten des „Lokalanzeigers“, darunter verschiedene Frontgarnisonen, verschickt. Sie machte auf mit einem Aufruf des Vollzugsrates zur Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, die sich am kommenden Tag im Zirkus Busch zur Wahl einer provisorischen Regierung versammeln sollten. Neben verschiedenen Meldungen findet sich auch ein redaktioneller Beitrag auf der Titelseite, der die Ausrichtung der Spartakusgruppe unterstrich: „Diese Revolution muss nicht nur hinwegschwemmen alle Reste und Ruinen des Feudalismus, sie muss nicht nur brechen alle Zwingburgen des Junkertums, […] ihre Losung heißt nicht nur Republik, sondern sozialistische Republik! […] Aus den Trümmern und dem Schutt des Weltkrieges muss das revolutionäre, siegreiche Proletariat die neue Wirtschaft errichten. Dazu bedarf es der politischen Macht und der wirtschaftlichen Kräfte. […] Arbeiter und Soldaten! Organisiert euch, befestigt eure Macht! Behaltet eure Waffen!“Immer wieder warnte die Zeitung ihre Leser, sich nicht vorschnell des Sieges zu freuen, und rief sie auf, wachsam und misstrauisch zu sein: „Arbeiter, Soldaten, bleibt auf der Hut!“Weitere Artikel zählten die nächsten notwendigen Schritte zur Befestigung der Rätemacht auf und griffen die SPD scharf an: „Vier lange Jahre lang haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse >das Vaterland< verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte: jetzt, wo der deutsche Imperialismus zusammengebrochen ist, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist und suchen, die revolutionären Energien der Massen zu ersticken.“
Welchen Weg Deutschland künftig gehen würde, war aber in den Wochen nach dem 9. November offen. Ob sich eine bürgerliche „Republik Deutschland“ oder die „freie sozialistische Republik“ durchsetzen würden, noch nicht eindeutig absehbar.
Bereits am 10. November, einem Sonntag, versammelten sich ab 17.00 die in den Morgenstunden des selben Tages in den Betrieben und Kasernen gewählten Delegierten zu einer Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch. Pathetisch titelte der Vorwärts an diesem Tag: „Kein Bruderkampf!“. Mit dieser die Stimmung der Massen treffenden Parole sollte jede Kritik an der Politik der SPD in den vergangenen vier Jahren abgewehrt und somit radikaler Agitation im Namen der „Einheit“ entgegengewirkt werden. Spartakus stellte nur wenige der ca. 3.000 Delegierten, weder Rosa Luxemburg noch Karl Liebknecht hatten ein Mandat erhalten. Ernst Meyer nahm an der Versammlung teil, wahrscheinlich aber auch nur als Beobachter. Die Vollversammlung beschloss, die Regierungsgewalt einem „Rat der Volksbeauftragten“ zu übertragen, der aus je drei SPD- und drei USPD-Mitgliedern bestand. Weiterhin erklärte die Vollversammlung Deutschland zur sozialistischen Republik, in der die Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der politischen Macht waren. Noch am Abend des selben Tages kam die Spartakusführung (einschließlich der aus dem Gefängnis entlassenen Rosa Luxemburg, die gegen 22 Uhr Berlin erreichte) in den Räumen des besetzten „Berliner Lokal-Anzeigers“ zusammen. Trotz der Freude, dass sie nun endlich wieder alle beisammen waren, herrschte eine sehr nachdenkliche Stimmung. Auch wenn die Revolution vorerst erfolgreich gewesen war: Sie fürchteten, dass die Konterrevolution keineswegs besiegt war, und ihnen war bewusst, dass der Spartakusgruppe „die Massenorganisation, mit der sie nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Reich ihre Aufgabe hätte erfüllen können“, fehlte.
Am 11. November kamen Vertreter der Spartakusgruppe zu ersten legalen Konferenz ihrer Geschichte im Hotel Excelsior am Anhalter Bahnhof zusammen. Luxemburg, Liebknecht, Levi und Meyer hatten hier vorübergehend Quartier genommen. Die Konferenz beschloss, die Spartakusanhänger fester zusammenzufassen und die Gruppe in „Spartakusbund“ umzubenennen. Eine Mehrheit der Anwesenden sprach sich dafür aus, vorerst weiter in den Reihen der USPD zu wirken, um die sich an ihr orientierenden Arbeitermassen besser erreichen zu können. Der Spartakusbund solle aber in der USPD als geschlossene Propagandavereinigung auftreten und auch eigene Mitgliedskarten ausgeben. Als nächste Aufgaben wurden die Herausgabe einer Tageszeitung, einer wissenschaftlichen Wochenzeitung, einer Jugendzeitung, einer Frauenzeitung und eines Blattes für Soldaten festgelegt. Der Spartakusbund wählte sich eine dreizehnköpfige Zentrale, der Willi Budich, Hermann und Käte Duncker, Hugo Eberlein, Leo Jogiches, Paul Lange, Paul Levi, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck und August Thalheimer angehörten.
Luxemburg und Liebknecht sollten künftig die Redaktion der „Roten Fahne“ leiten, Meyer als ihr Vertreter in der Redaktion arbeiten. Allerdings kam dem Spartakusbund am Tage seiner Gründung sein Zentralorgan vorerst abhanden. Daran erinnert sich die Spartakus-Anhängerin Lotte Pulewka: „An diesem Tag bemerkte ich, dass das Gebäude des Lokal-Anzeigers nicht wie sonst von Soldaten des Arbeiter- und Soldatenrates bewacht war. Ich ging eine alte Wendeltreppe hinauf über einen Korridor, machte vorsichtig die Tür zum Konferenzsaal auf, und schon hatte mich jemand von innen bei der Hand gepackt und in den Saal gezerrt. Dieser Konferenzsaal war fast völlig von einem großen ovalen Tisch und den dazugehörigen Stühlen ausgefüllt. […] Im Saal war ein furchtbarer Lärm, alle Anwesenden schrien durcheinander. Ich sah auch unsere Genossen bei einander stehen: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht (er war blaß, hager, übermüdet), Käte und Hermann Duncker, Dr. Ernst Meyer, Lotte Haenschel und andere. Außer ihnen waren im Saal einige vornehm gekleidete, gut genährte Herren und unsere Wache, die völlig betrunken war. Mit Hilfe von Ernst Meyer stieg eine kleine, zarte Frau auf den Tisch, sie hatte ein liebes, kluges Gesicht. Ich war erschüttert: Zum ersten Mal sah ich Rosa Luxemburg. […] Sie sagte: >[…] Ich empfehle, dass wir eine Kommission bilden, der ein Mitglied der alten Redaktion, eins der neuen und ein Mann von der Wache angehören. Sie sollen zum Reichstag gehen, dort Klarheit schaffen und dann Bericht erstatten.< Einer der Soldaten ergriff die Initiative, stimmte Rosa Luxemburg zu und sagte zu Ernst Meyer: >Du fährst mit und die anderen Genossen von der >Roten Fahne< werden so lange eingesperrt und bewacht.“
Diese Episode wirft ein bezeichnendes Bild auf die Deutsche Revolution und auf die Schwäche des Spartakusbundes: Am Tag drei der Revolution kann ein politisch rechtsstehender Verleger mit Hilfe eigentlich „revolutionärer“ Soldaten die bekanntesten radikalen Revolutionäre kurzerhand festsetzen und ihnen das requirierte Haus des Scherl-Verlages abnehmen. Der Vollzugsrat der Berliner A.- und S.-Räte stellte sich zwar auf die Seite der Spartakisten und beschloss am 12. November: „Dem Scherl-Verlag wird vom Vollzugsrat des A.-u. S.-Rates die Verpflichtung auferlegt, die täglich erscheinende Zeitung >Die Rote Fahne< unter der Redaktion von Frau R. Luxemburg (Vertreter [Ernst] Meyer) zu drucken und die für die Herstellung und Verbreitung erforderlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.“Der Verlag weigerte sich aber, der Anordnung folge zu leisten, und organisierte sich die Unterstützung der Regierung Ebert. Die „Vereinigung Großstädtischer Zeitungsverleger“, der der Scherl-Verlag angehörte, wandte sich protestierend an den Reichskanzler Ebert und drohte, die Verlage würden ihr Vertrauen in die Regierung verlieren, wenn diese nicht sofort in ihrem Interesse handele. Darauf wurde der Befehl zurückgezogen. Es sollte eine Woche vergehen, bis der Spartakusbund endlich eine regelmäßige Tageszeitung herausbringen konnte. Die Redaktion fand schließlich Unterschlupf in den Räumen des Zentralbüros des Spartakusbundes, einer siebenräumigen Etage in der Wilhelmstr. 114. Diese erwies sich jedoch bald als zu klein, weswegen das Zentralbüro in die Friedrichstr. 217 – den von Meyer angemieteten früheren Sitz der ROSTA – verlegt wurde. Die Redaktion blieb in der Wilhelmstr., außerdem wurden für sie zusätzlich Räume im Hotel „Askanischer Hof“ in der Anhalter Str. gemietet.
Die Aufgaben des Spartakusbundes in den Wochen nach der Novemberrevolution beschrieb Meyer später folgendermaßen:
„Der Sturz der Monarchie in Deutschland gab dem Spartakusbund die breitesten Entfaltungsmöglichkeiten. Er setzte der bereits am 9. November von Ebert ausgegebenen Aufforderung der Ablieferung der Waffen die Parole der Bewaffnung des Proletariats und der Entwaffung der Bourgeoisie entgegen. Er kritisierte auf Schritt und Tritt die Unzulänglichkeiten der deutschen Revolution, die Schwankungen der Unabhängigen und das immer deutlicher werdende Bündnis zwischen der SPD und der bewaffneten Gegenrevolution. Er begann gleichzeitig einen eigenen legalen Parteiapparat aufzubauen und arbeitete unermüdlich an der ideologischen Aufklärung der Arbeiter, besonders durch die anfangs im von revolutionären Arbeitern besetzten Berliner >Lokalanzeiger< herausgegebene >Rote Fahne<. Gleichzeitig entstanden in der Provinz eine Reihe von kommunistischen Tageszeitungen, ebenfalls meist in gewaltsam besetzten bürgerlichen Druckereien. Aber dem starken Einfluss des Spartakusbundes in den Kämpfen des Wintern 1918/19 entsprach nicht sein schwacher organisatorischer Apparat.“ Und an anderer Stelle: „Der Spartakusbund stellte sich zur Aufgabe, die in den Novembertagen spontan entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte zu festigen und sie zu leitenden Organen des Staatsapparates zu gestalten, das Proletariat zu bewaffnen, die Bourgeoisie zu entwaffnen und die proletarische Revolution durch die Diktatur des Proletariats zu vollenden.“
Bereits im Dezember kam es zu massiven Spannungen zwischen den Spartakus-Anhängern, die v.a. unter der Parole „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ auf eine Fortführung der Revolution drängten, und der sich immer enger mit dem alten Militär verbündenden SPD, die eben dies verhindern wollte. Wiederholt schlug dieser Konflikt in große Demonstrationen und gewalttätige Zusammenstöße um. Meyer dürfte an den meisten der Demonstrationen im Dezember 1918 teilgenommen, auf einigen geredet und viele von ihnen in der Spartakuszentrale mit geplant haben. Eine genaue Rekonstruktion seines Anteils daran lassen fehlende Quellen allerdings leider nicht zu. Auf den zahlreichen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen des Spartakusbundes in Berlin im November und Dezember 1918 trat Meyer nicht als Referent in Erscheinung. In den Wochen nach der Novemberrevolution hatte er die Herausgabe von Lenins Standartwerk „Staat und Revolution“ redigiert. Weiterhin war er als Verantwortlicher der Zentrale für den Pressedienst an den Versuchen beteiligt, kommunistische Zeitungen in der Provinz aufzubauen.
Außerdem besuchte Meyer im Dezember Spartakus-Gruppen außerhalb Berlins, referierte in Danzig und agitierte vermutlich auch in Ostpreußen. Am 24. Dezember beschlossen zudem die sich jetzt Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) nennenden Linksradikalen aus Bremen, Hamburg und anderen Städten ihren Anschluss an den Spartakusbund.
Dessen Reichskonferenz, auf der zum Jahreswechsel 1918/19 die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gegründet wurde, sollte eine vierjährige Entwicklung zum Abschluss bringen, an deren Anfang eine Besprechung in Luxemburgs Wohnung stand und in deren Verlauf sich aus den Linksradikalen der Vorkriegs-SPD eine eigenständige kommunistische Strömung herausbildete, eine Entwicklung, an der Meyer einen zentralen Anteil hatte.
Dr. Florian Wilde ist Historiker und linker Aktivist. Er arbeitet als wissenschaftlicher Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sein Buch „Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden“ ist im Frühjahr 2018 erschienen. Er betreibt den Blog http://wildetexte.blogsport.eu
Veröffentlicht in Rundbrief Antifaschismus der Partei DIE LINKE 2/2018.