[junge Welt] F: Welche Rolle spielt das Weltsozialforum (WSF) 2015 für die kurdische Linke?
Die soziale Frage und der Begriff der Gesellschaft haben in den letzten Jahren eine zunehmende Bedeutung für die kurdische Freiheitsbewegung bekommen. Das WSF eröffnet uns die Möglichkeit, uns mit linken, sozialistischen, feministischen und Volksbewegungen aus aller Welt auszutauschen, unseren eigenen Kampf vorzustellen und einen Eindruck von anderen Kämpfen zu erlangen. Daher ist es ein wichtiger Ort für uns, und wir versuchen, uns mit einer Reihe von Veranstaltungen in das Programm einzubringen.
Der »arabische Frühling« ist ja vielerorts zu einem »arabischen Winter« geworden. Das einzige Beispiel, bei dem in der Region Ansätze einer alternativen Gesellschaftsordnung erkennbar sind, ist das nordsyrische Autonomiegebiet Rojava, in dem mehrheitlich Kurden leben. Wird diese Erfahrung in der arabischen Linken reflektiert?
Das ist schon der Fall, aber noch nicht so sehr, wie wir es uns wünschen würden. Mein Eindruck ist, dass die arabische Linke noch sehr den Konzepten des 20. Jahrhunderts, dem Nationalismus und der Fixierung auf den Staat, verhaftet ist. Hier könnte eine Auseinandersetzung mit den alternativen Konzepten und Strategien des demokratischen Konföderalismus, wie sie von Abdullah Öcalan entwickelt wurden und von der kurdischen Bewegung momentan in die Praxis umgesetzt werden, neue Perspektiven eröffnen. Aber auch wir als kurdische Linke sind gefordert, stärker den Austausch zu suchen.
Sie sind Vorsitzende des Kürt Kadın İlişkiler Merkezi (kurdisches Zentrum für Frauenangelegenheiten – jW) in Erbil. Zielt Ihre Arbeit nur auf Kurdistan, oder suchen Sie den Austausch in der Region?
Wir sind eine junge Organisation, wir haben uns erst vor einem Jahr gegründet. Einerseits versuchen wir, die Beziehungen zwischen Frauenorganisationen in allen vier Teilen Kurdistans zu stärken und in unserer Vielfalt eine tiefere Grundlage für die gemeinsame Arbeit zu entwickeln. Wir sind Teil des Aufbaus einer gemeinsamen Front von Frauen in Kurdistan, gerade auch als Reaktion auf die Angriffe des »Islamischen Staates«. Wir müssen unsere Würde, unser Volk, unser Geschlecht, unsere Werte verteidigen. Andererseits versuchen wir, die Erfahrungen unserer Frauenbefreiungsbewegung auch über Kurdistan hinaus im Mittleren Osten zu vermitteln.
Lange lag Europa im Fokus der kurdischen Auslandsarbeit. Heute nimmt der Mittlere Osten eine immer zentralere Rolle für uns ein. Das Modell eines demokratischen Konföderalismus, wie wir ihn momentan in Rojava aufbauen, basierend auf Selbstverwaltung, Ökologie und Frauenbefreiung, kann beispielgebend für die Kämpfe in der Region sein. Wir haben im »arabischen Frühling« gesehen, dass die Völker überhaupt nicht ausreichend auf einen solchen Prozess vorbereitet waren. Für die nächste Welle von Umbrüchen müssen wir alle besser gerüstet sein.
Stimmt der Eindruck, dass in der kurdischen Linken der Sozialismus als Ziel und Methode eine eher abnehmende Rolle spielt und zugunsten anderer Konzepte zurücktritt?
Ich denke nicht, dass wir uns weg von sozialistischen Vorstellungen bewegen. Die kurdische linke Befreiungsbewegung war immer schon sehr sozialistisch geprägt und ist es auch heute noch. Sie versucht aber, die Idee des Sozialismus auch theoretisch weiterzuentwickeln und die verschiedenen Kämpfe im Mittleren Osten mit einer sozialistischen Perspektive zu verknüpfen. Der Paradigmenwechsel in der kurdischen Bewegung in Folge unserer Reflektion des Zusammenbruches des Realsozialismus hat eine Reihe neuer Begriffe hervorgebracht, wie den Kommunalismus, den demokratischen Konföderalismus und die demokratische Autonomie. Im Kern ist damit aber eine Form des demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert gemeint.
Meral Cicek stammt aus Köln und arbeitet als Vorsitzende des Kürt Kadın İlişkiler Merkezi (kurdisches Zentrum für Frauenangelegenheiten – jW) in Erbil. Interview von Florian Wilde, Tunis
(Interview veröffentlich in junge Welt, 28. März 2015)