(marx21)
17N: Die Erben der griechischen Partisanen.
Das Buch »Geboren am 17. November – Eine Geschichte der griechischen Stadtguerilla« schildert die weitgehend unbekannte Erfahrung der Untergrundorganisation 17N. Florian Wilde hat es für uns gelesen.
Über 100 größere Anschläge mit 23 Toten zwischen 1975-2002 gehen auf das Konto der griechischen antikapitalistisch-antiimperialistischen Stadtguerilla »Revolutionäre Organisation 17. November« (17N). Ihr Name bezieht sich auf das Datum des Volksaufstandes gegen die Militärdiktatur 1973, der mit der Erstürmung des von Studierenden besetzten Politechnikums in Athen endete. Nun liegen erstmals Memoiren eines führenden Militanten auf deutsch vor.
Militärdiktatur und Klassenkampf
»Geboren am 17. November« hat Dimitris Koufontinas seine Erinnerungen genannt, denn dieser Tag war auch für den damals 15-jährigen Schüler seine Geburtsstunde als politischer Kämpfer. »Im Alter von 15 Jahren kam ich politisch auf die Welt: im Feuer des Polytechnikums, in diesen drei endlosen Tagen und Nächten. Diese revolutionäre Flamme brannte sich in meine Seele ein.«
Voller Hoffnung und Erwartungen, alles war möglich, als die Revolution um die nächste Straßenecke zu lächeln schien
Plastisch schildert er die Übergangsperiode von der Militärdiktatur zur parlamentarischen Demokratie in der 2. Hälfte der 70er Jahre, deren Kennzeichen eine anschwellende Bewegung von Massenkämpfen und Fabrikbesetzungen, Entstehung autonomer Fabrikkomitees und Arbeiterorganisationen war: »Es war eine einzigartige Zeit für alle, die sie erlebten. Voller Hoffnung und Erwartungen, alles war möglich, als die Revolution um die nächste Straßenecke zu lächeln schien. Ein immer stärkerer Ausbruch der Jugendbewegung, die alles anzweifelte und sich immer mehr radikalisierte. Massenhafte Arbeiter- und Volkskämpfe, die die Grenzen der parteimäßigen Linken überschritten. Täglich gab es in einer brodelnden Bewegung Demonstrationen, Streiks, Krawalle, Besetzungen. Massenhaft, dynamisch und vielgestaltig öffneten sie ein Fenster zu revolutionären Ahnungen und Hoffnungen.« »Hier, im Feuer der direkten Aktion wurde das Bewusstsein geboren, dass wir gegen sie gewinnen können. Im Fluß der Ereignisse jener Zeit entstand der Gedanke, dass die Aktion Bewusstsein schafft – ein Gedanke, der später bei bewaffneten Aktionen meine Leitlinie war.«
Das Erbe der Partisanen
Wie Pilze schossen linksradikalen Gruppen aus dem Boden. Bald entstanden aus dieser Bewegung heraus bewaffnete Gruppen, zur Selbstverteidigung gegen Polizei und Faschisten, aber auch zum Angriff auf Staat und Kapital. Sie sahen sich in unmittelbarer Nachfolge der kommunistischen Partisanen, die erst gegen die Nazis und später gegen die britische Besatzung gekämpft hatten. Manche Stadtguerilleros der 70er erhielten ihre Pistolen von der Partisanengeneration zuvor übergeben. Diese Geschichte spiegelt sich auch in der proletarischen Familie von Koufontinas: Opa, Vater und Onkel hatten bewaffnet gegen die Deutschen und später gegen die Briten gekämpft und in den Lagern der Nazis und der Engländer gelitten. Für Koufontinas ist dies alles Teil einer uralten Widerstandsgeschichte des griechischen Volkes, und so durchzieht der für deutsche Linke ganz ungewohnt positive Bezug auf »das Volk« das gesamte Buch. Nie als ethnische, sondern immer als soziale Kategorie: das Volk gegen die Mächtigen.
Wenn man die Revolution nicht vorbereitet und nicht organisiert, dann will man sie nicht wirklich
Koufontinas schließt sich zunächst der Schülerorganisation der sich damals antikapitalistisch gebenden sozialdemokratischen PASOK an, und engagiert sich dann in der autonomen Studierenden- und Arbeiterbewegung. Als die Hochphase der Bewegungen Ende der 70er abebbt, sucht er den Kontakt zu bewaffneten Gruppen, denn: »Wenn man die Revolution nicht vorbereitet und nicht organisiert, dann will man sie nicht wirklich«. Diese von der Regierungsübernahme der PASOK ab 1981 geprägte Phase wird leider weit weniger plastisch geschildert. Teilweise fällt es schwer, dem Autor durch die Diskussionen der verschiedenen bewaffneten Gruppen zu folgen, und Ausrichtung und Praxis seiner ersten Guerilla-Gruppe »Revolutionärer Volkskampf« ELA bleibt etwas nebulös.
Die »bewaffnete Propaganda« des 17. November
Dafür nimmt die Geschichte wieder an Fahrt auf, als er sich dem 17N anschließt und in den Untergrund geht. Detailliert werden die zahlreichen Anschläge der Organisation und die damit verfolgten politischen Ziele geschildert. Hauptziel von Anschlägen waren Militärs, Konzerne und Repräsentanten aus den USA, dem UK, der Türkei und Deutschland, sowie griechische Kapitalisten. Zu den spektakulärsten Aktionen gehört ein Anschlag auf einen Bus mit den Bomberpiloten der US-Luftwaffe, die kurz zuvor Tripolis bombardiert hatten.
Der 17N kämpfte für »Volksmacht und antibürokratischen Sozialismus« in Abgrenzung zum Ostblock. Er verstand sich nicht als Avantgarde, sah sich nicht als Zentrum und wollte nicht die Führung der Bewegung sein. Die Idee war, »den bewaffneten Kampf als Zünder des Klassenkampfes zu verstehen, als eine Brücke zu den Kampferinnerungen, als etwas, dass das Bewusstsein bildete, als ein Leuchtfeuer für den revolutionären Horizont.« 17N vertrat eine guevaristische Fokus-Theorie und verstand seine Aktionen in diesem Sinne als bewaffnete Propaganda.
Während die RAF in Deutschland bald nur noch sehr kleine linke Sub-Milieus als Referenzrahmen hatte, bemühte sich der 17N um eine »volksnahe« Politik und verstand sich als »Justiz des Volkes«. Erhöhung der Lohnsteuer? Rakete ins Finanzministerium. Arbeiter sterben bei Mienenunglück? Raketen schlagen im Büro des Bergbaukonzerns ein. Unternehmen transportieren Streikbrecher? Busse und Schiffe werden gesprengt. Auf Privatisierungen reagierte 17N mit Anschlägen auf die, die sich an bisher öffentlichen Unternehmen bereichern wollten. Auf Strom- oder Mieterhöhungen mit Anschlägen auf die verantwortlichen Unternehmen. Außerdem waren immer wieder hochrangige CIA- und Militärangehörige der von vielen Griechen als neue Besatzungsmacht empfundenen USA das Ziel von Anschlägen, die während des 1. Golfkrieges 1991 in dichtem Takt erfolgten und den Amerikanern signalisieren sollten: Hier ist kein ruhiges Hinterland.
Wir waren eine politisch-militärische Organisation, die sich nicht genug um ihren politischen Pol kümmerte
Zu allen Aktionen gab es Erklärungen des 17N. Sie zeichnen sich durch eine um Verständlichkeit bemühte Sprache aus und bieten manch anregende Analyse. Geradezu prophetisch die Vorhersagen zum Beitritt Griechenlands zu EWG/EG/EU: Er würde zu Schuldenkrise und Wirtschaftskollaps und zu einer völligen Unterwerfung Griechenlands unter das deutsche Kapital und die deutsche Regierung führen. Entsprechend rückten deutsche Konzerne wie Siemens und EG-Einrichtungen verstärkt in den Fokus der ab Ende der 80er Jahre oft mit geraubten Militärraketen ausgeführten Anschläge. Mit ihnen sollte auch der Forderung nach der Rückzahlung griechischer Zwangsanleihen aus der Nazi-Zeit Nachdruck verliehen werden.
Abkopplung von den realen linken Bewegungen
Der 17N war in Teilen der Bevölkerung durchaus populär: jahrelang lagen bei Umfragen die Zustimmungswerte zu den Aktionen des 17N nicht unter 20%. Dazu trug bei, dass sich die Gruppe peinlich genau darum bemühte, keine Unbeteiligten zu gefährden: Für die Bevölkerung sollte es keinen Grund geben, die Guerilla zu fürchten. Für die Reichen und Mächtigen hingegen um so mehr.
Kennzeichen des 17N war seine fast perfekte und hocheffiziente illegale Infrastruktur aus dutzenden Wohnungen und Autos, aus Waffenlagern, Fälscherwerkstätten und Druckereien. Der Preis der Professionalität war aber eine immer größere Abkopplung von den realen linken Bewegungen. Insbesondere auf diesen Punkt verweist Koufontinas immer wieder: »Wir waren eine politisch-militärische Organisation, die sich nicht genug um ihren politischen Pol kümmerte.« Bei aller Sympathie für die Organisation entwickelten sich keine sie begleitenden Massenaktionen. »Aber warum wurde die Praxis der Organisation nicht von einer entsprechend großen oder auch nur kleinen Massenbewegung begleitet? Weil in Wahrheit diese Art der politischen Repräsentation nicht weit entfernt von einer politischen Stellvertreterpolitik war.« Einen Grund für den ausbleibenden Erfolg des 17N sieht Koufontinas rückblickend eben in der Fokus-Strategie, die immer eindimensionaler auf bewaffnete Aktionen setzte. »Es fehlte die strategisch geplante geduldige und langfristige Arbeit in den Massen«. Nach 1992 schrumpfte die Organisation durch Austritte von Mitgliedern. Die aufwändige Infrastruktur absorbierte die Energie und die Anschlagsfrequenz ging zurück.
Repression und Niedergang
Die von den USA ausgesetzte Belohnung für die Ergreifung von 17N-Mitgliedern lag schließlich bei 10 Mio. US-Dollar, inklusive dem Recht auf Einbürgerung in die USA. Auch der Repressionsdruck wuchs immer mehr, ganze Abteilungen von CIA, M15 und BND unterstützten die Jagd auf den »17. November«. Trotzdem wurde ein Vierteljahrhundert lang niemals auch nur ein einziges Mitglied gefasst. Bis im Sommer 2002 ein Sprengsatz verfrüht zündete und einen Militanten schwer verletzte. Er wurde verhaftet und von CIA-Verhörspezialisten gefoltert. Daraufhin brach der ganze illegale Apparat wie ein Kartenhaus zusammen und wurde rasch von der Polizei aufgerollt.
Mit der Androhung einer Verschleppung nach Guantanamo wurden zahlreiche Geständnisse erpresst, in denen weitere Genossen belastet wurden. Dieser Verrat ist für Koufontinas das dunkelste politische Ereignis seines Lebens. Er selbst entschied sich für einen anderen Weg: zwei Monate hielt er sich versteckt und stellte sich dann, um vom Gerichtssaal aus als einziger die Verantwortung für alle Aktionen der Gruppe zu übernehmen und die Geschichte des 17N offensiv zu verteidigen. 19 Personen standen schließlich im 17N-Prozess vor Gericht. Im Anhang des Buches ist die beeindruckende Verteidigungsrede von Koufontinas abgedruckt. Er erhielt dafür mit 13 mal Lebenslänglich die mit Abstand härteste Strafe.
Selbstkritik statt Heldengeschichte
Teil seines Kampfes um die Verteidigung der Geschichte des 17N ist dieses Buch. Es hat einige Schwächen. Sie sind den Umständen seiner Entstehung im Hochsicherheitstrakt sowie dem Bestreben, keine Genossen zu gefährden, geschuldet. Manche Passagen über innerlinke Debatten lesen sich eher ermüdend, nicht immer ist es ganz einfach, dem Autor durch das Dickicht der illegalen Gruppen zu folgen. Auch der blumige bis pathetische Stil befremdet, wird allerdings sehr angenehm durch das Bemühen des Autors um eine selbstkritische Aufarbeitung konterkariert.
Den häufig gegen den 17N erhobenen Nationalismus-Vorwurf weist er scharf zurück, ohne darauf näher einzugehen. Seinem Anspruch, »keine Heldengeschichte, sondern eine Selbstkritik zu schreiben«, wird er dennoch gerecht und setzt sich kritisch mit einem Politikansatz auseinander, der zwar Schlagzeilen produzierte und Sympathien weckte, dem es aber letztlich nie gelang, umfassende Organisierungsprozesse und den Aufbau echter proletarischer Gegenmacht anzustoßen.
Das Buch schildert die weitgehend unbekannte Geschichte einer faszinierenden Untergrundorganisation. Es handelt aber auch von einem Menschen und seinen Motiven, Revolutionär zu werden und dies bis zur letzten Konsequenz zu bleiben. Von einem Menschen, der Krieg und Gewalt verabscheut und doch ein Vierteljahrhundert lang Bomben warf »im Krieg der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker, dem einzig rechtmäßigen Krieg in der Geschichte« (Marx). Auch mit dieser Grundhaltung lohnt die Auseinandersetzung.
Das Buch:
Dimitris Koufontinas
»Geboren am 17. November – Eine Geschichte der griechischen Stadtguerilla«
bahoe books
Dezember 2018
304 Seiten
15 Euro
Foto: Wikipedia
Veröffentlicht auf www.marx21.de