Das Buch „The Prophet’s Children : Travels on the American Left“ von Tim Wohlforth schildert ein Leben in der radikalen US-Linken zwischen 1953 und den 80er Jahren.
Einerseits gibt es einen schönen Überblick über die Geschichte der US-Linken dieser Jahre: ihre Unterdrückung in der McCarthy-Ära; die langsame Öffnung durch die Bürgerrechtsbewegung; die Krise der KP durch die Revolution in Ungarn und das Eingeständnis der Verbrechen Stalins 1956, die den Trotzkisten plötzlich ganz neue Zugänge ermöglicht; die Belebung und Hoffnung durch die Revolution in Kuba; den großen Aufschwung durch die Studenten- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung in den 60ern und frühen 70ern; und der konservative Roll-Back ab der Mitte der 70er.
Andererseits und vor allem bietet es einen Einblick in das trotzkistische Spektrum der US-Linken, in dem der Autor 30 Jahre lang aktiv war. 1953, in mitten der Reaktionsperiode, stößt er auf der Suche nach einer Verbindung von Demokratie und Sozialismus auf Max Shachtman’s Independent Socialist League (ISL), und ihre Jugendorganisation, die Socialist Youth League, eine sich durch besonders harten Anti-Stalinismus („Weder Washington noch Moskau“) auszeichnende Sub-Strömung des Trotzkismus. Ende der 50er wechselt er zum trotzkistischen Mainstream der Socialist Workers Party (SWP), einer der damals größten Organisationen auf der radikalen US-Linken, der es gelungen war, einen in den 1930er Jahren politisierten Arbeiterkader von etwa 500 Leuten durch die McCarthy-Ära zusammenzuhalten und die nun mit Tim Wohlforth eine bemerkenswerte Arbeit an den Hochschulen startet. Begeistert und reichlich unkritisch begrüßt die SWP die Revolution in Kuba: endlich eine sozialistiche Revolution, auf die man doch so lange wartete! Im Laufe der 60er verlassen die alten Arbeiterkader allmählich die Organisation, eine politische Generation, die fast nicht mehr zur Stelle war, als in den 60ern eine neue linke Generation die Bühne betrat – ein Generationenbruch, den ich so bisher gar nicht auf dem Schirm hatte. Die SWP spielte eine zentrale Rolle bei den Großdemos gegen den Vietnam-Krieg und konnte den Lauf der Geschichte dadurch real beeinflussen; im US-SDS, in dem sich nun zehntausende Studierende radikalisierten, spielte die SWP aber kaum eine Rolle und überließ das Feld den Maoisten.
Zu dieser Zeit war Tim Wohlforth schon nicht mehr in der SWP, die er Mitte der 60er Jahre nach einem harten Fraktionskampf über die ihm zu unkritische Einschätzung der kubanischen Revolution verlassen hatte, um mit zunächst 9 Leuten eine neue Gruppe, die „Workers League“ (WL), zu gründen. Durch ihre Interventionen in die Vietnam-Proteste wuchsen sie bis Mitte der 70er auf 200 Mitglieder, davon 20 Hauptamtliche, und bauten durch bemerkenswerte Jugendarbeit in den Ghettos der Schwarzen und der Puertoricaner eine Jugendorganisation von etwa 700 auf. Ihre zweiwöchentlich erscheinende Zeitung erreichte eine Auflage von 20.000 Ex.
In ihrem Bemühen, durch den Aufbau des Apparates einer Massenpartei die Massenpartei selbst zu simulieren, wurde die WL ihrer britischen Schwesterorganisation, der SLL/WRP von Gerry Healy, immer ähnlicher. Tim Wohlforth besuchte England regelmäßig, und die Schilderung der SLL/WRP nimmt viel Raum in dem Buch ein. Healy war es gelungen, nach 1956 wichtige Intellektuelle aus der KP herauszubrechen, in den 60ern übernahm er die Jugend der Labour-Party, konnte eine starke Basis in wichtigen Auto-Fabriken aufbauen und rekrutierte eine Gruppe von Schauspielern um Vanessa Redgrave. Immer deutlicher werden aber auch die problematischen Aspekte dieser Organisation und ihres autoritären, übergriffigen und paranoiden Gurus Healy herausgearbeitet. Healy versuchte seiner SLL/WRP den Apparat einer Massenpartei zu verpassen: Eigene Immobilien, Druckereien, 6 eigene Buchhandlungen, 90 Hauptamtliche – und schließlich sogar eine Tageszeitung. Mit dieser sollte Healy seine Truppe völlig überfordern, die Mitglieder wurden tag und nacht zum Zeitungsverkaufen geschickt – und trotzdem gelang es nie, die verkaufte Auflage über 10.000 Ex zu pushen. Um neue Finanzquellen aufzutun, ließ Healy Vanessa Redgrave arabische Diktatoren umgarnen und konnte so viele Millionen aus dem Irak und Libyen abgreifen. Schließlich implodierte seine Organisation, als 26 Frauen sexuelle Übergriffe durch Healy öffentlich machten.
Doch da hatte Tim Wohlforth diese Strömung längst verlassen, nachdem der paranoide Healy Tim Wohlforths Freundin als CIA-Agentin denunzierte, und kehrte zurück in den Schoß der US-SWP, die sich 1976 mit 1.600 Mitgliedern, 196 Hauptamtliche und einer wöchentlichen Auflage von 14.000 Ex auf ihrem Höhepunkt befand. Allerdings hatte sich das Innenleben der einst so demokratischen SWP stark gewandelt, eine sich auf den immensen bürokratischen Apparat stützende, immer autoritärere Führung hatte den Laden übernommen und verheizte die meist an den Unis gewonnenen Mitglieder in einem „turn to Industry“ in den Fabriken, während man Kuba und dann Nicaragua immer unkritischer unterstützte. Anfang der 80er geht Tim Wohlforth dann nach Mexiko und arbeitet dort bei den Trotzkisten der PRT mit, besucht endlich Kuba und nimmt an den staatlich organisierten Feiern zum 100. Geburtstag Trotzkis in Mexiko teil.
Nach 30 Jahren des Daueraktivismus als Vollkader erlosch allmählich das revolutionäre Feuer in Tim Wohlforth, Frustration über so viel Scheitern und Niederlagen machte sich breit, so dass er am Ende des Buches, nun als Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA) darüber reflektiert, was vom Erbe des Trotzkismus für eine neue Linke der Zukunft zu bewahren und was zu verwerfen ist.
Mich hat das Buch auch persönlich angesprochen, bin ich doch auch seit fast 30 Jahren in der radikalen Linken aktiv, darunter zeitweise in ähnlichen Strukturen wie den in dem Buch beschriebenen. Die Zeiten die ich erlebt habe, waren weniger bewegte, die Organisationen nicht so krass und mein Einsatz nicht so hoch, und trotzdem hat mich manches auch an mein eigenes Leben erinnert und sind mir viele Fragen, die der Autor sich stellt, sehr vertraut. Ich wünschte mir, ich hätte es schon kurz nach seinem Erscheinen 1994 gelesen, dann hätte ich wohl manches besser verstanden.
Die in „The Prophets Children“ beschriebenen Organisationen mögen teils besonders obskure Vereinigungen gewesen sein; Tim Wohlforths Beobachtungen zu Sektierertum, Dogmatismus und Hybris sind aber durchaus verallgemeinerbar. Da das Buch außerdem literarisch sehr angenehm geschrieben ist und sich um Fairness ggü den verschiedenen geschilderten Strukturen (gestreift werden u.a. auch Spartakisten und Lambertisten) bemüht, empfehle ich es gerne allen an solchen Themen interessierten.