(jW)
»Das Gewicht zur Basis verlagern«
Von David Maiwald
Fanny Zeise und Florian Wilde sind Referenten der Rosa-Luxemburg-Stiftung und veranstalten die Konferenzreihe »Gewerkschaftliche Erneuerung«
David Maiwald leitet das junge Welt-Ressort Wirtschaft, Arbeit und Soziales.
Gegenmacht aufbauen, die Basis stärken: Ihre sechste Konferenz »Gewerkschaftliche Erneuerung« findet vom 2. bis 4. Mai in Zeiten von Aufrüstung, »Kriegstüchtigkeit« und Angriffen auf das Streikrecht statt. Ein deutliches Spannungsfeld.Fanny Zeise: Das ist »Gegenmacht im Gegenwind«, unser diesjähriges Motto. Es sind schwierige Zeiten – und doch beobachten wir, dass sich mehr junge Leute für Gewerkschaften interessieren und aktiv werden. Auf der Konferenz können Gewerkschaftsaktive zusammenkommen, Strategien diskutieren und Erfahrungen austauschen. Das kann ein Anfang kommender Erfolge sein und dafür sorgen, dass sich der Wind auch wieder dreht.
Florian Wilde: Zur ersten Konferenz im Jahr 2013 kamen noch überwiegend hauptamtliche Gewerkschafter, mittlerweile kommen auch viele Ehrenamtliche. Wir wollen die Erneuerer und die Konfliktorientierung stärken und Austausch praktischer Erfahrungen quer durch alle Branchen ermöglichen. Natürlich ist es auch eine linke Konferenz – zugleich ist sie breiter, weil dort diskutierte Ideen, Methoden und Herangehensweisen praxisrelevant sind und eine große Ausstrahlung haben. Seit vielen Jahren beteiligen sich breite Koalitionen lokaler Gewerkschaftsgliederungen. Die Leute sollen mit neuem Wissen, neuen Ideen, Kontakten und Netzwerken, die relevant für ihre Praxis sind, nach Hause gehen.
Wann werden die Gewerkschaften erneuert sein?
F. W.: Da lässt sich kein Zeitpunkt nennen (lacht). Erneuerung soll die Gewerkschaften stärken und durchsetzungsfähiger machen. Dazu müssen sie partizipativer und demokratischer gestaltet werden. Das dauert – und ist nie vollendet. Es gilt, Verfahren zu erneuern; zu ändern, was stark aus der Sozialpartnerschaft der 70er Jahre stammt und sich bis heute als dysfunktional erweist. Der Kapitalismus wandelt sich – Gewerkschaften müssen sich immer wieder anpassen und verändern.
Wo müssen sich Gewerkschaften anpassen und wo auf Grundsätze berufen?
F. Z.: Zum aktuellen Umbau der Industrie erwarten Beschäftigte von Gewerkschaften eine umfassende, auch politische Antwort. Es gilt, auch den guten Organisationsgrad und vorhandene Stärke, etwa bei den Endherstellern in der Automobilindustrie, zu nutzen. Unser Programm legt einen Fokus auf Auseinandersetzungen für Sozialtarifverträge angesichts drohender Werksschließungen. Hier haben Streiks auch in schwieriger Lage zu Erfolgen geführt, die Betriebsräte allein nicht hätten erreichen können.
F. W.: Gewerkschaftsarbeit geht mit völlig neuen Playern auf dem Markt um, wie Amazon oder Tesla, die aggressiv gewerkschaftsfeindlich sind. Das gilt auch zunehmend für viele deutsche Konzerne. Da sind andere Methoden für Gegenmacht gefordert: Organizing ist hier ein wichtiges Element.
Was macht es so wichtig?
F. Z.: Organizing ist konfliktorientierte Gewerkschaftsarbeit, ursprünglich aus den USA und Großbritannien. Will man keine Stellvertreterpolitik machen und etwas Neues anstelle der Sozialpartnerschaft, müssen die Beschäftigten im Zentrum stehen. Wir müssen diskutieren, wie die Organisationsmacht aufgebaut werden kann.
Gewerkschaften verzeichnen seit Jahren sinkende Mitgliederzahlen. Verdi fand in einer Analyse heraus, dass sich viele Mitglieder nur etwa drei Jahre halten lassen. Hat das auch mit Organizing zu tun, oder kann es hier helfen?
F. Z.: Wird Organizing ernsthaft am Konflikt praktiziert, lässt Leute mit einer Rolle mitentscheiden und Selbstermächtigung spüren, treten sie sicher nicht gleich wieder aus. Eine Arbeitsgruppe befasst sich mit der Öffnung von Tarifverhandlungen für Beschäftigte. Etwa bei der Lufthansa wurde erfolgreich ein Modell erprobt, das die Zwischenstände der Verhandlungen mit der Belegschaft rückkoppelte. Ähnliches gab es auch in Kliniken, im öffentlichen Dienst und bei der BVG in Berlin.
F. W.: Das soll Gewerkschaften substantiell stärken und neue Strukturen schaffen, um das Gewicht vom Apparat stärker hin zu aktiven Basisstrukturen zu verlagern. Die Konferenzen der vergangenen Jahre konnten diese Ansätze weitertragen. Mittlerweile finden sich Organizing-Methoden in der gewerkschaftlichen Regelarbeit: ein ganz großer Schritt nach vorne! Organizing als Methodenbaukasten, um Mitglieder zu gewinnen, ohne Konflikte zu führen, wird aber langfristig nicht funktionieren.
Im öffentlichen Dienst gab es große Beteiligung bei Warnstreiks, Bereitschaft zumErzwingungsstreik – dann die Schlichtereinigung. Wie macht das eine erneuerte Gewerkschaft?
F. Z.: Schlichtungen treffen Tarifparteien ungleich. Die Arbeitgebervertreter bringen nichts ein, die Gewerkschaften müssen aber auf Streiks verzichten. Das demobilisiert die Bewegung, und die Gewerkschaft verliert die Hoheit über den Prozess. Trotz der Schlichtungsvereinbarung hat sich im öffentlichen Dienst aber viel getan: Der Machtaufbau im Betrieb wurde etwa mit Organizing und Arbeitsstreiks vorangetrieben. Aktive legten im Betrieb die Arbeit nieder, um die nächsten Streikaktionen zu organisieren und mit Kollegen über die Tarifrunde zu sprechen. Der Megastreiktag von Verdi im Verkehrsbereich zusammen mit der EVG 2023 war ein großer Fortschritt. Es gibt mehr Versuche, mutiger zu sein, mehr zu erreichen und wieder Streikmacht aufzubauen. Das ist dringend notwendig.
F. W.: Streik trägt zur Erneuerung bei und ist zentrales Mittel gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. Durch Kämpfe, etwa an der Berliner Charité, ist erwachsen, dass sich Mindestpersonalbemessung tarifieren lässt und man dafür streiken kann. Streik schien zum Zeitpunkt unserer ersten Konferenz im wissenschaftlichen und gewerkschaftlichen Diskurs unterbelichtet. Deshalb erhielt sie das Motto »Erneuerung durch Streik«.
Das Programm nennt die »Zeitenwende«, Krieg und Frieden aber nicht. Wie groß ist die Herausforderung der Gewerkschaft?
F. W.: Die ist zweifellos groß. Die Konferenz behandelt vor allem praktische Beispiele und Erfahrungen, und in dieser Frage gibt es aktuell nicht so viel. Es würde sich sonst stärker im Programm wiederfinden. Eine AG widmet sich aber aktuellen friedenspolitischen Initiativen. Die IG Metall hat eine starke friedenspolitische Tradition. Gleichzeitig könnten über die Rüstungswirtschaft in den durch die Transformationen erschütterten Branchen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wie damit umzugehen ist, muss dringend diskutiert werden.
Trotz friedenspolitischer Grundsätze tun sich Gewerkschaften mit einer klaren Antwortschwer.
F. Z.: Militärausgaben sind von der »Schuldenbremse« ausgenommen, gleichzeitig kommt ein Infrastrukturpaket. Werden jetzt Autobahnen gebaut, damit da Panzer drüberfahren, oder werden der ÖPNV und die Bahn ausgebaut? Hier sollten sich Gewerkschaften einbringen und auf gesellschaftliche Bündnispartner zugehen. Die Klimabewegung hat Verdi in der Tarifauseinandersetzung im Nahverkehr unterstützt, eigene Forderungen nach ÖPNV-Ausbau eingebracht. Mit der IG Metall könnte etwas Ähnliches beim Industrieumbau möglich sein, viele Geschäftsstellen sind dafür offen.
Rechte Politik in Betrieben und gewerkschaftsfeindlicher Rechtsruck sind ein Fokus der Konferenz. Was steckt dahinter?
F. W.: Die Ideologie der Rechten ist pures Gift für jeden Aufbau von Gegenmacht. Sich dem entgegenzustellen, ist eine existentielle Aufgabe. Gewerkschaftliche Erneuerung muss internationalistisch sein. Wir können dem globalisierten Kapitalismus nur entgegentreten, wenn alle Beschäftigten gemeinsam die Klassenauseinandersetzung führen. Der antifaschistische Gründungskonsens der deutschen Gewerkschaftsbewegung muss aufrechterhalten und verteidigt werden.
F. Z.: Gewerkschaften sind in den Belegschaften und auch in der eigenen Organisation mit rechten Einstellungen konfrontiert – etwa damit, dass einzelne Mitglieder in der AfD organisiert sind. Wie man mit dem »Zentrum«, mit rechten Listen bei Betriebsratswahlen umgeht, ist eine wichtige Frage. Mit wem muss man reden, um ihn rüberzuziehen? Und wen muss man ausgrenzen? Wie kann eine offensive und beteiligungsorientierte, demokratische Gewerkschaftsarbeit dem entgegenwirken und eine soziale, solidarische Alternative anbieten?
Veröffentlicht hier: https://www.jungewelt.de/beilage/art/498957