Perspektiven der Befreiung

Museum des Befreiungskrieges 1973-91, Flüchtlingslager bei Tindouf.

(Analyse & Kritik)

Diplomatisch gescheitert.

Die Befreiungsfront der Westsahara, Polisario, greift nach Jahrzehnten wieder zu den Waffen – der Selbstbestimmung ist sie nicht nähergekommen.

Von Florian Wilde.

In der Westsahara ist nach fast 30-jähriger Waffenruhe der Krieg zwischen dem Königreich Marokko und der von der Befreiungsfront Polisario angeführten Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) wiederaufgeflammt. Deren Präsident Brahim Ghali wies am 13. November die Volksbefreiungsarmee der Sahara per Dekret an, sich nicht länger an das Waffenstillstandsabkommen von 1991 zu halten und den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. In der Folge griffen ihre Einheiten marokkanische Militärstützpunkte entlang des 2.700 Kilometer langen Walls an, mit dem Marokko den von ihm besetzten, weit größeren Teil der Westsahara von den von der Polisario befreiten Gebieten abtrennt.

Auslöser der Eskalation war der Einmarsch marokkanischer Truppen in einen von der Polisario kontrollierten Landstrich zwischen dem Wall und der mauretanischen Grenze gewesen. Dort hatten sahrauische Zivilist*innen seit Ende Oktober eine Bresche im Wall blockiert, durch die die einzige Straßenverbindung zwischen Marokko und Mauretanien führt und die sie als illegal betrachten. Nach Vertreibung der Demonstrant*innen besetzte die marokkanische Armee die Straßenumgebung bis zur Grenze, und begann sie militärisch zu sichern. Ein Schritt, den die Polisario als Kriegserklärung betrachtete und als solche beantwortete.

Damit ist die über eine Viertelmillion Quadratkilometer große, aber nur von etwas mehr als einer halben Million Menschen bevölkerte und zwischen Marokko, Algerien, Mauretanien und der Atlantikküste gelegene Westsahara wieder Kriegsgebiet, so wie sie es zwischen 1973 und 1991 bereits war.

Die Phase des bewaffneten Kampfes

Aus dem Widerstand gegen die ein Jahrhundert umfassende spanische Kolonialherrschaft gründete sich im Mai 1973 die Frente Polisario (Frente Popular de Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro), die rasch mit Guerilla-Aktionen gegen die Kolonialtruppen begann. Während die UNO eine Dekolonialisierung und die Unabhängigkeit der Westsahara forderte und damit die Position der Polisario unterstützte, erhoben auch die Nachtbarländer Anspruch auf das Gebiet. Marokko unterstrich diesen mit einem »Grünen Marsch« von hunderttausenden Zivilist*innen, begleitet von Militäreinheiten, in die Westsahara. Die ins Wanken geratene Kolonialmacht Spanien zog nach dem Tod des Diktators Franco ab und übergab das Territorium an Marokko und Mauretanien, gegen deren Truppen sich nun der Kampf der Polisario richtete. Das äußerst brutale Vorgehen der marokkanischen Armee, die unter anderem mit Napalm gegen die widerständige sahrauische Bevölkerung vorging, löste eine Massenflucht von über 100.000 Wüstenbewohner*innen in das benachbarte Algerien aus. 1976 reagierte die Polisario mit der Ausrufung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) und intensivierte ihre militärischen Aktionen, die sie strategisch klug zunächst auf die schwächere Besatzungsmacht Mauretanien konzentrierte. 1979 musste das Land sich aus der Westsahara zurückziehen und sah sich zu einer diplomatischen Anerkennung der DARS gezwungen, woraufhin marokkanische Truppen in das bisher mauretanisch besetzte Gebiet einrückten. Gegen die marokkanische Besatzung richtete sich nun die ganze Kraft der Polisario, die marokkanische Außenposten und Versorgungsrouten überfiel und die Truppen des Gegners immer öfter und bis weit in marokkanisches Staatsgebiet hinein angriff. Anfang der 1980er Jahre befand sich die Polisario in der Offensive und konnte die Westsahara bis auf wenige bevölkerungsreichere Landstriche im Nordwesten befreien. Auch diplomatisch konnte sie damals große Erfolge erzielen: Mehr als 80 Länder, überwiegend ehemalige Kolonien, nahmen diplomatische Beziehungen mit der DARS auf. Gleichzeitig revolutionierte die Polisario die sahrauische Gesellschaft, vor allem in den in Räten organisierten Flüchtlingslagern in der Gegend von Tindouf in der südalgerischen Wüste, die auch den Regierungssitz der DARS bildeten. So gerieten etwa tradierte Geschlechterverhältnisse ins Wanken.

Zu dieser Zeit entstand eine linke Solidaritätsbewegung, in Westdeutschland in den 1970ern namentlich auch vom Kommunistischen Bund und seiner Zeitung Arbeiterkampf, Vorgängerin der heutigen ak, und in den 1980ern von Grünen und Autonomen getragen. Die Polisario verstand sich selbst nicht als ideologische Partei, sondern als Front für Menschen unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, war aber gerade in ihren Anfangsjahren deutlich linksradikal geprägt. Ihre Perspektive in den 1970ern war die Revolutionierung des gesamten Maghreb, und so erblickte sie ihre Bündnispartner innerhalb Marokkos in den illegalen marxistischen Gruppierungen. Zum wichtigsten Alliierten wurde aber Algerien, das der Polisario aus antikolonialem Selbstverständnis und Konkurrenz zu Marokko eine Basis bot.

Ein weiterer wichtiger Partner war Kuba: Bald hielten sich hunderte kubanische Ärzt*innn, Lehrer*innen und Militärberater*innen in den Lagern und befreiten Gebieten auf.

Als sich um 1981 eine baldige Niederlage Marokkos im Wüstenkrieg abzeichnete, entschlossen sich Frankreich, Saudi-Arabien, Israel und dann vor allem die USA unter Ronald Reagan zu einer massiven Intervention. Sie griffen den königlich-marokkanischen Streitkräften mit Lieferung moderner Waffen, Finanz- und Wirtschaftshilfen und durch die Entsendung von Berater*innen für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen unter die Arme. Damals begann Marokko mit der Sicherung der noch von ihm gehaltenen Gebiete durch Mauern und Wälle zur Abwehr der Guerilla, die dann Stück für Stück ausgedehnt wurden, bis sie 1987 fast 80 Prozent des Landes umschlossen. Der Bau dieses mit Minen, Stacheldraht und Elektrozäunen gesicherten »Wall der Schande« schränkte die Handlungsmöglichkeiten der Rebell*innen erheblich ein und nahm ihnen den größten taktischen Vorteil: die Weite  der Wüste, in die die Kämpfer*innen nach ihren Kommandoaktionen wieder verschwinden konnten. Besiegen konnte Marokko die Polisario trotzdem nicht, bis 1991 zogen sich die bewaffneten Auseinandersetzungen hin. Sie nahmen zuletzt immer mehr die Form eines konventionellen Krieges an. Dass sich die Polisario 1991 auf einen Waffenstillstand einließ, hatte neben der militärischen Defensive vor allem geopolitische Gründe: Der Zusammenbruch des Ostblocks entzog der Guerilla wichtige Unterstützung, der beginnende Bürgerkrieg in Algerien sowie die Wirtschaftskrise in Kuba schwächten die wichtigsten Verbündeten. Und immerhin enthielt der unter Aufsicht der UNO ausgehandelte und von ihr kontrollierte Waffenstillstand das Versprechen Marokkos auf die Abhaltung eines Referendums über den künftigen Status der Westsahara und konnte damit auch als Schritt in Richtung Unabhängigkeit gedeutet werden.

Die Phase des diplomatischen Kampfes

Ab 1991 verschob sich das Kampfterrain der Polisario vom Wüstensand auf diplomatisches Parkett. Gegen die marokkanische Strategie, die Durchführung eines Referendums immer weiter zu verzögern, setzte die Polisario auf diplomatischen Druck durch Afrikanische Union, UNO und Großmächte und hoffte, darauf durch ein gefälliges Auftreten und Agieren hinzuwirken. Linksradikale Äußerungen aus der Polsiario-Führung gehörten nun der Vergangenheit an. Man bemühte sich um ein linksliberales Image und trat der »Sozialistischen Internationale« und dann der »Progressiven Allianz« sozialdemokratischer Parteien bei.

Mit ihrem neuen Kurs reduzierte die Polisario ihre Anhänger*innen in den Lagern und innerhalb der besetzten Gebiete auf eine Statistenrolle im diplomatischen Spiel. Je offensichtlicher der Erfolg der marokkanischen Verschleppungsstrategie wurde, desto mehr wuchs aber die Verzweiflung der Menschen insbesondere in den vollständig auf Hilfslieferungen angewiesenen Flüchtlingslagern in der lebensfeindlichen südalgerischen Wüste, die die Polisario weiter als Zwergstaat DARS autonom verwaltete. Im Zuge des neuen Kurses wurde in der bisher sehr egalitären Lagergesellschaft die Marktwirtschaft eingeführt, soziale Unterschiede nahmen zu, verstärkt durch Korruption und Klientelwirtschaft seitens der Polisario-Lagerverwaltung, durch deren Hände alle Hilfslieferungen gingen. Kader*in der Polisario zu sein bedeutete nun nicht mehr Lebensgefahr im bewaffneten Kampf, sondern erträglichere Lebensbedingungen durch einträgliche Posten Gleichzeitig konnte die Polisario der Bevölkerung ihrer Flüchtlingslager aber auch einen vergleichsweise hohen Lebensstandard garantieren, Menschenrechtsorganisationen bescheinigten zudem, dass sowohl innerhalb der Polisario als auch in den Lagern recht weitgehende Meinungsfreiheit herrscht.

In den besetzten Gebieten wird jede Regung einer Unabhängigkeitsbewegung hingegen mit scharfer Repression durch den marokkanischen Staat beantwortet. 1999 und 2005 wurden zwei Intifadas durch die Besatzungsmacht niedergeschlagen, 2010 ein großes Protestcamp brutal geräumt. Nach fast drei Jahrzehnten des Wartens auf ein Referendum wuchs die Frustration unter den Sahrauis. Insbesondere unter der perspektivlosen, in der Hoffnungslosigkeit des Lagerlebens gefangenen jungen Generation erhoben sich Forderungen nach einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes.

Blockierte Perspektiven

Mit ihrem erneuten Griff nach den Waffen gesteht die Polisario das Scheitern der diplomatischen Strategie ein. Aber der bewaffnete Kampf selbst bietet auch nur wenig Perspektive: Marokko ist den wenigen tausend Kämpfer*innen der Poliario militärisch haushoch überlegen. Es verfügt über hervorragende Instrumente für einen Wüstenkrieg und hatte dreißig Jahre Zeit, seinen Schutzwall akribisch zu befestigen. Hinter ihm stehen neben den USA auch die EU, deren Konzerne an der Ausbeutung der Rohstoffe der Westsahara beteiligt sind. Unwahrscheinlich, dass der Polisario mehr als Nadelstiche und vielleicht einzelne spektakuläre Aktionen gelingen werden. Vermutlich zielt sie aber auch nicht auf einen militärischen Sieg ab, sondern hofft, den vergessenen Konflikt wieder in die Schlagzeilen zu bringen und dadurch die internationale Gemeinschaft zur Druckausübung auf Marokko zu bewegen. Somit wäre die militärische Eskalation auch ein taktisches Manöver zur Stärkung der diplomatischen Position. Ob dies aufgeht, ist offen, würde aber bestenfalls zu einer Rückkehr der Diplomatie führen, ohne an den eigentlichen Machtverhältnissen etwas zu ändern. Wie sehr die diplomatischen Winde der Polisario gegenwärtig ins Gesicht wehen, verdeutlichte die Mitte Dezember von Donald Trump angekündigte Anerkennung der marokkanischen Besatzung der Westsahara durch die USA im Gegenzug zu einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Königreich und Israel. So erscheinen bewaffneter Kampf wie Diplomatie als gleichermaßen blockierte Pfade auf dem Weg zur Befreiung.

Dass den Menschen nach 45 Jahren in den Flüchtlingslagern der Geduldsfaden riss, ist leicht verständlich. Der Widerstand der Polisario gegen die marokkanische Besatzung ist legitim und verdient die Unterstützung linker Kräfte. Die realistischste Perspektive für ihren Befreiungskampf gegen einen übermächtigen Gegner scheint aber die von ihr einst in den 1970ern proklamierte: der Sturz aller Regime der Region durch demokratische Volksrevolutionen. Tatsächlich brachten demokratische Massenproteste 2010 das tunesische Regime zum Einsturz und zwangen den marokkanischen König zu Reformen, und 2019 verhinderten riesige Massenproteste eine erneute Kandidatur des algerischen Präsidenten Bouteflika und forderten das gesamte politische System heraus. Solche demokratischen Bewegungen sind potenzielle Bündnispartner der saharauischen Befreiungsbewegung. Ein Sturz des marokkanischen Königs durch Massenproteste scheint eine weit realistischere Option als die Erlangung der Unabhängigkeit durch Krieg oder Diplomatie. Dass die Polisario aber eine langjährige Verbündete des unter dem Druck der Demonstrationen ins Wanken geratene algerischen Regimes war, wird ihr eine glaubhafte Orientierung auf diese Protestbewegungen nicht erleichtern.

 

Florian Wilde ist Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er besuchte 2012 die Flüchtlingslager und die befreiten Gebiete der Westsahara mit einer Solidaritätsdelegation der Europäischen Linkspartei.

Veröffentlich im ak 666.

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