Blockierter Transformationspfad: Erfahrungen mit linken Regierungsbeteiligungen in Europa

Welche Strategie sollen Linke aus einer Position der gesellschaftlichen Defensive heraus einschlagen, um trotzdem Perspektiven einer sozialökologischen Transformation hin zu einem bunten, lustvollen und ökologischen Sozialismus zu eröffnen? Eine Antwort, die auf diese strategische Grundfrage gegeben wird, ist die Beteiligung an Regierungen.

Die Befürworter verknüpfen mit Regierungsbeteiligungen keineswegs mehr das Versprechen eines unmittelbaren Überganges zum Sozialismus. Vielmehr sollen „Einstiegsprojekte“ in eine sozialökologische Transformation gefunden werden. In ihrer radikaleren Variante sollen sie als Einstiege in eine „doppelte Transformation“ sowohl innerhalb des Kapitalismus wirken als auch zugleich über ihn hinausführen. Das zum Sozialismus transzendierende Element sind in dieser Vorstellung Regierungsmaßnahmen in Gestalt von Reformen, die etwa die Bedeutung gesellschaftlichen Gemeineigentums („Commons“) stärken, Elemente demokratischer Mitgestaltung ausbauen oder steuerpolitisch zu einer Umverteilung von oben nach unten führen. Ebenso wird damit die Vorstellung verknüpft, dass Forderungen sozialer Bewegungen in Regierungshandeln und in den Staatsapparat übersetzt und die Spielräume von Bewegungen erweitert werden können.

Oft folgen linke Regierungsbeteiligungen auch schlicht der Logik des „kleineren Übels“: Selbst wenn keine Einstiegsprojekte durchsetzbar sind, können sie in der Regierung die schlimmsten Angriffe vielleicht doch verhindern. In jedem Fall wird mit Regierungsbeteiligungen die Hoffnung verknüpft, als linke Partei einen „Gebrauchswert“ für WählerInnen und Mitglieder beweisen zu können, der wiederum zu einer Stärkung der linken Partei führt.

Die Linke in Deutschland und Europa sollte sich kritisch Rechenschaft darüber ablegen, ob das strategische Konzept von Veränderungen durch Regierungsbeteiligungen die mit ihm verknüpften Hoffnungen und Versprechungen halten kann. Die Bilanz der letzten 25 Jahre ist ziemlich düster.

Der Fall der Rifondazione Comunista

Zu Beginn der 2000er Jahre war die italienische Rifondazione Comunista (RC) im Heimatland der einst stärksten kommunistischen Bewegung Westeuropas der Hoffnungsträger für linke Parteien in ganz Europa. Tief in den kommunistischen Traditionen des Landes verwurzelt, selbstkritisch der eigenen Geschichte gegenüber, innerparteilich plural, offen für neue linke Diskurse, und fest in den sozialen Bewegungen verankert und auf sie orientiert, erschien die RC im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung als role-model für eine junge und radikale Linke auf dem ganzen Kontinent. Nach ihrer wichtigen Rolle bei den globalisierungskritischen Protesten in Genua wurde sie zur treibenden Kraft einer riesigen Antikriegsbewegung, die am 15. Februar 2003 drei Millionen Menschen in Rom gegen den Irak-Krieg auf die Beine brachte.

2006 bis 2008 beteiligte sich die RC der Logik des kleineren Übels folgend an einer Mitte-Links-Regierung, eine neue Berlusconi-Regierung sollte unbedingt verhindert werden. In der Regierung sah sich die RC nicht nur gezwungen, eine von ihr bisher abgelehnte, neoliberale Politik mitzutragen, sie unterstützte plötzlich auch Militäreinsätze wie im Libanon und Afghanistan, gegen die sie bisher unter dem Slogan „ohne Wenn und Aber gegen den Krieg“ an vorderster Front gekämpft hatte.

Wie einst die SPD Karl Liebknecht, schloss die RC zwei ihrer Senatoren aus, weil sie gegen den Afghanistan-Einsatz stimmten. Aus der „Partei der Bewegungen“ wurde in der Regierung eine Partei, die die Bewegungen angriff, aus der „Partei der Alternativen“ wurde eine Partei, die das neoliberale TINA (there is no alternative) mit umsetzte.

Die Folgen waren katastrophal: Nur zwei Jahre später kehrte Berlusconi an die Regierung zurück. Die RC flog aus dem Parlament, in dem erstmals seit 1945 keine kommunistische Partei mehr saß. Bei jeder Wahl verlor sie weiter. Nicht nur die Partei, auch die Bewegungen fielen nach dieser Regierungsbeteiligung in eine Depression von historischer Tiefe. Die Erfahrung, dass dein engster Bündnispartner plötzlich die Seiten wechseln und auf der anderen Seite der Barrikaden stehen kann, erzeugte tiefes Misstrauen, Spaltungen und Sektierertum. Die tiefe Entfremdung weiter Teile der italienischen Bevölkerung vom politischen System kam in der Folge ausschließlich der Protestpartei Beppe Grillos zu Gute. Die italienische kommunistische Linke hatte sich durch ihre Regierungsbeteiligung in einem Maße diskreditiert, dass sie diese Entfremdungsprozesse nicht mehr auffangen konnte.

… und der französischen Kommunisten

Wenige Jahre zuvor hatte bereits die andere historische Großpartei des westeuropäischen Kommunismus, der französische PCF, Erfahrungen mit einer massiven Schwächung der Partei durch eine Regierungsbeteiligung gemacht. 1997 erhielt sie 9,9% bei den Wahlen und trat in die von Lionel Jospin geführten R2G-Regierung der „gauche plurielle“ ein. Dieser Regierung gelangen tatsächlich einige Reformmaßnahmen, wie die Einführung der 35-Stunden-Woche. Im Kern betrieb sie aber eine harte, neoliberale Politik: von keiner französischen Regierung waren bisher so umfangreiche Privatisierungsmaßnahmen durchgesetzt worden, wie von der Regierung Jospin. Und auch hier ging der Neoliberalismus mit Kriegspolitik einher: mit Unterstützung des PCF beteiligte sich Frankreich 1999 am NATO-Krieg gegen Serbien. Bei den Wahlen 2002 erhielt der PCF die Quittung und verlor die Hälfte seiner Wähler und erhielt nur noch 4,8%. Vier Jahre später waren es dann nur noch 4,3%, und selbst im Bündnis mit Melanchons „Parti de Gauche“ waren es 2012 nur 6,9% – also weit unter dem Ergebnis vor der Regierungsbeteiligung. Die Selbstdiskreditierung der stärksten Kraft der französischen radikalen Linken durch ihre Regierungsbeteiligung war eine der Bedingungen, die den Aufstieg des Front National zur führenden politischen Kraft Frankreichs ermöglichte, der gerade in den alten Arbeiterhochburgen des PCF seine besten Ergebnisse einfährt.

Gleiche Erfahrungen in Nordeuropa

Ein aktuelles Beispiel bietet Island, wo die Links-Grüne Bewegung (LGB) vor dem Hintergrund von Massenprotesten nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2009 22% der Stimmen erhielt und in die Regierung eintrat. Auch wenn die folgende Bankenrettung in Island anders ablief, als in anderen Ländern, wurde auch hier nicht mit dem neoliberalen Paradigma gebrochen. Während die LGB immer gegen die Mitgliedschaft Islands in NATO und EU gekämpft hatte, stellte ausgerechnet ihre Regierung den Aufnahmeantrag in die EU. Bei den Wahlen 2013 stürzte die LGB auf die Hälfte ab und erhielt nur noch 11%. Aus der auf die Panama-Papers-Enthüllungen folgenden neuen Krise des politischen Systems Islands kann die LGB nicht mehr profitieren: Es sind die unverbrauchten, bisher nicht diskreditierten „Piraten“, die sich als Alternative darstellen können und bei allen Umfragen führen.

Die anderen skandinavischen Linksparteien machten ähnliche Erfahrungen: Die norwegische „Sozialistische Linkspartei“ schrumpfte in ihrer Regierungszeit von 2005 bis 2013 von 9 auf 4% der Stimmen. Ähnlich erging es der schwedischen Linkspartei und der dänischen Sozialistischen Volkspartei.

Etwas weniger dramatisch weist auch die Bilanz in Finnland in diese Richtung. Hier war das „Linksbündnis“ 1995 mit einem Ergebnis von 11,2% in die Regierung eingetreten; 2003 erhielt die Partei noch 9,9%. 2011 trat sie mit 8,1% erneut in die Regierung ein. Dass sie diese vor Ende der Legislatur verließ, da sie den neoliberalen Kurs nicht bis zum Letzten mitzugehen bereit war, dürfte sie vor dem völligen Absturz bewahrt haben: 2015 entfielen noch 7,1% auf die Partei.

Aufstieg des Rechtspopulismus

In allen skandinavischen Ländern wie auch in Frankreich zeigte sich eine weitere, dramatische Folge linker Regierungsbeteiligungen: ihre Wahrnehmung als Teil eines neoliberalen Parteienkartells bereitete einem erschreckenden Aufstieg rechter und rechtspopulistischer Kräfteals neue Protestparteienden Boden. Ähnliches passierte in Frankreich.

In keinem einzigen Fall der vergangenen 25 Jahre konnte eine linke Regierungsbeteiligung in Europa eine Abkehr vom Neoliberalismus herbeiführen. Überall versagte die Strategie, Regierungen als Sprungbrett zu einer „doppelten Transformation“ zu nutzen. Nachhaltige „Einstiegsprojekte in einen sozialökologischen Umbau“ sind nirgendwo zu verzeichnen. In vielen Ländern beförderten linke Regierungsbeteiligungen den elektoralen Aufstieg des größtmöglichen Übels: rechter, rechtspopulistischer und faschistischer Parteien.

Modernisieren und retten linke Regierungen den Kapitalismus?

Stellt sich die Frage, ob linke Regierungsbeteiligungen nicht sogar aus Sicht des Kapitals einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung neoliberaler und Kriegspolitiken leisten. In Deutschland bedurfte es bekanntlich einer rot-grünen Regierung, um den ersten Kriegseinsatz und den massivsten Sozialabbau nach 1945 durchzusetzen, weil eine konservative Regierung mit einer solchen Politik auf zu großen Widerstand gestoßen wäre.

Die kurz zuvor noch so starke italienische Anti-Kriegsbewegung hätte dem Afghanistan-Krieg womöglich nicht derart ohnmächtig gegenübergestanden, wäre dieser nicht von der Rifondazione in der Regierung unterstützt worden. In Berlin wäre der Widerstand gegen den Verkauf kommunaler Wohnungen und gegen die Tarifflucht des Landes im Öffentlichen Dienst wohl ungleich stärker ausgefallen, hätte die PDS/LINKE diese Politik nicht aus der Regierung heraus mitverantwortet, sondern auf der Straße bekämpft.

Linke Regierungen scheitern nicht aus Dummheit oder Verrat

Wie ist das Scheitern linker Regierungsbeteiligungen zu erklären? Eine mögliche Erklärung wäre, dass das Führungspersonal der Linksparteien quasi überall in Europa aus korrumpierten neoliberalen Wölfen im roten Schafspelz besteht, die gezielt und bewusst die Programme ihrer Parteien verraten. Eine andere, dass die Intentionen zwar gut sind, das Führungspersonal aber unfähig ist. Auch wenn es für beide Fälle einzelne Beispiele geben mag: in der Summe vermögen diese Erklärungen nicht zu überzeugen. Zu unterschiedlich sind die Traditionen, Zusammensetzung und Ausrichtung der betroffenen Parteien.
Wenn linke Regierungsbeteiligungen trotz fähiger und aufrichtiger GenossInnen mit guten Intentionen wiederholt in Niederlagen enden, dann müssen die Gründe dafür tiefer liegen.

Sie sind in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen unserer historischen Epoche zu suchen. Das Kapital hat im Neoliberalismus eine Stärke erreicht, dass ihm aus einer Regierungsposition nicht nur nicht entgegengetreten werden kann, sondern es auch Regierungen mit linken Beteiligungen zu Instrumenten der Durchsetzung seiner Interessen macht. Die Beispiele belegen eindrücklich, dass es gegenwärtig keinen Spielraum für eine linke Reformpolitik aus einer Regierungsposition heraus gibt.

Die Linke braucht eine Strategie jenseits der Regierungen

Die Linksparteien in Europa sollten akzeptieren, dass der Weg sozialökologischer Transformationen durch Regierungsbeteiligungen gegenwärtig versperrt ist. Die Europäische Linke muss eine alternative Strategie entwickeln, die auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durch den langfristigen und nachhaltigen Aufbau starker, verbindender und organisierender linker Parteien, massenhafter sozialer Bewegungen und kämpferischer Gewerkschaften orientiert. Erst wenn das Kapital durch eine Eskalation sozialer Kämpfe derart in die gesellschaftliche Defensive gedrängt wird, dass es Angst um seine Zukunft hat, wird es wieder zu substanziellen Konzessionen und Kompromissen bereit sein. Auch dann wäre noch zu diskutieren, ob Regierungsbeteiligungen tatsächlich die adäquate Strategie einer sozialistischen Transformation darstellen. Aber zumindest würden sich wieder Spielräume für Reformen eröffnen, die es linken Parteien erlauben, in Regierungen mehr als nur immer neue Niederlagen zu erleben.

 

Florian Wilde studierte 2002/03 in Italien und war dort in der Jugendorganisation der Rifondazione Comunista aktiv. 2012-14 war er Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.

Der Beitrag wurde – leicht gekürzt – in der Zeitung „Realistisch und Radikal“ veröffentlicht und erschien außerdem auf dem Blog „Die Freiheitsliebe