1968: Ein globaler Aufbruch

1968: Ein globaler Aufbruch
Erklärung der Historischen Kommission der LINKEN, verfasst von Marcel Bois und Florian Wilde und vom Sprecherrat am 15. April 2008 verabschiedet. Veröffentlicht in Neues Deutschland

1. Einleitung
Auch vierzig Jahre danach verleiten die Studierendenproteste von 1968 zu hitzigen Debatten. Die einen sehen die Bewegung jenes Jahres lediglich als Vorläufer des Terrors der RAF oder sie vergleichen gar die protestierenden Studenten mit den An­hängern Hitlers. Für die anderen führte 1968 zur „Neu- und Umgründung der Bundesrepublik“, die in den „Kanon der westlichen Demokratien aufgenommen“ wurde. Die Proteste werden als eine Art Katalysator einer „Fundamentalliberalisierung“ gesehen. Wir hingegen sind der Meinung, dass „1968“ vor allem die Chiffre für eine bis in die späten 1970er Jahre währende Epoche globalen gesellschaftlichen Aufbruchs ist, die sich vor allem auf die Jahre 1967-69 fokussiert.

1968 steht für weltweite Studierendenproteste, den „Pariser Mai“ – den wochenlangen Gene­ralstreik in Frankreich – und Fabrikbesetzungen in Italien. Es steht für die Reformversuche in der Tschechoslowakei, einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ zu schaffen. Es ist zudem ein Synonym für den weltweiten Widerstand gegen den grausamen Krieg der USA in Viet­nam, für die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ und die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA.

Das grundsätzliche Ziel, das viele 68er verfolgt haben – eine fundamentale demokratisch-so­zialistische Veränderung der Gesellschaften im Osten und im Westen – haben sie nicht erreicht. Wohl aber wirken viele Errungenschaften der Bewegung noch bis heute nach.

Mit dem Jahr 1968 verbinden sich für Linke im Westen und im Osten Deutschlands sehr un­terschiedliche Erfahrungen. Während in der ehemaligen DDR der „Prager Frühling“ und seine Niederschlagung stark prägend waren, dominieren im Westen die Erfahrungen aus der außer­parlamentarischen Opposition. Aufgabe heutiger Linker ist es, über eine kritische Auseinandersetzung mit der 68er-Bewe­gung darüber zu diskutieren, wie das Erbe nutzbar zu machen ist.

2. Globale Dimensionen einer Revolte

In historisch fast einzigartiger Form verdichteten sich 1967-69 verschiedene Emanzipations­bewegungen zu einem globalen Aufbruch einer „Neuen Linken“. Es waren vor allem drei unterschiedliche Stränge, die in diesen Jahren zusammentrafen und sich gegenseitig beein­flussten: Eine gegen die „fordistische Fabrikgesellschaft“ und ihren oft autoritären staatlichen Überbau gerichtete Revolte in den Ländern des kapitalistischen „Westens“, der Versuch eines demokratisch-sozialistischen Ausbruches aus den bürokratischen Strukturen der post-stali­nistischen Länder des Ostblocks und das Erstarken der antikolonialen Befreiungskämpfe in den Ländern des „Südens“.

Die Revolte im Westen

Das für den Antikommunismus wesentliche Bild eines freien und demokratischen Westens geriet unter dem Eindruck des brutal geführten Krieges der USA in Vietnam, der Aufstände der Schwarzen in den Ghettos der USA und dem engen Bündnis des westlicher Regierungen mit diktatorischen, zum Teil faschistischen Regimes (Portugal, Spanien, Griechenland, aber auch Iran und ande­ren) in die Krise. In der BRD kam die oft ungebrochene persönliche Kontinuität ehemaliger NS-Funktionäre im Staatsapparat hinzu.

Die ideologische Krise des Antikommunismus schuf den Raum für die Entstehung einer neuen, sozialistischen Linken. Diese verband sich in vielen Ländern mit der Zunahme von Arbeiterbewegungen, die ihren Höhepunkt na­mentlich im mehrwöchigen Generalstreik des Pariser Mai 1968 und den Kämpfen in Italien 1969 und den frühen 70er Jahren erlebten. Hinzu kam eine oft subkulturell geprägte antiauto­ritäre Jugendbewegung. Sie kollidierte mit polizeilichen Repressionen gegen neue Formen jugendlichen Freizeitverhaltens (Rock-Musik, Aussteigertum, Drogen) ebenso wie mit auto­ritären Strukturen in Schule, Universität und Betrieb.

Der Aufbruch im Osten

Gegen die bürokratische Pervertierung der Emanzipationsversprechen des Sozialismus im Osten entstand namentlich in der CSSR eine breite, von Teilen des Parteiap­parates unterstützte Bewegung für einen demokratischen Sozialismus. In Polen protestierten Studenten im März 1968 gegen nationalistische und antisemitische Tendenzen im Land. Sie forderten in einer Erklärung der Studentenbewegung u.a. die Abschaffung der Zensur, Wirtschaftsreformen und unabhängige Gewerkschaften. In Jugoslawien suchte die „Praxis-Gruppe“ nach Verbindungen zum kritischen Mar­xismus des Westens, auch in Belgrad besetzten Studierende die Fakultäten.

Alle diese Erneuerungsversuche im Osten scheiterten. Das repressive Gesicht des Post-Sta­linismus zeigte sich der Welt, als die Panzer des Warschauer Paktes den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in den Straßen von Prag unter sich begruben.

Die antikolonialen Kämpfe

Als im Januar 1968 vietnamesische Befreiungskämpfer amerikanische Bodentruppen in Saigon und anderen südvietnamesischen Städten angriffen, wurde der Welt demonstriert: Die größte Supermacht der Welt, die USA, kann herausgefordert werden. Dies inspirierte nicht nur die Anti-Kriegs-Bewegung im Westen, sondern auch die antikolonialen Kämpfe der „Dritten Welt“ er­hielten einen neuen Aufschwung, der in der Unabhängigkeit Indochinas und der verbliebenen portugiesischen Kolonien in Afrika in den 70er Jahren mündete. Die Studierendenproteste anlässlich der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko, die Entste­hung linker Guerilla-Gruppen und der Aufschwung sozialer Bewegungen in Lateinamerika verdeutlichen die globale Dimension der Revolte.

In den beiden von der Systemkonfrontation geprägten Jahrzehnten vor 1968 waren die Traditionen eines demokratischen Sozialismus „von unten“ fast vollständig verschüttet worden. Sie wurden abgewürgt von einem massiven und militanten Antikommunismus und waren unter dem Einfluss des Wirtschaftswunders weitgehend marginalisiert. 1968 steht demgegenüber für den Versuch eines neuen linken Aufbruchs, für die Suche nach Traditionen und neuen Handlungsperspektiven, nach neuen Aktionsformen und neuen Formen des Zusammenlebens.

3. 1968 in der BRD

Die Bewegung von 1968 wird in Westdeutschland hauptsächlich als eine Revolte der Studie­renden wahrgenommen. Tatsächlich prägten diese die Bewegung. Die Demonstrationen gegen die Ermordung Benno Ohnesorgs, der große Vietnam-Kongress des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) und die Proteste gegen die Hetze der BILD-Zeitung gingen von Studierenden aus. Aber auch Schüler, Auszubildende und Gewerkschafter, die sich neu der politischen Bewegung angeschlossen hatten, wurden für ihre Interessen aktiv. Die Lehrlingsbewegung, die „Wilden Streiks“ von 1969 oder die Welle migrantischer Arbeitskämpfe in den folgenden Jahren wären ohne die Erfahrungen des Jahres 1968 nicht möglich gewesen. In den Protesten gegen die „Notstandsgesetze“ kamen Studierenden- und Arbeiterbewegung auch real kurzzeitig zusammen.

Zudem waren die Forderungen, die im Mittelpunkt der 68er-Bewegung standen, generationsübergreifend. Sie kämpfte für eine demokratische Bildungs- und Hochschulreform, die jedem – ungeachtet seiner sozi­alen Stellung und Herkunft – alle Bildungswege öffnen und die Mitbestimmung von Lernenden und Studierenden garantieren sollte. Des Weiteren forderten die 68er mehr Demokratie im Betrieb, in der Wirtschaft und in der Politik. Sie setzten sich für internationale Solidarität – gegen den Krieg der USA in Vietnam und die Zusammenar­beit Westdeutschlands mit diktatorischen Regimes – ein. Sie waren für Abrüstung und Frieden, für die Ächtung der Atomwaffen, gegen Blockkonfrontation. Zudem protestierten sie gegen die damalige „law and order“-Politik in Form der Notstandsgesetze. Darüber hinaus wurden sie gegen personelle faschistische Kontinuitäten in der BRD und gegen die NPD aktiv.

Die 68er haben viel erreicht. Die von oben geplante „Hochschulreform“ wurde verhindert und stattdes­sen die Mitbestimmung der Studierenden, der akademischen und sonstigen Mitarbeiter durchgesetzt. Eine „Bildungsexpansion“ wurde in Gang gesetzt. Die Bewegung schwächte zudem entscheidend den Versuch des Aufbaus einer neofaschistischen Partei, der NPD.

Die 68er erzeugten eine Politisierung, die weit über die Studierenden hinausging. Mehr als Hunderttausend wurden Mitglieder bei den Jusos und der SPD. Zehntausende orga­nisierten sich in den radikalen Nachfolgeorganisationen des SDS und in der DKP. Gleichzeitig äußerte sich die gesellschaftliche Politi­sierung in der Bundestagswahl 1972, die der SPD um Willy Brandt bei einer Rekordwahlbeteiligung von über 90 Prozent einen überwältigenden Sieg bescherte.

Außerdem entwickelte die Bewegung Formen praktischer Solidarität. Wohngemeinschaften wurden gebildet, Kinderläden eingerichtet, neue Formen emanzipatorischen Zusammenlebens erprobt. Ohne die Debatten von 1968 über gesellschaftliche Gleichberechti­gung von Frauen und Männern sowie über gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wären auch die neue Frauenbewegung und die Bewegungen der Schwulen und Lesben nicht möglich gewe­sen. Ohne 1968 und die darauf folgenden Auseinandersetzungen wäre die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung nicht erreicht worden.

4. Vierzig Jahre später

Trotz aller Erfolge der Revolte: Die emanzipatorischen Visionen von 1968 – einer freien, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft – wurden nicht eingelöst, viele Errungenschaften später wieder zurückgenommen. Inzwischen werden Studiengebühren einge­führt, Arbeiterkinder aus den Universitäten verdrängt. Marxistische Wissenschaft hat an Hochschulen kaum noch Platz. Betriebliche Demokratie ist auf dem Rückzug. Errungenschaften der Frauenbewegung werden in Frage gestellt. Nazis sitzen wieder in Parlamenten. Trotz aller Erfolge der antikolonialen Befreiungskämpfe dauert die Ausbeutung der Länder der „Dritten Welt“ an.

Einige Forderungen der 68er wurden aufgegriffen, aber vor dem Hintergrund der (Teil-)Nie­derlagen der 70er Jahre in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der Forderung nach einer freien Gestaltung des Lebens ist der Zwang zu Flexibilität geworden. Aus dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wurde der Zwang zur Selbstverwertung. In der Alterna­tivkultur entwickelte Formen der Produktion prägen unter umgekehrten Vorzeichen als angeblich „flache Hierarchien“ moderne Formen der Ausbeutung.

Die Partei, die als Erbin der 1968er angetreten ist – Die Grünen – hat das emanzipatorische Erbe spätestens mit dem Kosovo-Krieg oder ihrer Beteiligung an den sozialrepressiven Hartz-Gesetzen aufgeben. Der „Marsch durch die Institutionen“ einiger 68er hat diese ebenso von den eigentlichen Zielen der Bewegung entfernt wie diejenigen, die in der Sackgasse des bewaffneten Kampfes der RAF gelandet sind. Ähnliches gilt für die oft dogmatischen und autoritär strukturierten maoistischen Organisationen der 70er Jahre.

Das wesentliche Emanzipationsversprechen von 1968 – ein demokratischer Sozialismus – ist bis heute nicht erfüllt. Trotz geänderter Rahmenbedingungen kann aus der Revolte von 1968 für die heutigen Auseinandersetzungen viel gelernt werden – gerade angesichts von Hunger und Elend in der „Dritten Welt“, immer wiederkehrender Wirtschafts- und Finanzkrisen und der verheerenden Kriege der USA und ihrer Verbündeten im Irak und Afghanistan.

Es ist an der LINKEN, sich heute offen­siv auch in die positiven Traditionen des Aufbruchs von 1968 jenseits von Staatssozialismus und Kapitalismus zu stellen und – aus den historischen Erfahrungen lernend – einen neuen Aufbruch zu wagen.