Mehr als 300 WahlbeobachterInnen waren dem Aufruf der kurdisch-türkischen Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) gefolgt und zu den Parlamentswahlen am 1. November in die kurdischen Gebiete der Türkei gefahren – die meisten von ihnen VertreterInnen europäischer Linksparteien, sowie von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen.
Ich hatte mich einer Delegation aus Baden-Württemberg angeschlossen, der u.a. die Mitglieder der Linksfraktion im deutschen Bundestag, Karin Binder und Heike Hänsel, sowie der stellv. Parteivors. der LINKEN, Tobias Pflüger angehörten. Unsere Delegation traf am Donnerstag, 29.10., in Diyarbakir (Amed), der heimlichen Hauptstadt Nordkurdistans, ein. Am Flughafen trafen wir auf weitere Delegationen aus der Schweiz, Italien, Norwegen und Großbritanien.
Freitag, 30.10.15
Besuch beim Menschenrechtsverein IHD
Raci Bilici, Vorsitzender des IHD Diyarbakir und stellv. Vors. des IHD Türkei, berichtete unserer Delegation über die Tätigkeit des Vereins, der sich um die Registrierung und Dokumentation von Menschenrechtsverstößen bemüht und sich um Opfer und Angehörige kümmert. Alle drei Monate veröffentlichen sie einen Bericht, der in viele Sprachen übersetzt wird.
Seit der Aufkündigung des Friedensprozesses durch Erdogan habe sich die Situation wieder stark verschärft.
Dazu aktuelle Beispiele ihrer Arbeit:
- „Es laufen momentan Verfahren gegen 21 linke Bürgermeister, die an Veranstaltungen zum Thema „demokratische Autonomie“ teilgenommen haben, die deshalb abgesetzt wurden und denen z.T. lebenslange Haftstrafen drohen.
- Der Vors. der Anwaltskammer Diyarbakir wurde kürzlich in Haft genommen, weil er öffentlich in Frage stellte, dass die PKK tatsächlich eine terroristische Organisation sei. Aufgrund massiven internationalen Drucks aus der U-Haft wieder entlassen, läuft das Verfahren gegen ihn weiter: ihm drohen 7 Jahre Haft.
- Zwei 12jährige Kinder, die Erdogan-Plakate zerrissen und zum Papierhändler gebracht haben, sind in Haft genommen worden und wurden nun zwangspsychatrisiert.“
Raci Bilici: „Mein Handy wird abgehört und ich muss ständig Angst haben, verhaftet zu werden und für Jahre ins Gefängnis zu kommen, obwohl ich mein Leben lang für eine friedliche Konfliktlösung eintrete und Gewalt ablehne“.
Im Flur des Vereins hängen Fotos von einigen der zahlreichen ermordeten Anwälten und Aktivisten des IHD, darunter dem ehem. Vors. Velat Aydin, zu dessen Beerdigung es 1991 zu einer Großdemonstration kam, bei der das Militär 22 Demonstranten erschoss.
Treffen mit der Mesepotamischen Ökologiebewegung
In den Räumen der Bildungsgewerkschaft Egtim Sen, Partnerorganisation der GEW, treffen wir uns mit Erkan, Öffentlichkeitsreferent der Mesopotamischen Ökologiebewegung. Diese Bewegung hat sich vor 5 Jahren gegründet und ist mittlerweile in 10 Städten in Nordkurdistan aktiv, in denen sie sich in Rätestrukturen organisiert. Auf allen Ebenen gäbe es eine 50%ige Frauenquote für alle SprecherInnenpositionen. Auf einer von 150 Aktivisten und Organisationen besuchten Konferenz im Februar in Diyarbakir wurden 4 Kommissionen gebildet, die sich mit Umweltfragen und Umweltbildungsarbeit beschäftigen. Insgesamt sollen 20 Kommissionen aufgebaut werden. Sie bemühen sich um internationale Vernetzung und arbeiten eng mit der ICOR (International Coordination of Revolutionary Parties and Organizations) zusammen.
Ein wichtiges Projekt ist ihnen der Aufbau einer Samenbank mit traditionellen Getreidesorten, um von den Agrarkonzernen unabhängig zu werden und den Menschen eine Selbstversorgung zu ermöglichen. Sie bauen diese bspw. mit aus dem Shengal geflohenen YezidInnen in den Flüchtlingslagern um Diyarbakir an.
„Ein großes Thema sind die großen Waldbrände, die das türkische Militär legt, um der Guerilla die Rückzugsräume zu nehmen und um Platz für Militäranlagen und Staudämme zu schaffen. Allein in diesem Jahr sollen auf diese Weise 10.000 ha Wald in Kurdistan vernichtet worden sein – mit schlimmen Auswirkungen auf Umwelt und Trinkwasserversorgung. Die Umweltbewegung organisiert Trainings, um mit der lokalen Bevölkerung das Löschen von Bränden zu üben.“
Ein anderes Thema sind die Staudämme, für deren Bau viele Menschen vertrieben werden und die Ökosysteme empfindlich gestört werden. Wasser ist in der Gegend eh knapp – die Staudämme führen dazu, dass ganze Regionen austrocknen.
Außerdem ist für die nächsten Jahre der Bau von 3 AKW´s geplant – u.a. mit Beteiligung des Siemens-Konzerns.
Erkan: „Der jahrzehntelange Krieg hat unsere Region verwüstet. Krieg trifft nicht nur die Menschen, sondern zerstört auch die Natur. Unser Ziel ist, die Wunden zu heilen und Mensch und Natur wieder in Einklang zu bringen“.
Auch im Flur der Lehrergewerkschaft hängen Portraits ihrer ermordeten Mitglieder …
Gespräch mit Hatip Dicle dem Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK)
Nachmittags hatten wir ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK, Hatip Dicle. Er ist eine sehr bekannte Person in Nordkurdistan, seit er 1994 aus dem türkischen Parlament, in dem er als Abgeordneter die damalige Linkspartei DEP vertrat, verhaftet wurde und 10 Jahre im Gefängnis verbrachte. 2009 wurde er wegen seiner Tätigkeit für den DTK erneut verhaftet. Später war er an den Gesprächen zwischen Öcalan und der türkischen Regierung beteiligt.
Die DTK versteht sich als Vor-Form eines zukünftigen kurdischen Parlamentes. 501 Abgeordnete sind im DTK vertreten, von denen 60% durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40% aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden. Alle drei Monate gibt es eine Generalversammlung. Das Konzept wurde von Öcalan als Alternative zu staatlichen Strukturen entwickelt.
Hatip: „Wir wollen aber keinen parallelen Staat aufbauen, sondern einen gesellschaftlichen Gegenentwurf, gestützt auf Räte und Basisdemokratie, leben und Alternativen zu Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit zu entwickeln. Unser wichtigstes Ziel ist, direkte Demokratie konkret erfahrbar zu machen, denn die repräsentative Demokratie ist nicht ausreichend, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen.“
Die DTK ist in Kommissionen (Frauen, Jugend, Gewerkschaften, Gesundheit, Religion, Außenpolitik etc.) gegliedert, an deren Spitze es immer eine 50%ige Frauenquote gibt. Eine der Kommissionen kümmert sich um die kurdische Sprache. In der letzten Zeit konnten in Diyarbakir erstmals Grundschulen aufgebaut werden, in denen der Unterricht in kurdischer Sprache stattfindet. Gestern wurden zwei dieser Grundschulen von der Polizei geschlossen.
Die Gesundheitskommission kümmert sich u.a. um die Versorgung der aus Syrien kommenden Flüchtlinge. Sie besteht zu 80% aus ehrenamtlich aktiven Menschen, die im Gesundheitswesen beschäftigt sind und bemüht sich bspw. um den Aufbau von Krankenhäusern.
Kooperativen als Alternative?
Abends trafen wir uns mit Tuncay, Mitglied der Wirtschaftskommission des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK und im Parteivorstand der kurdischen Linkspartei DBP (Demokratische Regionen Partei), der größten Formation innerhalb der HDP.
Seit kurzer Zeit gebe es auch eine kurdische Bewegung für eine andere Wirtschaftspolitik. Ihre Basis sei die demokratische kommunale Demokratie. „Dies verstehen wir als Alternative zum Kapitalismus. Wir befinden uns in einer neuen Phase der Entwicklung von Alternativen zum kapitalistischen Monopol.“ Vor einem Jahr gab es in Van einen alternativen Wirtschaftskongress, vor einem Monat eine ähnliche Konferenz in Rojava. Dies sei Teil des Versuches, eine Alternative zum bestehenden System zu schaffen. „Unser Ziel ist, die Wirtschaft auf den Grundlagen von Kommunen, Kooperativen und Produktions-genossenschaften konföderal aufzubauen.“
Bspw. versuche ein türkischer Milchkonzern, den Markt zu monopolisieren, indem er den kompletten Milchhandel an sich reißt. Dagegen versuche man, sich durch den Aufbau von Kooperativen zu wehren, die die Milch direkt an die Verbraucher liefern.
Insgesamt kämen 30-40% der türkischen Wirtschaftsleistung aus Kurdistan: Staudämme, Energie, Mineralien, Bodenschätze, Öl. Bspw. kommt das Öl aus Batman, kommt dann in der Westtürkei in Raffinerie, wird dann verkauft – die Profite bleiben dort. Ziel der kurdischen Ökonomiebewegung sei, dass die regionalen Ressourcen der Region und nicht dem Markt zugute kommen.
Insgesamt stehe man mit der Entwicklung von Alternativen am Anfang, es gäbe noch kein abgeschlossenes Modell. Aber es solle eben nicht mit Großkonzernen und Banken gestaltet werden, sondern mit Kooperativen und Genossenschaften.
Die meisten Aktiven in den neuen, selbstverwalteten Kooperativen seien Frauen, und das Ziel sei auch, durch eine alternative Ökonomie die Geschlechterverhältnisse zu verändern. „Wir möchten nicht, dass die Frauen auf dem kapitalistischen Markt ausgebeutet werden, sondern sie sollen stattdessen für sich selbst und ihre Gemeinschaften arbeiten.“
Auf meine Frage, welche Rolle denn sozialistische Zielstellungen und insbesondere der Klassenkampf als Methode der Aneignung der zentralen Produktionsmittel für die kurdische Freiheitsbewegung im Zeichen des „demokratischen Konföderalismus“ noch spielen, antwortete Tuncay: „Kern der kurdischen Freiheitsbewegung bleibt der demokratische Sozialismus. Unser Weg dahin ist aber nicht die Übernahme oder Verstaatlichung der bestehenden Monopole, sondern der Aufbau unserer eigenen Strukturen. Der Aufbau selbstverwalteter Kooperativen ist unser Weg zum Sozialismus“.
Samstag, 31.10.15
Spuren der Kämpfe in Sur
Am Vormittag machten wir einen Rundgang durch Sur, das Altstadtviertel von Diyrabkir. Vor wenigen Wochen war es hier zu schweren Kämpfen gekommen, nachdem die Bevölkerung ihre demokratische Selbstverwaltung ausgerufen hatte und daraufhin das Militär den Stadtteil stürmte, den seine Bewohner drei Tage lang mit Barrikaden verteidigten. Die Spuren der Kämpfe sind noch überall an den Hauswänden sichtbar: In Form von Einschusslöchern, von linken und kurdischen Parolen, aber auch von offen faschistischen und islamistischen Schmierereien, die Militärs nach der Einnahme des Stadtteils hinterließen. Völlig ausgebrannt ist das Gebäude der kommunalen Räte, stark beschädigt und von Einschusslöchern übersät ist auch eine Moschee.
Wir besuchten kurz die Mutter eines 12jähirigen Mädchens, dass bei den Kämpfen vom Militär getötet wurde. In den Straßen des Stadtteils spielten Kinder das Erlebte nach, in dem sie sich gegenseitig mit Steinen bewarfen.
Eigentlich ist Diyarbakir aber eine schöne Stadt – mit einer der weltweit besterhaltenen spätrömischen Festungsanlagen.
Treffen mit der Partei der Arbeit (EMEP)
Mittags besuchten wir die Partei der Arbeit (EMEP), und sprachen mit Yussuf, Mitglied in ihrem Parteivorstand, und Hassan, Redakteur ihrer Zeitung. Die EMEP unterstützt die HDP, ohne formal eine Mitgliedsorganisation zu sein. Sie unterstrichen die wichtige Bedeutung von Wahlbeobachtungen, da dadurch die Möglichkeit des Staates zur Wahlfälschung einschränkt werde.
Wir drückten unser Beileid für die 18 GenossInnnen der EMEP aus, die bei dem Anschlag von Ankara vor wenigen Wochen ums Leben kamen.
Yussuf: „Der Anschlag von Ankara ist nur ein Teil dessen, was die Bevölkerung erleiden muss. Erdogan und AKP haben gezeigt, dass sie alles Mögliche in Kauf nehmen, um an der Macht zu bleiben.
Sie wollen den Widerstand, den die Kurden aufgebaut haben, zerstören. Seit Juli gab es 2000 Luftangriffe des türkischen Militärs auf kurdische Gebiete in Nord- und Südkurdistan sowie Rojava.“ Ziel der Einschüchterung sei, Menschen davon abhalten, wieder die HDP zu wählen.
„In der Westtürkei versuchen sie, durch den Krieg nationalistische Gefühle zu schüren und dadurch die AKP zu stärken.
Unser Ziel ist erstens, Erdogans Alleinherschafft zu verhindern, zweitens, dass der Krieg in Kurdistan wieder beendet wird, und drittens, dass die Revolution in Rojava überleben kann.
Wir glauben aber nicht, dass die Repression die Menschen davon abhalten wird, die HDP zu wählen, auch wenn diese momentan gar keinen regulären Wahlkampf machen kann.“
Auch ihre Zeitung ist von der allgemeinen Repression gegen JournalistInnen betroffen: Hassan sei erst kürzlich verhaftet worden, nach dem er dem Gouverneur von Ufra in einem Interview nach der türkischen Unterstützung für den IS gefragt habe.
Besuch der Demokratische Regionen Partei (DBP)
Anschließend besuchten wir die Zentrale der DBP (Demokratische Regionen Partei), der stärksten Formation innerhalb der HDP. Muharem Erby, stellv. Vors. der DBP und ehem. Vors. des Menschenrechtsvereins IHD, ist erst 2014 aus dem Gefängnis gekommen, in dem er die letzten fünf Jahre verbringen musste.
Eingehend berichtet er aus der reichen kurdischen Geschichte, von der späteren Zwangsassimilierung der Kurden, und ihrem Widerstand dagegen.
„Die DBP regiert heute in 201 Kommunen, darunter 3 Städte mit über 500.000 Einwohnern. Wir fordern die friedliche Lösung der kurdischen Frage und unterstützen die Rechte der kurdischen Bevölkerung. Wir wollen die Rechte der Frauen und aller unterdrückten Minderheiten, die religiösen Freiheiten und die sexuellen Freiheiten schützen. Wir setzen uns für demokratische Autonomie und Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung ein. Nachdem die Regierung jahrelang nicht auf unsere diesbezüglichen Forderungen einging, haben einige unserer Bürgermeister in den letzten Monaten unilateral die Selbstverwaltung ausgerufen. Daraufhin verschärfte sich die Repression gegen die DBP. Momentan sind 20 unserer Bürgermeister inhaftiert, sowie zahlreiche Stadträte und weitere Parteiaktivisten. Wir hoffen, dass die HDP trotz aller Repression und allen Einschränkungen bei den Wahlen morgen erneut ein gutes Ergebnis erzielen wird.“
In der Zentrale der HDP
Nachmittags trafen wir uns in der Zentrale der HDP mit Feleknas Uca, einer aus Deutschland stammenden kurdischen Abgeordneten der HDP (die früher für die PDS im Europaparlament saß), und dem HDP-Abgeordneten Ziya Pir, einem Türken, der lange in Baden-Württemberg lebte.
Bei den letzten Wahlen stammten 9 der 10 Abgeordneten, die Diyarbakir ins türkische Parlament entsendet, von der HDP.
Feleknas berichtete von den schwierigen Bedingungen, unter denen der Wahlkampf der HDP läuft. „Besonders schmerzhaft war für uns, dass Erdogan seine Wahlkampfkundgebung in Diyarbakir ausgerechnet auf dem Platz abhielt, auf dem bei dem Anschlag auf unsere Wahlkampfabschlusskundgebung mit einer viertel Million Teilnehmer im Juni drei unserer Genossen getötet wurden. Immerhin waren zu Erdogan nur 5.000 Menschen gekommen, von denen die meisten mit Bussen von auswärts herangekarrt wurden.
Unter den Sondereinheiten, die Erdogan in die Region entsendet, scheinen IS-Anhänger zu sein. So wurden in Bizmil 4 Jugendliche von Heckenschützen ermordet, drei von ihnen wurden geköpft. All das erinnert sehr an die Methoden des IS.
Auffällig ist, dass bei allen drei Anschlägen – Diyarbakir, Suruc, Ankara – die Polizei sofort, nach dem die Bomben explodierten, die Überlebenden und die Toten mit Tränengas beschoss, und dass in allen drei Fällen die Krankenwagen von der Polizei lange Zeit nicht durchgelassen wurden.
Ich selbst wurde, obwohl ich Abgeordnete bin, kürzlich bei einer Polizeikontrolle mit einer Waffe bedroht, bei einer anderen von Polizisten geschlagen.
Leider versucht Erdogan immer weiter, die Situation zu eskalieren – auch nach der Verkündigung des einseitigen Waffenstillstandes der PKK. So wurden gezielt die Guerilla-Friedhöfe samt Moscheen und Cem-Häusern bombardiert, deren Einrichtung die Regierung erst kürzlich im Rahmen des Friedensprozesses genehmigt hatte. Durch Abgeordnete des CHP wurde herausgefunden, dass der Befehl zu ihrer Zerstörung von ganz oben kam. Dass Erdogan selbst unseren Toten keinen Frieden lässt, macht die Menschen hier besonders wütend.“
Auch Ziya Pir berichtet von der prekären Situation vor den Wahlen. „Es wird bewusst die Angst vor neuen Anschlägen geschürt, um Menschen vom Wählen abzuhalten. In vielen Dörfern wurden trotz Protesten der Wahlbehörde die Wahllokale zusammengefasst, womit viele Wähler lange Wege auf sich nehmen müssten. Außerdem haben viele Menschen die Städte, in denen in den letzten Wochen gekämpft wurde, verlassen und haben Angst zurückzukehren.
Um die Wahlen zu gewinnen, versucht Erdogan mit allen Mitteln, die Stimmen für die HDP zu minimieren. Es ist uns in vielen Gegenden von Kurdistan, die als Sicherheitszonen deklariert wurden, nicht erlaubt worden, überhaupt Wahlkampf zu machen. Außerdem wurden hunderte unserer besten Aktivisten in den letzten Wochen in Haft genommen, die uns im Wahlkampf fehlen. Erdogan schürt bewusst eine Atmosphäre der Angst, um die Menschen vom Wählen abzuhalten. Nach dem Anschlag von Ankara mussten wir alle Kundgebungen absagen, weil der Staat offensichtlich nicht Willens ist, uns zu schützen. Dass er dass sehr wohl könnte, zeigen die Kundgebungen der AKP: Bei denen gibt es massive Sicherheitskontrollen durch die Polizei. Auch mir wurden im Wahlkampf Pistolen an den Kopf gehalten, und in einem anderen Fall schossen Polizisten auf den Baum, unter dem wir in einem Park saßen.
Wir glauben aber, dass trotz allem die Menschen morgen an die Urnen gehen und ihre Stimmen abgeben werden.“
Die angespannte Sicherheitslage war auch in der HDP-Zentrale deutlich zu spüren: wer sie betreten wollte, wurde auf Waffen durchsucht, und alle Fenster waren aus Angst vor Heckenschützen abgehängt.
Treffen mit Überlebenden des Massakers von Suruc
Am Abend besuchten wir das Büro der SGDF (Förderation der sozialistischen Jugendverbände), die der sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) nahesteht, einer Mitgliedsorganisation der HDP.
33 Mitglieder einer Jugenddelegation der SGDF, die beim Wiederaufbau von Kobane helfen wollten, wurden bei einem Bombenanschlag in dem Grenzort Suruc im Juli getötet. Ein weiterer Genosse kam bei dem Anschlag von Ankara ums Leben, fünf wurden dort verletzt. An den Wänden des Büros hängen die Portraits der Opfer der Attentate, sowie von Militanten, die ihr Leben bei der Verteidigung Kobanes gegen den IS ließen.
Mehrere Mitglieder, die die Anschläge, teilweise schwer verletzt, überlebten, waren – z.T. noch immer an Krücken – extra ins Büro gekommen, als sie von unserem Besuch erfuhren.
Fethiye, die stellv. Vorsitzende der ESP in Diyarbakir, die bei dem Anschlag selbst schwer verletzt wurde und erst seit einem Monat wieder laufen kann, begrüßte unsere Delegation und betonte, wie wichtig internationale Solidarität in diesen schweren Zeiten für sie sei.
Heike Hänsel drückte unsere Anteilnahme mit den ermordeten aus und verurteilte den Staatsbesuch von Angela Merkel bei Erdogan so kurz vor den Wahlen. Ich schilderte, dass von den in Deutschland im Parlament vertretenen Parteien besonders die LINKE aktiv in der Solidarität mit der Revolution in Rojava und mit Kobane ist, sich gegen das Verbot der PKK einsetzt und auch eine Aufhebung des Verbotes der MLKP in Deutschland fordert.
Fethiye erklärte die Erwartung, dass Erdogans Einschüchterungspolitik ihr Ziel verfehlen wird und die viele Menschen wieder die HDP wählen werden, auch wenn sie erleben mussten, dass sich durch die Wahlen nichts zum besseren gewendet hat. Die ESP habe das schreckliche Attentat von Suruc noch gar nicht verarbeiten können, weil es seit dem Schlag auf Schlag geht. Selbstkritisch wurde angemerkt, dass eine umfassende Mobilisierung der Bevölkerung nach dem Anschlag nicht gelungen sei. Während Massaker für die Menschen in Kurdistan quasi zum Alltag gehörten, hat der Anschlag von Suruc, bei dem v.a. Türken getötet wurden, auch die Menschen in der Westtürkei aufgerüttelt. Die Partei würde viel Solidarität erfahren, die Mitgliedschaft der ESP hat sich seit dem Anschlag fast verdreifacht.
Eine sehr junge Genossin, die beide Attentate überlebte, erzählte: „Es ist klar, dass die imperialistischen Mächte nicht wollten, dass wir den Kindern ihrer Feinde, den Kindern Kobanes, ein Lächeln schenken. Wir haben unsere Arbeit nach dem Anschlag von Suruc fortgesetzt, viele Jugendliche haben sich uns seit dem angeschlossen, und konnten neue Gruppen in vielen Städten gründen. Wir planen eine symbolische Kampagne, bei der 33 unserer GenossInnen an Stelle derer, die in Suruc ermordet wurden, nach Kobane gehen, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Viele der Familien der Ermordeten haben nun den Kampf ihrer getöteten Kinder aufgenommen und engagieren sich in der Solidarität mit Kobane. Wir wünschen uns von den sozialistischen und kommunistischen Jugendorganisationen Europas, dass sie gemeinsam mit uns die Solidarität mit Rojava fortsetzen.“
Eine andere Überlebende schildert, dass das Überleben des Anschlages für sei einen Auftrag darstelle, den Kampf der Ermordeten fortzusetzen, und sich dafür einzusetzen, dass die Mörder zur Rechenschaft gezogen werden. „Wir wollten nach Kobane fahren, weil wir einen Traum haben: den Traum einer freien Welt ohne Ausbeutung. Wir sind nicht mit Waffen gefahren, sondern mit Kinderspielzeug und Büchern. Diesen Traum konnten sie nicht töten, dieser Traum lebt in unserem Kampf weiter.“
Die Kosten für die Behandlung der zahlreichen Verletzten der Anschläge würden solidarisch durch demokratische und fortschrittliche Kräfte getragen, da die öffentliche Krankenkassen keine ausreichende Behandlung ermöglichten. Ein Genosse, von Beruf Lehrer und seit dem Anschlag von Suruc an Krücken, schilderte, wie ein Teil seines Oberschenkels weggerissen wurde. Metallteile in der Bombe verletzten ihn am Bauch so schwer, dass seine Galle entfernt wurde, ebenso wurde die Lunge und den Rücken getroffen.
Eine spontane Spendensammlung unserer Delegation erbrachte 250€ für den Fond für die verletzten Überlebenden.
Es war ein sehr bewegender Besuch, und er wurde in unserer Delegation als ein Ansporn empfunden, gerade auch in den imperialistischen Zentren Europas die Solidarität mit Rojava und den Kampf für demokratische und sozialistische Alternativen entschlossen fortzusetzen.
Sonntag, 01.11.15, Wahltag
Friedlicher Wahltag in Silvan
Am Sonntag wurden wir als Wahlbeobachter in Silvan eingesetzt, einem Zentrum der Kämpfe der letzten Wochen. Spuren dieser Kämpfe waren in Form von Barrikaden-Resten, mit denen die Altstadtviertel gegen das Militär verteidigt wurden, und Einschusslöchern in den Hauswänden noch deutlich sichtbar. Die Selbstverteidigung verschiedener Stadtteile gegen die Staatsmacht war nach der Ausrufung des einseitigen Waffenstillstandes durch die PKK schließlich aufgegeben worden, um einen friedlichen Wahlablauf zu ermöglichen. Omnipräsent sind Grafittis der PKK, ihrer Jugendorganisation YDG-H und der HDP.
Ein offener Straßenwahlkampf der HDP hat hier nicht stattfinden können, alle Kundgebungen mussten aus Angst vor weiteren Anschlägen abgesagt werden.
Der Wahltag selbst war hier nach unseren Beobachtungen friedlich. Es war sehr beeindruckend, wie stark die Bevölkerung in dieser schwierigen und gefährlichen Situation ihr Wahlrecht in Anspruch nahm und ausübte. Trotz aller Einschüchterungen und Drohungen der letzten Tage war die Wahlbeteiligung überall sehr hoch, etwa auf dem Level der letzten Wahl, in einigen Wahllokalen, die wir besuchten, bei über 90%. Wir waren die meiste Zeit zusammen mit dem Bürgermeister von Silvan unterwegs, der 12 Jahre lang wegen Unterstützung und Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation im Gefängnis verbrachte.
Wir konnten keine größeren Unregelmäßigkeiten feststellen. Das Wahlprozedere erinnert sehr an das in Deutschland, nur dass die Wahlkommission paritätisch von Vertretern aller Parteien sowie einem Vertreter einer unabhängigen Wahlbehörde gebildet wird, was mir ziemlich fair vorkommt.
Allerdings wurde der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand von 15 Metern, den bewaffnete Sicherheitskräfte zu den Wahlurnen zu wahren haben, mehrfach nicht eingehalten. In einigen Wahllokalen liefen bewaffnete provokant und einschüchternd durch die Schulgebäude, in denen die Wahlurnen stehen. Dies wurde uns gegenüber auch von Vertretern aller Parteien, die im Wahlvorstand des Wahllokals saßen, als unnötig und als Einschüchterung kritisiert. Wir konnten einen Fall dokumentieren, in dem ein schwer Bewaffneter das Klassenzimmer betrat, in dem die WäherInnen ihre Stimme abgaben. Unser Erscheinen führte in mehreren Fällen dazu, dass die Sicherheitskräfte die Gebäude verließen und sich vor ihnen postierten. Die Bundestagsabgeordnete Heike Händel wurde unter Androhung einr Ingewahrsamname genötigt, Fotos von den Polizisten im Schulgebäude wieder von ihrem Handy und von Twitter zu löschen.
In einem solchen Wahllokal mit starker Polizeipräsenz beobachteten wir auch den Auszählungsprozess, der sehr transparent war. Öffentlich werden die Umschläge geöffnet, die einzelnen Voten vorgelesen, der Name der jeweils gewählten Partei genannt und von drei Leuten notiert. Der Stimmenanteil der HDP war in diesem lokal überwältigend hoch – vor Abschluss der Auszählung bei deutlich über 80%.
An anderen Orten hatten einige Wahlbeobachter Probleme mit der Polizei, die sie zeitweise festsetzten. Nicht beurteilen können wir, wie die Situation an anderen Stellen war, was mit dem Ergebnis nach der Auszählung passiert, wie die Ergebnisse in Ankara zusammengezählt werden und wie viele Stimmen auf dem Weg dorthin hinzugefügt werden oder verschwinden.
Montag, 02.11.15
Trotz Verlusten ein großer Erfolg: Das Wahlergebnis der HDP
Der kurdisch-türkischen Linkspartei HDP ist unter schwierigsten Bedingungen und trotz Verlusten erneut ein großer Erfolg gelungen: zum zweiten Mal seit dem Militärputsch 1980 schaffte eine linke Partei in der Türkei den Einzug in das Parlament. Der erste Einzug ist nicht einmal ein halbes Jahr her: bei den Wahlen im Juni erzielte die HDP mit sechs Millionen Stimmen 13,2% und knackte damit erstmals die 10%-Hürde, die ursprünglich eigens eingerichtet wurde, um eine parlamentarische Präsenz linker Kräfte zu verhindern. Der Sprung über diese Hürde gelang der HDP auch am Sonntag wieder – wenn auch nur knapp: 10,7% und 5 Mio. Stimmen, so das vorläufige amtliche Endergebnis.
Es sind die politischen Umstände, die verständlich machen, warum dieses Ergebnis trotz Verlusten als neuer Erfolg der HDP zu werten ist: Mit dem Wahlen im Juni verlor die konservativ-islamische AKP-Partei des Präsidenten Erdogan aufgrund des Einzugs der HDP nach 13 Jahren ihre absolute Mehrheit – und der Präsident damit die Möglichkeit, die Umwandlung der Türkei in eine autoritäre Präsidialrepublik auf konstitutionellem Wege fortzusetzen. Als Reaktion darauf beendete Erdogan den Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK und brach einen neuen Krieg in Kurdistan vom Zaun, der mit scharfer Repression gegen die HDP einherging: Mehr als ihrer 2.000 Aktivisten und Funktionäre, darunter 20 Bürgermeister, wurden verhaftet und hunderte ihrer Büros von durch den Krieg aufgeheizten nationalistischen Mob verwüstet. Begleitet wurde dies durch bisher nicht aufgeklärte Anschläge gegen die türkisch-kurdische Linke, bei derem blutigsten auf eine Friedensdemonstration in Ankara Anfang Oktober über 100 Menschen getötet wurden. Nach dem Anschlag sah sich die HDP gezwungen, in der heißen Phase des Wahlkampfes alle Kundgebungen abzusagen und ihren Straßenwahlkampf vielerorts einzustellen.
Erdogan verfolgte mit dieser Eskalation eine leicht durchschaubare Strategie: die HDP bei den angesetzten Neuwahlen unter die 10%-Hürde zu drücken, nationalistische WählerInnen der MHP für sich zu gewinnen und wieder eine absolute Mehrheit zu erzielen. Zumindest bei den letzten beiden Zielen war er erfolgreich, auch wenn die AKP mit knapp 50% und 316 Abgeordneten weit von der erhofften, verfassungsändernden Mehrheit von 367 Sitzen entfernt bleibt.
Feleknas Uca, ehemalige Europa-Parlamentarierin der PDS und frisch wiedergewählte HDP-Abgeordnete für Diyarbakir, ist sich sicher, dass dieses Ergebnis nur mit Hilfe massiver Wahlfälschungen möglich war. „Ein deutliches Indiz dafür ist, dass die Ergebnisse der Wahl in allen Medien verkündet wurden, bevor die Wahlstimmen überhaupt beim Wahlleiter angekommen sind. Viele Wahlprotokolle, die uns vorliegen, weisen ganz andere Ergebnisse aus, als die vom Wahlleiter verkündeten“, berichtete sie, als sie unsere Delegation in der Wahlnacht besuchte.
In den kurdischen Gebieten habe aufgrund der Militäraktionen und des Widerstandes der Bevölkerung dagegen eine bürgerkriegsähnliche Situation geherrscht. „Wir konnten in Diyarbakir in den letzten Wochen keinen Wahlkampf mehr machen, weil wir fast jeden Tag auf Friedhöfen verbracht haben, um um die Opfer der Kämpfe und der Repression zu trauern“.
Auch am Wahltag selbst habe es in Sur, dem Altstadtviertel von Diyarbakir, massive Einschüchterungen der Bevölkerung durch die Sicherheitskräfte gegeben. Zeitweise war das Viertel abgesperrt, maskierte Spezialeinheiten postierten sich direkt vor den Schulen, in denen Wahllokale eingerichtet waren, um die Menschen vom Wählen abzuhalten. Auch gegen internationale Wahlbeobachter wurde vorgegangen. So wurden sie gezwungen, die Fotos zu löschen, mit denen sie diese Einschüchterungspolitik dokumentieren wollten. In anderen Orten konnten die Wahlbeobachter zwar keine großen Unregelmäßigkeiten feststellen. Aber, so die Spitzenkandidatin der LINKEN in Baden- Württemberg, Gökay Akbulut, die die Wahlen in der Kleinstadt Bismil begleitete: „Wir können nur das Geschehen in den Wahllokalen selbst verfolgen. Was mit dem Ergebnis nach der Auszählung passiert, wie die Ergebnisse in Ankara zusammengezählt werden und wie viele Stimmen auf dem Weg dorthin hinzugefügt werden oder verschwinden – das können wir leider nicht kontrollieren.“
Vor diesem Hintergrund schätzt auch Felecnas Uca das Ergebnis der HDP als Erfolg ein, auch wenn sie sich ein besseres erhofft hatte: „Es ist ein Ausdruck der Stärke der HDP, dass sich die AKP immerhin nicht getraut hat, die Wahlen so sehr zu fälschen, dass sie die HDP unter 10% drücken konnte.“
Von Dr. Florian Wilde, für die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Wahlbeobachter in Diyarbakir
Presseschau:
nd, 2.11.2015, Erdogan lässt unter Militärpräsenz wählen
nd, 3.1.2015, Die AKP gewann, aber nicht auf ganzer Linie