Ein Trotzki zum Liebhaben

(marx21)

Vor 84 Jahren ließ Stalin den russischen Revolution Leo Trotzki ermorden. Ein neues Buch bietet teils intime Blicke in den Alltag Trotzkis vor seinem Tod während seiner letzten Exil-Station in Mexiko. Von Florian Wilde. 

Das Buch »Kein Gedicht für Trotzki« von Alice Rühle-Gerstel bietet Tagebuchaufzeichnungen mit persönlichen, teils geradezu intimen Einblicken in den Alltag des russischen Revolutionärs Leo Trotzki während seiner letzten Exil-Station in Mexiko. Alice Rühle-Gerstel, Schriftstellerin, Übersetzerin und Frau des linkssozialistischen Politikers und Pädagogen Otto Rühle, lebte zu dieser Zeit in Mexiko und war eine enge Freundin von Trotzki.

Stalins Terror

Es sind die Jahre des Großen Terrors in der Sowjetunion, in dem Stalin die bolschewistische Partei Lenins physisch liquidierte, und der Moskauer Prozesse, in denen die alten Führer der Bolschewiki, oft enge Freunde und Kampfgenossen Trotzkis, unter der Folter zusammenbrechen, die absurdesten Anschuldigungen zugeben und hingerichtet werden. Drei Kinder Trotzkis hat Stalin zu diesem Zeitpunkt bereits ermorden lassen, sein Sohn Leo sollte bald folgen. Die Tagebuch-Autorin Alice Rühle-Gerstel zitiert Trotzkis Frau Natalia: »In der Nacht können wir nicht schlafen und dann sprechen wir von den Kindern und dann sind wir traurig.«

Ein anderes Bild von Trotzki

Alice Rühle-Gerstel ist selbst keine Trotzkistin, auch wenn sie als Jugendliche ein Porträt des Organisators der Oktoberrevolution über ihrem Bett hängen hatte und voller Bewunderung für seinen Kampf gegen Stalins Despotie ist. Sie ist eine unabhängige, psychoanalytisch geprägte Sozialistin, mit einem eigenen Blick auf die Dinge, und auf Trotzki selbst. Ihre Schilderungen des alternden Revolutionärs stehen in einem bemerkenswerten Kontrast vom so oft von diesem brillanten Autor und Redner vermittelten Bild eines hyperinellektuellen, unterkühlten Strategen: »Äußerlich und im Wesen nicht gerade jung, noch weniger ›erwachsen‹ – wie ein altes Kind. Es ist ein Mensch, dem ich mich sofort auf den Schoß setzen und die Arme um den Hals legen möchte… dass er auch ein Mann ist, fällt einem überhaupt nicht ein; und gar ein Held? Wir haben solche Lesebuchvorstellungen von Helden. Ein lieber, netter Mensch zum Liebhaben.«

Ein Trotzki zum Liebhaben

Immer wieder kommt sie auf dieses Motiv zurück: das kindlich-vergnügte, heitere, freundliche, rücksichtsvolle, von den Jahren des Exils ungebrochene Wesen Trotzkis, mit dem sie bald eine enge Freundschaft verbindet und der sie, als sie am Masern erkrankte, täglich anrief, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Auch hier ist ihre Schilderung erstaunlich: Gemeinhin gilt Trotzki als jemand, der die Politik über alles, auch über Freundschaften, stellte, und seinem oft sektiererischen politischen Kurs dieser Jahre alles Private zu opfern bereit war. Zwar schreibt auch Alice: »Trotzkis Privatleben ist die Revolution.« Aber die Freundschaft zu den Rühles stellt Trotzki offensichtlich über alle, gelegentliche vorsichtig andiskutierten, politischen Differenzen, bspw. in der Frage, ob die Sowjetunion als staatskapitalistisch einzuschätzen sei.

Dabei ist ihr Blick auf ihn nicht unkritisch: »Trotzki ist etwas altmodisch, ein kühner Geist in engem Geleise. Das Geleise hat er sich als junger Mensch gelegt, darin fährt er nun – alle Veränderungen geschehen nur in Bezug auf bessere Sicherheit des Unterbaus…«.

Die Marroten von Trotzki

Zunehmend übernimmt sie Aufgaben in dem zu einer Festung umgebauten Haus des Malers Diego Rivera, in dem Trotzki damals lebt, von Mitarbeitern und Wachen umgeben, auf jedem Tisch zur Verteidigung gegen stalinistische Auftragsmörder einen Revolver liegend. Sie übersetzt für ihn und sichtet seine alten Korrespondenzen mit Lenin und aktuelle mit seiner 4. Internationale.

Entsetzt reagiert sie auf seinen sektiererischen, gehässigen und geradezu arroganten Ton, seinen Hang, sich in Kleinigkeiten zu verheddern, worin sie einen »Reinlichkeitsfanatismus, hier auf das Organisatorische Übertragen« erkennt. So weigert sie sich schließlich, ein Gedicht auf Trotzkis 4. Internationale zu verfassen.

Szenen aus dem Alltag

Ihre Schilderungen fördern dabei immer wieder erstaunliches zutage, so die Szene, als Trotzki von einem Verlag für einen biographischen Beitrag über Karl Marx angefragt wird – und der große Marxist geradezu ängstlich reagiert und die Rühles um Hilfe bittet, weil er sich so lange nicht mit Marx beschäftigt habe und nun Angst hat, an seinen eigenen Ansprüchen an sich selbst als Autor zu scheitern.

Gerahmt wird die Erzählung von wichtigen Ereignissen dieser Zeit, vor allem der Arbeit einer von führenden liberalen US-amerikanischen Intellektuellen besetzten Kommission, die die absurden Anschuldigungen der Moskauer Prozesse gegen Trotzki öffentlich minutiös untersucht und ihn schließlich von ihnen freispricht.

Intime Einblicke

Leider reißen die Tagebuchaufzeichnungen 1939 ab und reichen nicht mehr bis zu Trotzkis Ermordung in Stalins Auftrag. Stand dahinter schließlich doch ein politisches Zerwürfnis der beiden? Oder haben die Aufzeichnungen die Exilzeit schlicht nicht überdauert?

Lesenswert sind die erhaltenen Tagebucheinträge allemal für alle, die einen ungewohnten, privaten und intimen Einblick in Trotzkis letzten Jahre aus der Feder einer in Vergessenheit geratenen Sozialistin erleben wollen.

Trotzki

Das Buch »Kein Gedicht für Trotzki« von Alice Rühle-Gerstel erschien 2021 im Manifest-Verlag, musste wegen Urheberrechts-Streitigkeiten aber leider wieder aus dem Verlagsprogramm genommen werden und ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Mehr von Florian Wilde gibt es auf seinem Blog.

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