(jW) An den Eingängen zur Universität von Tunis, auf deren Gelände das Weltsozialforum 2015 stattfindet, bilden sich lange Schlangen. Grund dafür sind die Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Anschlag der vergangenen Woche ergriffen wurden. Alle Teilnehmer müssen durch eine Schleuse, ihr Rucksäcke werden kontrolliert. Vieles vom von den vergangenen Sozialforen bereits bekannten Chaos ist auch in Tunis spürbar: eine oft nicht funktionierende Übersetzung, ausfallende oder verschobene Veranstaltungen, Schwierigkeiten, das Gelände mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Das Programmheft umfasst 90 Seiten mit über 1000 Veranstaltungen, aber keinen Lageplan des WSF-Campusses, was die Orientierung der Teilnehmer sehr erschwert. Der überaus lebendigen, bunten und festivalartigen Athmosphäre auf dem Gelände tut all dies keinen Abbruch. Hunderte von Initiativen präsentieren sich mit Infotischen und Zelten. Die Teilnehmer aus den Flüchtlingslagern der Westsahara haben ein riesiges Zelt errichtet und mit Fahnen geschmückt. Auf großen Transparenten am Eingang werden die Bilder von verschleppten und von in den letzten Jahren ermordeten Sahrawis gezeigt. Immer wieder ziehen Demonstrationen über das Forumsgelände: von afrikanischen Flüchtlingen, von Frauengruppen, von der tunesischen Gewerkschaft arbeitsloser Akademiker. Sie ziehen vorbei an Infoständen, open air Theater und Konzerten. Dann laufen wieder knutschende und händchenhaltende arabische LGBT-Aktivisten mit ihrer Regenbogenfahne über das Gelände, um anschließend gemeinsam auf einer israelischen Fahne herumzutrampeln.
Genaue Teilnehmerzahlen liegen noch nicht vor, es scheinen aber weniger zu sein, als bei vergangenen Sozialforen, auch weniger als beim WSF vor zwei Jahren in Tunis. Aber es sind immer noch Zehntausende. Fortschrittliche Bewegungen aus dem Maghreb haben massiv für hat das Forum mobilisiert, Menschen aus der Region stellen die große Mehrzahl der Teilnehmer. Auch aus Palästina kamen viele, über 500 sollen es sein. Während die Beteiligung aus Lateinamerika und Asien eher gering scheint, sind aus Europa viele Aktivisten angereist. Parteien sind, abgesehen von Bannern verschiedener vierter Internationalen, kaum präsent. Omnipräsent ist dafür die Solidarität mit Palästina.
Auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Veranstaltung zu der Situation in Palästina berichtet die palästinensische Aktivistin Salam Hamdan: „Seit Oslo erleben wir eine ungeheure Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft: geographisch durch Siedlungsbau, Checkpoints und die Isolierung des Gaza-Streifens. Sozial durch eine zunehmende Klassenspaltung der Gesellschaft in eine sich abkapselnde Oberschicht auf der einen und der großen Armut auf dem Land und dem Elend in den Flüchtlingslagern auf der anderen Seite.“ Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung hänge auf die eine oder andere Weise am Tropf von NGO´s oder der Regierung. Dies schaffe eine Situation der politisch-ökonomischen Abhängigkeit von den Gebern und habe zu einer Domestizierung weiter Teile auch der vormals revolutionären und militanten linken Untergundbewegung beigetragen. „Aus all diesen Gründen haben sich die Bedingungen des Widerstandes im Vergleich zur ersten Intifada dramatisch verschlechtert.“
„Besonders beeindrucken mich die vielen starken Frauen hier, die unter schwierigsten Bedingungen für ein besseres Leben und eine bessere Welt kämpfen“, sagte Fanni Stolz vom Bundesvorstand des Studierendenverbandes Die Linke.SDS am Rande einer Veranstaltung zum Widerstand von Frauen im Mittleren Osten und Nordafrika gegenüber jW. Dort erzählen Frauen aus Tunesien, Kurdistan und dem Iran von ihren entsetzlichen Erfahrungen mit Knast und Folter. Auch die Rolle des Kopftuches wurde diskutiert. Eine iranische Aktivistin berichtet: „Meine Mutter musste erst erleben, wie meine Großmutter unter dem Shah gezwungen wurde, gegen ihren Willen das Kopftuch abzulegen. Später musste sie mit ansehen, wie ich von den Mullahs gegen meinen Willen gezwungen wurde, ein Kopftuch zu tragen. Was eine Frau trägt, ist alleine ihre Entscheidung. Kein Staat darf sich darin einmischen!“ Eine andere Rednerin fasst zusammen: „Imperialismus und Islamismus sind die größten Feinde der Frauen in der Region. Wir müssen beide gleichermaßen bekämpfen!“
Von Florian Wilde
(in gekürzter Form und unter anderem Titel veröffentlicht in junge Welt, 28. März 2015)