The Twilight of World Trotskyism

Buchbesprechung zu JOHN KELLY: THE TWILIGHT OF WORLD TROTSKYISM.

Nachdem er mit „Contemporary Trotskyism. Parties, Sects and Social Movements in Britain“ 2018 bereits eine vielbeachtete Untersuchung über den britischen Trotzkismus vorgelegt hatte, hat der emeritierte Soziologie-Professor John Kelly sich mit „The Twilight of World Trotskyism“ nun die weltweite trotzkistische Bewegung vorgenommen. Sein Urteil steht dabei von vornherein fest: „The Trotskyist movement has an unparalleled record of political failure“ (S.17). Als Aufgabe stellt er sich, die Gründe dieses Scheiterns zu untersuchen, denn: „The Trotskyist – led revolutionary scenario , never enacted anywhere despite almost a century of effort , amounts to a tragic and wasteful misdirection of political energy and resources away from serious radical politics.“
Als Trotzki 1938 die 4. Internationale gründete, war diese politische Strömung in 31 Ländern aktiv. Heute ist sie in 69 Ländern aufzufinden, hat sich dabei aber in 32 miteinander konkurrierende „4. Internationale“-Dachverbände aufspalten, von denen 26 ihre Zentralen in nur 4 Ländern haben: USA ( 8 ) Argentina (7), Britain (6) and France (5). In Ländern wie Brasilien und den USA operieren heute 23 verschiedene trotzkistische Organisationen, in Großbritannien 21, in Argentinien 16 und in Deutschland 13. Aber auch fast 90 Jahre nach ihrer Gründung bleibe diese Strömung marginal und verfüge weltweit überhaupt nur über 10 Parlamentsabgeordnete in drei Ländern (Argentinien, Irland und Indien). Aber auch dort, wo Trotzkisten in breiteren Linksparteien mitwirken, seien ihnen kaum Erfolge gelungen: „There is no evidence that the policies and programmes of parties such as Syriza , Podemos , Die Linke and Rifondazione Communista are any more left wing now than 10 or 15 years ago as a result of Trotskyist factional agitation . Nor is there any evidence of significant gains in membership or public support as a result of this entrist activity .“ (S. 157)
Mitgliederzahlen wie Wahlergebnisse seien im Vergleich zu den Kommunistischen Parteien immer derart gering geblieben, dass Kelly zu dem Schluss kommt: „The small membership levels and dismal electoral results over many decades together provide overwhelming evidence of the pervasive unpopularity of Trotskyist organizations and their programmes and policies .“ Besonders nimmt er mit den 4 Ländern, in denen die meisten der „4. Internationalen“ ansässig sind, die „Zentren des Welttrotzkismus“ in den Blick, bleibt mit seinem Fokus auf Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse aber sehr an der Oberfläche. Nur wenige Parteien – WRP, SWP und Militant im UK, NPA und POI in Frankreich, die MAS in Argentinien – hätten jemals um die 10.000 Mitglieder aufzuweisen gehabt, die meisten Organisationen würden nur wenige dutzend oder einige hundert Mitglieder haben.
Analog zu seiner Untersuchung über den britischen Trotzkismus teilt er die Entwicklung der weltweiten Bewegung in verschiedene Phasen ein: die „bleak years“ der 50er/60er, das „golden age“ Ende der 60er bis Mitte der 80er, eine Periode der Schwächung und Zersplitterung ab Mitte der 80er und in den 90ern, gefolgt von einer Stabilisierungsphase in den 00er-Jahren, denen ab 2008 eine neue Phase der Schwächung und Zersplitterung folgte.
Das alte trotzkistische Argument, die eigene Schwäche aus der Übermacht der stalinistischen Parteien abzuleiten, mag Kelly mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der stalinistschen Regimes nicht mehr gelten lassen. Im Gegenteil habe der Untergang des Ostblocks auch den Trotzkismus nachhaltig geschwächt. Bemerkenswert sei, dass trotz mehrerer globaler Bewegungszyklen des 21. Jahrhunderts (u.a. arabischer Frühling und anti-Austeritäts-Platzbesetzungen und Generalstreiks in Europa 2010ff, globale Protestwelle 2019/20) der Zerfall des Trotzkismus immer weiter fortschreite, was auch dessen Grundannahme empirisch widerlege: dass aus einer Zunahme sozialer Kämpfe ein Wachstum des Klassenbewusstseins und daraus dann eines der „revolutionären Partei“ folgt. Die zentrale Frage für Kelly lautet daher: „Why have Trotskyist groups repeatedly failed to build mass organizations, despite almost a century of organizing effort in over 70 countries spread across six continents?“ Seine Antwort lautet: „the doctrinaire world view of the Trotskyist movement embodies critical analytical weaknesses that have negated its appeal to all but tiny sections of any national population . It will also be argued that these weaknesses are integral , not contingent , components of Trotskyism and are therefore irremediable .“ (S. 125). Als „the most characteristic features , and failings , of Trotskyist policies and political thinking“ arbeitet er heraus: „the alleged impossibility of reforms ; the crude reduction of world politics to a binary choice between ‘ socialism and barbarism ’ ; the insistence that every significant social , political and economic problem can be solved only under socialism ; the dismissal of parliamentary democracy and politics as an irrelevance ; the desperate illusion that every new protest , strike or insurgency could be the harbinger of an upsurge in revolutionary class consciousness and of a revolutionary struggle for power ; and the continued inability to acknowledge and understand the persistent and pervasive unpopularity of Trotskyist ideas .“ (S. 134)
Jedem dieser Punkte wendet er sich einzeln zu und versucht, die in seinen Augen inhärenten Schwächen trotzkistischer Theorie und Strategie herauszuarbeiten, darunter: „The idea that the reformist era is at an end and that world politics is reduced to a simple binary choice – socialism or barbarism – is conceptually naïve and empirically flawed .“ (S. 136). Die Reduzierung der Geschichte des Scheiterns sozialistischer Revolutionen auf das Fehlen „der“ revolutionären Partei sei so verkürzt, wie die prinzipielle Ablehnung parlamentarischer Politik verfehlt, und die Annahme, dass eine Zunahme von Kämpfen zu einem Wachstum von Klassenbewusstsein und in der Folge auch der trotzkistischen Organisationen führen würde, illusionär und empirisch nicht haltbar sei. Die Trotzkisten selbst würden sich die Frage nach ihrem Scheitern selbst kaum stellen, „because they lack any theoretical framework for posing and investigating them“ (S. 155).
So fällt das Urteil seiner Untersuchung erwartbar vernichtend aus: „Trotskyists have not led a revolutionary struggle for power in any country ; they have never won a national election ; and they have never built an enduring mass party anywhere , at any time . For the most part , the Trotskyist movement is organizationally small , politically irrelevant and deeply fragmented . …. For a movement that was officially launched in 1938 with such high hopes , the results of almost a century of sustained political activity are utterly dismal“ (S. 169), so dass das Ergebnis für Kelly nur lauten kann: „The Trotskyist movement has become a dead end for socialists.“ (S. 176)
Während „Contemporary Trotskyism“ sowohl methodisch innovativ war – insbesondere durch seine Charakterisierung des Trotzkismus als einen Hybriden mit Elementen einer politischen Partei, einer doktrinären Sekte und einer sozialen Bewegung, was bereits weitere Arbeiten inspirierte, vgl. Loren Balhorn: Hat der Trotzkismus noch eine Zukunft?, in: ABG – als auch eine überaus detailreiche Untersuchung bspw. über die Finanzen der Trotzkisten und die Auflagenhöhen ihrer Publikationen beinhaltete, fällt „Twilight“ deutlich dahinter zurück, in dem er seine Hybrid-These gar nicht auf den Welttrotzkismus anzuwenden versucht, und seine Untersuchung auf wenige Kennziffern – Mitgliederzahlen, Wahlergebnisse – beschränkt. Fragwürdig ist bspw., ob man tatsächlich die kommunistischen Parteien als Referenz heranziehen sollte, oder nicht eher andere von ihm abgespaltene und bis heute existente Strömungen der revolutionären Linken wie bspw den Bordigismus, Brandlerismus, Guevarismus oder Maoismus. Das Bild sähe dann deutlich anders aus, das Sektierertum würde keineswegs als eine Art Besonderheit des Trotzkismus dastehen, und seine Zählebigkeit und Kontinuität würde ebenso wie Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse vor einer solchen Vergleichsfolie sogar eher hervorstechen. Kellys Fokus auf Zahlen und Kategorien vermag die Dynamiken einer Weltbewegung kaum zu fassen, die in dem Buch seltsam blutleer und farblos bleibt. Weder erfährt der Leser etwas für die politischen Gründe der Aufspaltung in so viele konkurrierende Strömungen, noch etwas über die Motive der Mitglieder, oft über lange Zeit in ihnen politisch aktiv zu bleiben, und auch nichts über ihre politische Alltagspraxis. Hingegen werden immer wieder die durchschnittlichen 0,x%-Ergebnisse Trotzkistischer Parteien den Ergebnissen von kommunistischen und Linksparteien gegenüber gestellt, um ein ums andere das Offensichtliche zu verdeutlichen: die weitgehende gesellschaftliche Marginalitöt dieser Strömung. Kelly untersucht hingegen nicht, wie viele Trozkisten als Mitglieder anderer Linksparteien in Parlamenten sitzen, deren Aufschwung seit den 00er-Jahren er zwar thematisiert (und dem Niedergang des Trotzkismus gegenüberstellt), dabei aber weitgehend ausblendet, dass die auf ihrem Weltkongress 1995 von der „offiziellen“ 4. Internationale, dem USFI, beschlossene Orientierung auf den Aufbau derartiger breiter Linksparteien zu deren Gründungen und ihrem Aufschwung durchaus beitrug. Der Frage, ob die von ihm als untauglich verworfenen Strategien revolutionärer Brüche und Sprünge nicht in Zeiten der Klimakrise von Brüchen und Sprüngen charakterisierten stofflichen Umwelt nicht eine neue Aktualität erlangen, wie es Öko-Trotzkisten wie Chris Zeller argumentieren, stellt Kelly sich überhaupt nicht.
Diskutierte „Contemporary Trotskyism“ neben den Schwächen auch die Stärken des Trotzkismus, fokussiert „Twilight“ ganz auf die Schwächen. Man hat beim Lesen den Eindruck, dass der Autor, der von 1979-91 Mitglied der britischen KP und damit auch damals schon ein Kritiker des Trotzkismus war, nun nachweisen will, dass er mit seiner Ablehnung immer schon recht hatte und dies nun empirisch untermauert nachzuweisen versucht. Deutlich schwingt aber auch deutlich sein jahrzehntelanges Verzweifeln an dieser Strömung mit: „How much more could be achieved by young radicals and militants concerned about injustice, inequality, oppression and exploitation and climate change if their enthusiasm and energy were focused elsewhere instead of wasted on forlorn attempts at building ‘ the revolutionary party.“ (S. 20).
Doch trotz methodischer Schwächen, politischer Voreingenommenheit und einigen kleineren sektologischen Ungenauigkeiten: das Buch ist neben linken Historiker:innen insbesondere allen aktiven und ehemaligen Trotzkist:innen zur Lektüre empfohlen, die sich, ohne sich dabei zwingend Kellys Antwort zu eigen machen zu müssen, der von ihm aufgeworfenen Frage nicht ausweichen dürfen: „Why have the ideas of numerous Trotskyist groups, with varying interpretations of Trotskyist doctrine, failed to appeal to large numbers of working class supporters, at any time, in any country in the world?“ (S. 171)

(Meine Besprechung von Contemporary Trotskyism findet sich hier: https://wildetexte.florianwilde.org/contemporary-trotskyism/ )