Krise, Protest und die radikale Linke. Interview mit Aktivisten zum Verhältnis von Partei und Bewegung. In: ak – analyse & kritik (Nr. 538)
Am 28. März demonstrierten in Berlin und Frankfurt a.M. 30.000 Menschen unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise“. Bereits im Vorfeld gab es Unmut, dass die LINKE Oskar Lafontaine und Gregor Gysi als Redner nominiert hatte. In Frankfurt äußerte sich der Groll in Eierwürfen auf Lafontaine. Wir sprachen mit Hagen Kopp (kein mensch ist illegal, Hanau) sowie mit Michael Ramminger (Institut für Theologie und Politik, Münster) und Florian Wilde (Mitglied im Bundesvorstand von Die Linke.SDS), die beide in der Interventionistischen Linken (IL) aktiv sind, über das Verhältnis von Partei und Bewegung und die daraus resultierenden Herausforderungen für die radikale Linke.
ak: Was drückt sich eures Erachtens in der Tatsache aus, dass die Linkspartei ihre „besten Pferde im Stall“ als Redner bei den Demonstrationen am 28. März aufgeboten hat?
Florian Wilde: Zum ersten, dass der Wahlkampf begonnen hat und die LINKE Bewegungsstimmen gewinnen will, zum zweiten, dass es in der Führung durchaus eine Einsicht in die Bedeutung von Protesten gibt, und zum dritten, dass es an der Basis der Partei einen starken Druck in Richtung auf eine Beteiligung an außerparlamentarischen Aktionen und Protesten gibt. Ersteres kann der radikalen Linken egal sein, solange sie nicht mit eigenen Formationen an Wahlen teilnimmt, zweiteres sollte sie begrüßen und letzteres unterstützen.
Michael Ramminger: Ich sehe das etwas anders. Zunächst kann man nach dem 28. März sagen, dass sich darin eine ziemliche Fehleinschätzung ihrer Mobilisierungsfähigkeit gezeigt hat. In Frankfurt und Berlin war die Präsenz von Parteimitgliedern der LINKEN eher mäßig – trotz Lafontaine und Gysi: zehn Prozent bei Wahlen heißt eben nicht zehn Prozent gesellschaftliche Zustimmung, geschweige denn Mobilisierungsfähigkeit. Und das verweist auf die zweite Fehleinschätzung: dass sie meinte, die kritischen Einwände aus der Bewegungslinken und der radikalen Linken gegen Lafontaine nicht ernst nehmen zu müssen. Auf den Demos waren Gewerkschaften, attac, Linkspartei und radikale Linke zu gleichen Teilen vertreten. Das ist der Punkt, von dem aus man miteinander strategische Diskussionen um das Verhältnis von Partei und Bewegung führen muss. Eine andere Wirklichkeit gibt’s momentan nicht.
Hagen Kopp: Die Initiative für die Demonstrationen ging parallel von verschiedenen Basis- und Gewerkschaftsinitiativen aus. Anstatt nun eine Kooperation auf Augenhöhe zu suchen, also bewegungsnahe Vertreter der LINKEN als Redner vorzuschlagen und damit eine gewisse Sensibilität für das Spannungsverhältnis zwischen außerparlamentarischer Bewegung und Linkspartei zu zeigen, wurden die Spitzenkandidaten (durch)gepusht. Davon ausgehend, dass diese Entscheidung auch innerhalb der LINKEN nicht unumstritten war, sagt es wohl einiges über die internen Machtverhältnisse aus. Die Auftritte waren jedenfalls ein gleichermaßen plumper wie unverschämter Versuch, die aufkommenden Krisenproteste zum Auftakt des Superwahljahres parteipolitisch zu instrumentalisieren.
Hätte die radikale Linke im Vorfeld deutlicher ihr Unbehagen über das Verhalten der Linkspartei machen müssen?
M.R.: Nein, glaub ich definitiv nicht. Und das hat jetzt nichts mit der Bewertung bzw. Entwicklung der populistischen und rassistischen Äußerungen von Lafontaine zu tun. Die Demos standen schon unter ungünstigen taktischen Vorzeichen: Rückzug der Gewerkschaften, bevorstehender NATO-Gipfel, vor allem aber davon, dass es ja bei uns noch lange keine massenwirksame Einschätzung der historischen Dimension der „Krise“ gibt. Für die radikale Linke, insbesondere für die IL, gilt deshalb: Es hätte doch keinen Sinn gemacht, aus diesem fragilen „Ereignis“ antikapitalistischer und kapitalismuskritischer Artikulation ein Ereignis des Bruchs mit der LINKEN zu machen. Denn der Mobilisierungsschwäche der Linkspartei steht ja auch das begrenzte Potenzial der radikalen Linken gegenüber. Wir stehen ja erst am Anfang unserer Überlegungen zum Verhältnis von Bewegung – Partei – Artikulation von Alltagspraxis und sozialen Kämpfen. Und da sollten wir es uns nicht leisten, um der sogenannten Wahrheit willen schon vorab Brücken abzubrechen, die noch gar nicht gebaut sind. Das könnten wir mal bitter bereuen.
H.K.: Einspruch! Das Bild einer großen Gemeinsamkeit der Linken in der Krise zu malen, die sich von IL bis zu Lafontaine erstreckt, halte ich für fatal. Statt einen selektiven Kooperationsprozess mit der LINKEN öffentlich „zu fordern und zu fördern“, wurden die Kröten Lafontaine und Gysi entweder bündnistaktisch geschluckt bzw. dazu genutzt, im Gegenzug eigene Redebeiträge durchzusetzen. Oder es wurde gar behauptet, der aktuell scheinbare Linkspopulismus von Lafontaine wäre doch zu begrüßen. Lafontaine war die zentrale SPD-Figur bei der Abschaffung des Asylrechts und hatte zumindest bis 2005 immer wieder rechtspopulistische Auftritte. Glaubt irgendwer ernsthaft, dass er sich verändert hat? Spätestens, wenn er wieder in Machtpositionen kommt, kann kaum ein Zweifel bestehen, dass zum protektionistisch-keynesianischen Programm auch wieder rassistische Ausgrenzung gehört.
F.W.: Hagen, was du sagst, ist Ausdruck der Selbstbezüglichkeit der radikalen Linken. Außerhalb dieses engen Milieus wurde Oskar in den letzten Jahren vor allem als profiliertester Vertreter des linken Flügels der Linkspartei wahrgenommen. Seine in der Öffentlichkeit diskutierten Themen standen weit links vom Mainstream: Politischer Generalstreik, Mindestlöhne, Enteignungen der Energiekonzerne usw. Darüber wird er wahrgenommen, und deswegen wird er in einer Tour – wie kaum ein anderer Politiker – von den Medien und gleichzeitig von den rechten, auf möglichst rasche Regierungsbeteiligung abzielenden Strömungen in der LINKEN angegriffen.
Mit Eierwürfen auf Oskar läuft die radikale Linke Gefahr, seinen bürgerlichen und parteirechten Gegnern in die Hände zu spielen – und sie selbst tatsächlich von einer Orientierung auf gemeinsame Straßenproteste abzubringen. Wir sollten unsere moralische Empörung über seine rassistischen Äußerungen in der Vergangenheit nicht zum Ausgangspunkt unseres Handelns machen, sondern uns die strategische Frage stellen, wie wir seine Anhänger perspektivisch für wirklich antikapitalistische Politik gewinnen können.
Ja, wie kann man die Leute für eine wirkliche antikapitalistische Politik gewinnen. Befinden wir uns nicht in einer Situation, in der die Zeit der von einem anti-neoliberalen Konsens geprägten Bewegung der Bewegung und die ohnehin in Deutschland nur mäßig entwickelte Zusammenarbeit mit Teilen der Gewerkschaften abgelaufen ist? Kommt es perspektivisch nicht eher zu einer Spaltung zwischen anti-neoliberalen und antikapitalistischen Kräften?
F.W.: In der Tat: Die neokeynesianische Wende weiter Teile der herrschenden Klasse beinhaltet die Gefahr einer Integration von Teilen der anti-neoliberalen Bewegung, wie wir sie seit Seattle kennen. Der alte Konsens wird zerbrechen, die Bruchlinien sind aber noch unklar. Die radikale Linke steht vor der Aufgabe der Formierung eines tatsächlich antikapitalistischen Blocks in der Gesellschaft. Dabei muss die radikale Linke auch versuchen, möglichst große Teile der Basis der Linkspartei für eine solche Perspektive zu gewinnen. Das funktioniert aber nicht über das öffentliche Beschimpfen von als „links“ wahrgenommenen Protagonisten dieser Partei, sondern über die Entwicklung einer radikalisierenden gemeinsamen Praxis vor Ort, z.B. in lokalen Sozialbündnissen. Auch eine explizit antikapitalistische Linke darf gerade in Zeiten der Krise ihre strategische Bündnisorientierung nicht aufgeben, will sie gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verändern. Eine Politik sektiererischer Selbstvergewisserung der eigenen Radikalität hilft dabei nicht weiter.
H.K.: Ich weiß nicht, ob „anti-neoliberal“ und „antikapitalistisch“ die unterschiedlichen Perspektiven wirklich einfangen. Antikapitalistische Rhetorik ist ja auch nichts Besonderes mehr. Ich würde eher von Etatismus und (National-)Keynesianismus (mit mehr oder weniger Euroanstrich) auf der einen Seite und einem Inter- oder besser Transnationalismus, einer Globalisierung von unten, auf der anderen Seite sprechen. Ersteres steht für staatliche Regulierung, Lobbyismus und Co-Management, letzteres für das Primat sozialer Kämpfe in der Orientierung auf globale soziale Rechte. Das sind doch die Pole in der Linken wie auch in den Gewerkschaften, und auch wenn jeweils der rechte Pol weitaus stärker erscheint und sich nicht grundlos Hoffnungen macht, nun beim Krisenmanagement mitwirken zu dürfen, sollte eine Positionierung der radikalen Linken keine Frage sein. In diesem Sinne: Nicht nur Ackermänner, Zetsches und Merkels, sondern auch Lafontaines und Opel-Franze weiter in die Krise treiben!
M.R.: Die Frage ist doch nicht einfach die nach der Gefahr einer Aufspaltung. Selbst wenn wir uns nicht aufspalten ließen, wäre das Potenzial doch lächerlich angesichts dessen, was auf uns an zunehmender gesellschaftlicher, sozialer und ökologischer Ausbeutung zukommt. Die einzige Hoffnung – und zugleich eben auch die entscheidende Herausforderung – ist doch, was lässt sich Neues entwickeln: an gesellschaftlichem Widerstand, politischen Forderungen, wie und mit wem treiben wir Keile in die Hegemonie des Kapitalismus? Der reine Anti-Neoliberalismus ist genauso am Ende wie der Neoliberalismus. Diese Einsicht ist sozusagen der taktische Vorteil der IL. Und sie ist auch vermittelbar. Wir sind auf dem richtigen Weg: am Bruch festzuhalten und zugleich nach Vermittlungen zu suchen, Partei zu kritisieren und zugleich Kooperationen auszumachen, taktisch zu agieren und an der Notwendigkeit von strategischen Diskussionen festzuhalten und nicht zuletzt auch bereit zu sein, sich darin selbst neu zu erfinden.
Wie sich die LINKE in nächster Zukunft entwickelt, ist – das habt ihr alle betont – für die radikale Linke und die Frage, welche Folgen die Krise haben wird, nicht unbedeutend. 2005 wurde mit dem „Offenen Brief an die Linkspartei“ schon einmal der Versuch unternommen, auf ihre programmatische Entwicklung Einfluss zu nehmen. Aus eurer Sicht: Hat der Brief etwas bewirkt? Lässt sich aus dieser Initiative etwas für heute lernen?
M.R.: Der Brief hat auf Parteiebene keine Kräfteverhältnisse verschoben. Aber es gab eine Reihe von Leuten, die sich von dem Brief bestärkt fühlten, die das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Partei und die Frage, was heute eigentlich „links“ heißt, immer wieder intern einbringen. Genau deshalb macht es auch keinen Sinn, die ganze Partei als national-keynesianisch abzukanzeln. Zurzeit scheinen die anstehenden Wahlen anders als 2005 aber kein bedeutsames Datum zu sein. Deshalb weiß ich auch nicht, ob eine solche erneute Intervention sinnvoll ist.
F.W.: Ich denke schon, dass der Brief damals wahrgenommen wurde und zu einer stärkeren Sensibilität der Partei im Bereich Antirassismus beigetragen hat. Ich finde: Wir brauchen mehr von solchen Initiativen! Eine radikale Linke, für die der Umsturz der bestehenden Verhältnisse nicht anders als in Form massenhafter Selbstemanzipation denkbar ist, muss letztlich immer darauf abzielen, dass linksradikale Politik perspektivisch massenhaft getragen wird. Und das bedeutet, dass wir die wichtigste Formation auf der Linken, die Linkspartei, aus unserem Interventionsbegriff nicht ausblenden dürfen. Im Gegenteil: Dringend gefordert ist ein strategisch bestimmter Umgang mit ihr, der die Hoffnungen ihrer Mitglieder und Anhänger ernst nimmt und sie als Ausgangspunkt einer radikalisierenden Intervention über die Horizonte parlamentarischer Politik hinaus begreift.
H.K.: Ich würde lieber noch mal grundsätzlicher fragen: Sollten wir nicht eher aus der Geschichte der Grünen lernen? Es gibt – mit einzelnen bewegungsverbundenen Kräften, oft auf lokaler Ebene – punktuelle Möglichkeiten, mit Parteileuten sinnvoll zusammenzuarbeiten. Aber es gibt immer auch den Apparat auf dem Weg zur Macht. Bei Fischer konnte mensch sich angesichts seiner Vorgeschichte noch einreden, dass es nicht so schlimm werden kann. Bei Lafontaine verspricht schon die Vorgeschichte, dass es schlimmer wird.
Interview: mb.