(Marxistische Blätter)
Durch Erneuerung in die Offensive.
Zehn Jahre Gewerkschaftskonferenzen der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Eine Zwischenbilanz.
Von Fanny Zeise und Florian Wilde.
Die Konferenzen gewerkschaftliche Erneuerung (umgangssprachlich: «Streikkonferenzen») sind wohl das in den Gewerkschaften am stärksten wahrgenommene Veranstaltungsformat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie behandeln verschiedene Facetten einer konflikt- und beteiligungsorientierten politischen Gewerkschaftsarbeit, knüpfen an aktuellen Auseinandersetzungen an und bearbeiten damit konkrete Fragen der Gewerkschaftsarbeit aktiver haupt- und ehrenamtlicher Kolleg*innen. Dabei steht die konkrete Praxis im Fokus. Über Erfahrungsberichte aus der Gewerkschaftsarbeit und die Diskussion mit den Teilnehmer*innen finden Reflexions- und Austauschprozesse über geeignete Strategien und Aktionsformen statt. Diese können so in anderen Branchen und Kontexten übernommen bzw. weiterentwickelt und angepasst werden. Dieser Prozess wird intensiviert, indem Gewerkschaftsforscher*innen ihre Forschungsergebnisse und ihren analytischen Blick in die gewerkschaftliche Debatte einbringen und ihrerseits von Diskussionen mit Praktiker*innen und Feldzugängen für weitere Forschung profitieren. Wichtig ist zudem der Vernetzungscharakter der Konferenz: Kolleg*innen einzelner Branchen tauschen sich überregional aus, diskutieren die konkreten nächsten Herausforderungen und können auch im Anschluss auf die neu geknüpften Kontakte zurückgreifen. Außerhalb des eigentlichen Konferenzprogramms nutzen zudem zahlreiche Initiativen die Möglichkeit für eigene Vernetzungstreffen am Rande der Konferenz.
Seit 2013 haben wir vier Konferenzen dieser Art in Stuttgart, Hannover, Frankfurt und Braunschweig zusammen mit einem von Konferenz zu Konferenz wachsenden Kreis regionalerGewerkschaftsgliederungen durchgeführt.
Die kommende 5. Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung vom 12. bis 14. Mai 2023 in Bochum wird von 15 Gewerkschaftsgliederungen mitgetragen, darunter neben lokalen Gliederungen von IG Metall, EVG, NGG, IG BAU, GEW und ver.di auch die Landesbezirke von ver.di und NGG. Außerdem wird die Konferenz Seitens der Gemeinsamen Arbeitsstelle RUB-IGM und des Instituts für soziale Bewegungen der RUB begleitet. Mit über 1400 Anmeldungen bereits Ende April verspricht sie, die größte links-gewerkschaftliche Konferenz seit Jahrzehnten in Deutschland zu werden.
Im Folgenden wollen wir die politischen Überlegungen hinter dieser Konferenz-Reihe sowie den Kontext ihrer Entstehung und ihre Entwicklung beleuchten.
Entstehung der LINKEN erweitert Spielräume für linke Gewerkschaftspolitik
Mit dem Zusammenschluss der wesentlich von westdeutschen Gewerkschafter*innen getragenen Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) mit der PDS zur Partei DIE LINKE im Jahr 2007 bekam auch die jahrzehntelang fast unangefochtene Hegemonie der SPD in den Gewerkschaften Risse. Von der Politik der Sozialdemokraten enttäuschten Gewerkschafter*innen stand endlich eine parteipolitische Alternative zur Verfügung. Die Linke fungierte als aktives Sprachrohr gewerkschaftlicher Positionen in Parlament und Gesellschaft und schrieb sich die tatkräftige Unterstützung gewerkschaftlicher Aktivitäten auf die Fahne. Neue Spielräume und mehr Ressourcen für linke Gewerkschaftspolitik taten sich auf. 2011 wurde eine erste Referentenstelle für das Themenfeld Gewerkschaften in der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) geschaffen und dort im Institut für Gesellschaftsanalyse angesiedelt.
Gewerkschaftliche Defensive und Erneuerung
Der Fokus der Gewerkschaftsarbeit in der RLS lag von Beginn an auf dem Thema gewerkschaftliche Erneuerung. Denn die Lage der Gewerkschaften war angesichts mehrerer Jahrzehnte gewerkschaftlicher Defensive und Mitgliederverlusten schlecht und machte eine Überwindung tradierter Routinen und Strategien zunehmend erforderlich.
Politische «Reformen» zu ihren Lasten, wie die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Privatisierungen und die Zersplitterung des Flächentarifs im öffentlichen Dienst hatten die Gewerkschaften immens geschwächt. Gleichzeitig kündigte die Kapitalseite in vielen Bereichen die Sozialpartnerschaft mit den Gewerkschaften auf. Vielerorts wurden Gewerkschaften in neue betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen gezwungen, auf die sie nicht vorbereitet waren. Aggressive Union-Busting-Strategien der Arbeitgeber waren keine Seltenheit mehr. Bestehende sozialpartnerschaftliche Strukturen entwickelten sich unter den veränderten Kräfteverhältnissen zunehmend in Richtung einer Wettbewerbspartnerschaft.
Angesichts dieser Situation begann Ende der 2000er Jahre eine wissenschaftliche Debatte, die die schwindenden Machtressourcen der Gewerkschaften analysierte und sich mit ihren strategischen Optionen in dieser Lage beschäftigte. Angesichts des Rückgangs ihrer institutionellen Macht, so eine These des Teams junger Wissschaftler*innen um den Lehrstuhl von Klaus Dörre in Jena, seien sie gut beraten ihre Organisationsmacht – also die kollektive Handlungsfähigkeit ihrer Mitglieder – ausbauen[1]. Zugleich erprobten einzelne Gewerkschafter*innen neue Handlungsperspektiven. Dafür stand unter anderem der Organizing-Ansatz, mit dem seit Mitte der Nullerjahre versucht wurde, Erfahrungen amerikanischer Gewerkschaften mit systematischer und konfliktorientierter Organisierungsarbeit auf die Situation in Deutschland zu übertragen.
Mit unseren Konferenzen wollten wir der Erneuerungsbewegung in den Gewerkschaften eine Plattform für Austausch und Vernetzung bieten und sie zugleich mit der wissenschaftlichen Erneuerungsdiskussion zusammenbringen.
Herangehensweise: An der Praxis ansetzen
Mit den Konferenzen zu gewerkschaftlicher Erneuerung gelang es ab 2013, engagierte Gewerkschafter*innen anzusprechen, die in ihrer Praxis vor großen Probleme standen, auf die ihre Organisation keine Antwort hatte. Sie boten und bieten damit gewerkschaftlich Aktiven einen Raum des Austausches und handlungsrelevante Anregungen für die Herausforderungen ihrer alltäglichen Arbeit. Die Ausrichtung an praktisch relevanten Themen ermöglicht es zudem, Gewerkschafter*innen mit sehr geringem Zeitbudget anzusprechen. Zu den Erfolgsrezepten der Konferenzen gehört, dass sie nicht ideologisch-programmatische Fragen zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Herausforderungen der tagtäglichen Gewerkschaftsarbeit und das breit geteilte Bedürfnis nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Dadurch kann sie Anschlussfähigkeit über die klassischen linksgewerkschaftlichen Milieus hinaus erreichen sowie eine gewerkschafts- und generationenübergreifende Ausstrahlung entfalten. Wichtig ist dabei auch, dass kritische Positionen nicht sektiererisch und rückwärtsgewandt, sondern solidarisch, vorwärtsgewandt und im Sinne einer Stärkung der Gewerkschaften formuliert werden. So konnte sich um die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihre Konferenzen im Laufe der Zeit eine Art gewerkschaftliche Such- und Erneuerungsbewegung etablieren.
Mittlerweile ist in den Gewerkschaften die Notwendigkeit der Stärkung der Organisationsmacht mittels neuer Herangehensweisen breit akzeptiert. Dies zeigt sich auch darin, dass mittlerweile Spitzenfunktionäre auf den Konferenzen sprechen, bei ihnen Anregungen suchen und die Relevanz dieser Veranstaltungen interessiert zur Kenntnis nehmen. Dennoch ist eine Umorientierung in der gewerkschaftlichen Praxis noch lange nicht abgeschlossen, die Defensive nicht überwunden und der Bedarf nach Impulsen für eine offensive Gewerkschaftsarbeit weiterhin hoch.
Neue Impulse für linke Gewerkschaftsarbeit
Die neue Offenheit für Veränderung in den Gewerkschaften macht Diskussionen zu ihrer Ausrichtung umso wichtiger. Die RLS versucht dabei im Gegensatz zu Ansätzen stärkerer Mitgliederorientierung und Formen des Organizing, die weniger inhaltliche als vielmehr nur methodische Neuerungen mit sich bringen, den Gehalt einer erneuerten Gewerkschaftspraxis inhaltlich als konfliktorientiert, demokratisch und politisch zu beschreiben:
- Konfliktorientierung oder offensive Gewerkschaftsarbeit meint die Bereitschaft zum Konflikt angesichts des grundlegenden Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit und die Einsicht, dass angesichts der Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der Beschäftigten die reine Androhung eines Arbeitskampfs oftmals nicht mehr ausreicht.
- Eng verknüpft mit einer Stärkung der Konfliktfähigkeit ist eine demokratische oder beteiligungsorientierte Gewerkschaftsarbeit, da von ihr Motivation, Engagement und Einheit der Kolleg*innen in den jeweiligen Auseinandersetzungen abhängt. Demokratische Beteiligung und das Gefühl von kollektiver Selbstermächtigung sind zudem ein zentrales Element einer Demokratisierung der Gesellschaft.
- Politische Gewerkschaftsarbeit meint, die politische bzw. gesellschaftliche Ebene eines Konflikts mitzudenken und zu artikulieren, um beispielsweise Druck auf Regierungen auszuüben, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen oder gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die großen aktuellen und künftigen Herausforderungen der Gewerkschaften bedürfen einer Politisierung der Auseinandersetzungen. Sowohl die Unterfinanzierung des öffentlichen Dienstes, die Prekarisierung weiter Teile der Arbeitsverhältnisse in Deutschland als auch die Transformation in der Industrie werden nicht allein durch die Tarifparteien gelöst werden können, sondern müssen auf der politischen Ebene angegangen werden.
Zentral für unsere Herangehensweise ist daher, das gewerkschaftliche «Kerngeschäft» der Tarif- und Betriebsarbeit und das politische Mandat als untrennbar zusammen gehörig zu begreifen. Darin markiert das politische Mandat den Anspruch, die politische Vertretung der Interessen der Beschäftigten offensiv – und auf den unterschiedlichsten Ebenen – mitzudenken und umzusetzen. Tarifliche und betriebliche Konflikte sind immer auch politische Auseinandersetzungen, weil sie das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit bearbeiten. Sie tasten die Herrschaftsstruktur im Betrieb an, eröffnen kollektive Handlungsperspektiven, setzen Bewusstseins- und Emanzipationsprozesse in Gang und können eine Politisierung der Auseinandersetzung und Bündnisse mit betroffenen Bevölkerungsgruppen und linken Aktiven und Parteien ermöglichen. Dieser Zusammenhang wird im Bereich des öffentlichen Dienstes besonders deutlich, wo sich die Austeritätspolitik unmittelbar in Personalmangel, Arbeitszeitverdichtung, prekärer Beschäftigung und geringen Lohnsteigerungen niederschlägt. Eine Bearbeitung gewerkschaftlicher Anliegen auch auf der politischen Ebene ist nicht nur naheliegend, sondern auf Grund der oftmals harten Haltung der öffentlichen Arbeitgeber oft auch notwendig, da in vielen Bereichen durch Arbeitsniederlegung kein oder nur geringer ökonomischer Druck ausgeübt werden kann. Die politische Natur der Auseinandersetzungen im Bereich sozialer Dienstleistungen ermöglicht gesellschaftliche Bündnisse mit den Nutzer*innen dieser Leistungen, aber auch mit der LINKEN als parteipolitischem Akteur. Aus linker Perspektive liegen im gewerkschaftlichen «Kerngeschäft» der Betriebs- und Tarifpolitik daher erhebliche Potentiale für gesellschaftliche Veränderungen, die in der Gewerkschaftsarbeit der RLS eine wichtige Rolle einnehmen.
Bereicherung der Organizing-Debatte
Zur «Streikkonferenz» 2019 in Braunschweig hatte die US-amerikanische Organizerin Jane McAlevey ihren ersten Auftritt in Deutschland – und konnte seit dem wichtige Impulse für die Diskussion und Praxis des Organizing hierzulande liefern. Dazu versuchten wir auch durch die Publikation ihrer Bücher «Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing» (2019) und «Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie» (2021, von RLS und IG Metall Jugend gemeinsam herausgegeben) beizutragen.
Im Zentrum dieses Organizing-Ansatzes steht die Aktivität der Beschäftigten selbst. Dafür steht unter anderem der der Versuch, nicht nur die ohnehin mit einer Gewerkschaft sympathisierenden Kolleg*innen zu Aktionen zu mobilisieren, sondern systematisch auch die neutral bis gewerkschaftsfeindlich gesinnten Kolleg*innen für Gewerkschaftsarbeit zu gewinnen, um durch den Aufbau einer handlungsfähigen Mehrheit im Betrieb andere Formen der Kampffähigkeit zu erzielen. Außerdem plädiert er für die möglichst synchrone Kündigung von Tarifverträgen möglichst im Kontext gestiegener gesellschaftlicher Aufmerksamkeitsfenster wie etwa Wahlkämpfen, um gemeinsam in Auseinandersetzungen zu gehen und so maximalen ökonomischen und politischen Druck zu entfalten. Auch international stießen ihre Methoden auf viel Interesse und große Begeisterung: An den im Anschluss an die Braunschweiger Konferenz von der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgelegten «Organizing for Power»-Online-Trainingsprogramm nahmen bisher etwa 30.000 Teilnehmer*innen aus 134 Ländern teil. Zur Bochumer Konferenz wird die RLS eine Broschüre mit Texten von Jane McAlevey zur Machtaufbau in Tarifverhandlungen durch die möglichst große und direkte Beteiligung der Beschäftigten am Verhandlungsprozess vorlegen.
Ausblick
Wir rechnen damit, dass die Bochumer Gewerkschafskonferenz die seit Jahrzehnten größte links-gewerkschaftliche Konferenz in Deutschland werden und mit neuen innergewerkschaftlichen Vernetzungen von konflikt- und erneuerungsorientierten Haupt- und Ehrenamtlichen Impulse für eine offensive Gewerkschaftsarbeit liefern wird. Sie fällt dabei in eine Zeit zunehmender Streikbewegungen. So ist aktuell noch offen, ob die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst nicht sogar zum ersten Vollstreik seit über 30 Jahren führen wird. Fakt ist bereits, dass Anstrengungen zur Revitalisierung der Tarifrunde mit Ansprachetrainings, Tarifbotschafter*innen und Arbeitsstreiks – zusammen mit einer offensiven Forderung nach Reallohnsicherung – zu starken Warnstreiks und hohen Mitgliederzuwächsen geführt haben. [2]
Auch das Zukunftsthema des sozial-ökologischen Umbaus wird weiter an Relevanz zunehmen. So steht Anfang 2024 die Tarifrunde Nahverkehr an, die ver.di im Bündnis mit der Klimabewegung als eine politische Auseinandersetzung für eine sozial-ökologische Verkehrswende angehen will, während gleichzeitig viele Kämpfe gegen Betriebsschließungen und Beschäftigungsabbau im Bereich der IG Metall geführt werden. Diese und viele andere Auseinandersetzungen und Themen einer offensiven Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Krise, Klima und Inflation werden Gegenstand der Bochumer Konferenz sein. Sie dürfte dabei nicht die letzte Konferenz in dieser Reihe bleiben, denn: Auch wenn schon wichtige Schritte gegangen wurden, wird die Suche nach einer Erneuerung der Gewerkschaften weitergehen, und damit auch der Bedarf nach solchen Veranstaltungen.
Dieser Text erscheint in der Zeitschrift Marxistische Blätter, Ausgabe 2023/03.
[1] Ulrich Brinkmann u.a.: Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Wiesbaden, 2008.
[2] Ver.di spricht von 70.000 Eintritten in den ersten drei Monaten des Jahres 2023.