El Salvador: Revolutionäre Organisationen und Klassenkämpfe (1969-89)

(unveröff. Hausarbeit WS 2001)

EL SALVADOR: Revolutionäre Organisationen und Klassenkämpfe (1969-89)

  1. Einleitung
  2. Ökonomische und politische Rahmenbedingungen
  3. Entstehung der revolutionären Linken
  4. Der Wahlbetrug 1972
  5. Die Radikalisierung der Campesinos
  6. Die Volksorganisationen
  7. Auf dem Weg zur revolutionären Krise
  8. Die Revolution in Nicaragua und die direkten Folgen
  9. Das Militär putscht
  10. Doppelherrschaft
  11. Niederlage
  12. Schluss: Eine verpasste revolutionäre Situation
  1. Einleitung

Nachdem die nicaraguanische Revolution mit dem Einzug der Sandinisten in Managua am 19.Juli 1979 siegreich geendet hatte, wurde ein Übergreifen der Revolution auf weitere zentralamerikanische Länder allgemein je nach politischer Einstellung erwartet oder befürchtet. Als nächstes schien die Reihe an El Salvador zu sein. Bereits seit Mitte der 70er Jahre befand sich das Land in einer tiefen politischen Krise. Bis Ende der 70er Jahre war die revolutionäre Linke in El Salvador zu einer Massenbewegung geworden, die Hunderttausende mobilisieren konnte. Die Revolution in Nicaragua wurde von der salvadorianischen Linken enthusiastisch begrüßt. Ein weitverbreiteter Slogan war „Si Nicaragua vencio, el Salvador vencera“1 – wenn die Revolution in Nicaragua gesiegt hat, wird sie auch in El Salvador siegen. Doch die Revolution in El Salvador scheiterte. Zwar schwoll die revolutionäre Bewegung in El Salvador, durch den Erfolg in Nicaragua inspiriert, bis zu ihrem Höhepunkt im Frühjahr 1980 weiter an – um dann in den Städten vernichtend geschlagen zu werden. Die Linke musste sich aufs Land und in die Berge zurückziehen, von wo aus sie als FMLN einen zehnjährigen Guerilla-Kampf gegen die rechte Regierung des Landes führte.

Thema dieser Arbeit ist die Entwicklung der revolutionären Linken in El Salvador bis zu ihrer Zerschlagung in den Städten 1980und somit die Geschichte einer gescheiterten Revolution. Die Gründe dieses Scheiterns sollen im Folgenden untersucht werden. Besondere Beachtung sollen dabei die Auswirkungen der Revolution in Nicaragua auf den Verlauf des revolutionären Prozesses in El Salvador haben. Denn die Revolution in Nicaragua (Thema meiner Gruppe im Hauptseminar) inspirierte nicht nur die Revolutionäre des Nachbarlandes, sie beeinflusste auch notwendigerweise stark die programmatischen und strategischen Vorstellungen der Linken El Salvadors. Die in El Salvador schon seit Jahren geführte Auseinandersetzung über die Frage, ob eine künftige Revolution ihrem Charakter nach eine demokratisch-antiimperialistische oder eine sozialistische sein würde, wurde durch den Erfolg einer demokratisch-antiimperialistischen Revolution in Nicaragua wieder hochaktuell, die Revolutionskonzeption der Sandinisten schließlich übernommen. Die Auswirkungen der Übernahme des nicaraguanischen Modells auf die Entwicklung in El Salvador soll daher ebenfalls untersucht werden. Hinter der Frage nach demokratischer oder sozialistischer Revolution, die hier nur im konkreten zentralamerikanischen Kontext behandelt wird, steht letztlich die alte revolutionstheoretische Auseinandersetzung Etappentheorie vs. permanenter Revolution.

Ein besonderes Gewicht bei der Darstellung und Untersuchung des Prozesses in El Salvador wird in dieser Arbeit auf die Auseinandersetzung mit den „Volksbefreiungskräften“ (FPL) und der ihr nahestehenden Volksorganisation „Volksrevolutionärer Block“ (BPR) gelegt. Denn auf der einen Seite waren dies die bedeutendsten revolutionären Kräfte in der politischen Krise der späten 70er und frühen 80er Jahre (der BPR hatte zu dieser Zeit ca.100.000 Mitglieder)2. Auf der anderen Seite sind sie ideengeschichtlich besonders interessant, vertraten sie doch bis zum Höhepunkt der Ereignisse in El Salvador ein gänzlich anderes Revolutionskonzept als das nicaraguanische, welches sich dann schliesslich durchsetzte. Und die FPL verkörperte, wie in Folgenden gezeigt wird, zumindest in Ansätzen eine authentische marxistische Tradition, indem sie für die Selbstemanzipation der Unterdrückten und der Zentralen Rolle der Arbeiterklasse in diesem Prozeß stand – eine Tradition, die im restlichen Lateinamerika der 70er Jahre eine bestenfalls marginale Rolle spielte.

Zum Thema El Salvador erschien in den 80er Jahren eine wahre Flut von Aufsätzen, Büchern, Sammelbänden. Nur eine kleine Auswahl deutsch- und englischsprachiger Titel konnten für diese Arbeit verwendet werden. Eine sehr aufschlußreiche Gesamtdarstellung der Entwicklung in El Salvador bis 1980 ist Manfred Heckhorns Werk „Die Enkel des Jaguar“3. Ähnlich, aber noch ausführlicher ist Philip Russells „El Salvador in Crisis“4. Die Auswirkungen der nicaraguanischen Revolution thematisiert Mike Gonzales in dem Aufsatz „Central Amerika after the Arias Plan“. Seine These ist, dass gerade die Übernahme der sandinistischen Konzeption in die Niederlage in El Salvador führte. Gozales wie auch Russell und Heckhorn heben besonders die Rolle von FPL und BPR hervor. Zur Geschichte der FPL besonders interessant ist das Buch „Unsere Berge sind die Massen“5, in dem des FPL-Gründers Carpio aus den frühen 80er Jahren zu finden sind. Zahlreiche Dokumente aus der salvadorianischen Linken sind bei dem von Wolfang Brönner herausgegebenen Buch: „El Salvador – die unsichtbare Front“6 abgedruckt. Weitere Dokumente, Interviews mit führenden Figuren der Linken sowie Analysen entnahm ich einer Sondernummer der Lateinamerika-Nachrichten vom Mai 1980.7 Viele Fakten über die ökonomischen Rahmenbedingungen der 70er Jahre finden sich in Harald Jungs Aufsatz „Class strugle and Civil War in El Salvador“8.

  1. Ökonomische und politische Rahmenbedingungen

Noch in den 70ern war El Salvador ein sehr stark agrikulturell geprägtes Land. 1974 hatte die Landwirtschaft einen Anteil am BIP von 26%, 1977 machten landwirtschaftliche Erzeugnisse fast 80% des Exportes aus.9 Über 60% der Bevölkerung (von insgesamt 4,1 Mio. Einwohnern [1975]) lebten auf dem Land. Harald Jung schreibt daher: „The rural sector is thus of fundamental importance for all political developments.“10In den 50er und 60er Jahren wurden zahllose Kleinbauern durch Großgrundbesitzer von ihrem Land vertrieben. Gleichzeitig nahm die Zahl der fest in der Landwirtschaft Beschäftigten rapide zugunsten von Saisonarbeitern ab. 64% der bäuerlichen Familien waren daher in den späten 70ern Saisonarbeiter ohne eigenen Landbesitz. Parallel dazu nahm die Konzentration von Landbesitz in den Händen weniger Familien dramatisch zu: 1971 besaßen die sechs reichsten Großgrundbesitzerfamilien soviel Land wie 80% der Landbevölkerung zusammen.11

Im Laufe der 50er und v.a. der 60er Jahre transformierte sich ein Teil der Landoligarchie zu industriellen Kapitalisten. Denn gerade die Familien, die durch die Landwirtschaft zu Geld gekommen waren, finanzierten den Industrialisierungsschub der 60er Jahre. 12 Daher waren im El Salvador der 70er Jahre ländliche Oligarchie und städtische Bourgeoisie oft personell identisch. 14 gleichzeitig in Landwirtschaft, Finanzsektor und Industrie involvierte Familien dominierten das Land.13

Durch den wirtschaftlichen Boom der 60er Jahre hatte es in den Städten ein deutliches Wachstum v.a. der Mittelschichten, aber auch der Arbeiterschaft gegeben. Sie umfasste in den späten 70ern 27% aller wirtschaftlich aktiven Städter.14 Gleichzeitig war die Zahl der städtischen Marginalisierten in den 60ern rapide gewachsen und umfasste in den 70ern bereits weit über 100.000 Menschen, vor allem in Slums lebenden Straßenverkäufern, Schuhputzern und Kleinkriminellen.

Auf der politischen Ebene wurde El Salvador seit den 30er Jahren durch eine enge Arbeitsteilung von Militärs und Bourgeoisie geprägt. Dieses spiegelte sich auch in den Regierungen des Landes wieder, in denen das Militär die politisch wichtigen Minister stellte, während Vertreter der Bourgeoisie die wirtschaftlich relevanten Ministerien besetzten.15 Diese Allianz blieb bis in die späten 70er Jahre im wesentlichen trotz aller Regierungswechsel und Putsche intakt. Spannungen zwischen eher reformorientierten und rein repressiven Teilen von Militär und Bourgeoisie wurden nach Möglichkeit im Rahmen dieser Allianz gelöst. Im Zuge des Aufschwungs der 60er Jahre gab es eine leichte Liberalisierung des politischen Systems in den Städten. Dieses führte auf der einen Seite zum Wachstum von Gewerkschaften, auf der anderen Seite zu einem Aufstieg der Christdemokratie als politischem Ausdruck der reformorientierten Mittelschichten.16 Auf dem Lande hingegen wurden alle gewerkschaftlichen Bestrebungen brutal unterdrückt. Auf Initiative der Großgrundbesitzer wurde in den frühen 60ern die paramilitärische ORDEN-Organisation zur Unterdrückung oppositioneller Kräfte gegründet.

Als Antwort auf die verkrustete politische Situation und die zunehmende Verarmung von (Land-)arbeitern und marginalisierten Slumbewohnern entstand in den frühen 70er Jahren eine revolutionäre Linke. Sie konnte sich notwendigerweise nur in der Illegalität organisieren. Aus diesen anfangs sehr kleinen Organisationen wurde durch die Polarisierung der salvadorianischen Gesellschaft in den 70er Jahren eine Kraft, die die politischen und ökonomischen Verhältnisse des Landes in ihren Grundfesten erschüttern konnte.

  1. Entstehung der revolutionären Linken

Anfang der 70er Jahre entstanden zwei neue revolutionäre Organisationen in El Salvador, die FPL-FM (Volksbefreiungsfront – Farabundo Martin17) und das „Revolutionäre Volksheer“ ERP.18 Während die FPL aus einer Linksabspaltung der Kommunistischen Partei hervorging, liegen die Wurzeln des ERP in der christdemokratischen Jugend.

Gegründet wurde die FPL durch Salvador Carpio. Carpio war jahrelang Generalsekretär der Kommunistischen Partei El Salvadors (PCS) und ein Führer der Bäckergewerkschaft gewesen und bei militanten Arbeitern sehr populär19. In den 60er Jahren hatte er in der PCS einen langen Kampf gegen den Bürokratismus und Legalismus der Partei und ihre Bündnispolitik geführt und war für eine radikalere und kämpferische Politik eingetreten20. Unter seiner Führung gelang es der PCS innerhalb kurzer Zeit, den Einfluß in den Gewerkschaften zu vervielfachen und eine Reihe erfolgreicher Streiks anzuführen.21

1969 trat er aus der Kommunistischen Partei aus und gründete 1970 die FPL. Anlaß für seinen Bruch mit der PCS war der irrwitzige „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador, in dem die jeweiligen kommunistischen Parteien „ihre“ Regierung unterstützten.

Grundsätzlich war die Politik der PCS (wie auch der anderen an Moskau orientierten Kommunistischen Parteien Lateinamerikas) auf Allianzen mit dem „fortschrittlichen, antiimperialistischen Bürgertum“ ausgerichtet, an es angelehnt und beinhaltete letztlich eine Unterordnung der Interessen der Arbeiterklasse unter die des „fortschrittlichen“ Bürgertums22. Sie vertrat damit die sogenannte Etappentheorie, wie sie von fast allen moskauhörigen Parteien proklamiert wurde: Der Weg zu Sozialismus führe über die Etappe der bürgerlichen Revolution und dann durch eine lange Phase bürgerlicher Demokratie, die gemeinsam von Arbeiterklasse und fortschrittlichem Kleinbürgertum erkämpft werden müsse.23 Die Linke und die Arbeiterbewegung müssten daher von allen radikalen Positionen abstand nehmen, um die potenziellen Bündnispartner nicht zu verschrecken.

Die Carpio und mit ihm die FPL hingegen vertraten die These, daß es keinen Gegensatz zwischen der antiimperialistischen und der sozialistischen Revolution gäbe, sondern die eine direkt mit der anderen verknüpft sei und in sie übergehen müsse, also gleichsam permanent seien müsse24. Carpio kritisierte denn auch rückblickend (in einem Text von 1981) an der PCS, dass „ihre Linie nicht darauf ausgerichtet war, die Revolution in Richtung Sozialismus voranzutreiben, sondern darauf, die bürgerliche Demokratie und den bürgerlichen Reformismus zu etablieren. Folglich waren sie den Interessen der Bourgeoisie in dieser Phase vollkommen ergeben und vergaßen jene des Proletariats – den Sozialismus.“25

Der dritte Grund für den Bruch mit der PCS war deren Weigerung, den bewaffneten Kampf als Ergänzung zum politischen Kampf zu führen. Neben ihrer Kritik am reformistischen und nationalistischen Kurs der PCS forderte die FPL daher eine politisch-militärische Strategie mit dem Ziel des Aufbaus einer revolutionären Massenbewegung, wobei „das Politische das Grundlegende ist, … das Militärische dem Politischen untergeordnet und Teil der politischen Seite des Klassenkampfes ist“26, so Carpio. Mit ihrer „politisch-militärischen“ Strategie versuchte die FPL einen Weg zwischen dem bürokratischen Legalismus der PCS und der rein militärischen Perspektive vieler lateinamerikanischer Guerillagruppen zu finden. Die FPL verstand sich nicht als bewaffnete Elite, die den Kampf um Befreiung für das Volk führt. Salvador Carpio meinte dazu später in einem Interview: „Wir waren uns bewusst, daß das Volk den Krieg führen muss und die bewaffneten Gruppen keine Elite darstellen dürfen, keine von den Massen losgelösten Helden, die dem Volk die Arbeit der Revolution abnehmen. … [Wir waren uns] bewußt, daß notwendigerweise das Volk diese Sache in seine Hände nehmen und zum eigentlichen Träger des bewaffneten Kampfes werden müßte.“27

Die Bedeutung dieser Ideen der FPL muß vor dem Hintergrund des politischen Kontextes der lateinamerikanischen Linken gesehen werden. Jahrzehntelang hatte die stalinistische Tradition, vermittelt über die Kommunistischen Parteien, die Linke mit ihren reformistischen Vorstellungen einer Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften und der damit verbundenen Zurückweisung jeder revolutionären Politik dominiert. In Abgrenzung zu dieser Tradition war ab 1959 der Guevarismus als eine neue, revolutionäre Strömung entstanden. Allerdings setzte diese Strömung auf von den Massen getrennte Guerillaorganisationen, die stellvertretend für die Arbeiter und Bauern die alten Regime stürzen und eine neue Gesellschaft nach kubanischem Modell errichten sollten. Der Arbeiterklasse war im Guevarismus keine eigenständige Rolle zugedacht.

Die authentische marxistische Tradition, in deren Zentrum die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse auf dem revolutionären als einzig möglichen Wege steht, hatte in Lateinamerika seit Jahrzehnten quasi keinen organisierten Ausdruck gefunden.28

Und nun tauchte mit der FPL eine Kraft auf, die für sich in Anspruch nimmt, ihre ganze Politik von dem „marxistischen Axiom“ abzuleiten, „dass das Volk selbst die Revolution machen müsse. Auch eine authentische marxistische Partei kann das Volk nicht ersetzen,… sondern ist nichts als ein Instrument, das dem Volk die Durchführung der Revolution ermöglicht.“29 Rückblickend schrieb Carpio 1981: „Wenn man schon 1970 die Macht hätte übernehmen wollen, hätte man notwendigerweise einen Putsch durch die Hand einiger vom Volk isolierter Helden konzipieren müssen, die zu den Waffen gegriffen und das Volk errettet hätten und die das Volk heute als Retter verehren würde. Das wäre reines Abenteuertum und purer Elietismus gewesen, ein kleinbürgerliches Konzept einer vom Volk, von den Massen, vom Proletariat abgehobenen Elite. Das Konzept unserer Organisation ist hingegen eine marxistische: Das Volk, nicht irgendeine Elitegruppe macht die Revolution.“30 Im Zentrum der Überlegungen der FPL stand die Arbeiterklasse. Sie müsse zur hegemonialen Kraft einer jeden Revolution in El Salvador werden.

So kommt denn auch Gonzales zu der Einschätzung: „It was that very clear class-based analysis wich made the FPL both so significant and so refreshing in the Central American context.“31 „The FPL … did posses marxist credentials.“32

Die Strategie der FPL war die des „verlängerten Volkskrieges“, die v.a. auf den langfristigen Aufbau und die Verankerung der Partei in der Arbeiterklasse und unter den Campesinos abzielte.33

Die ersten Jahre ihrer Existenz war die FPL eine kleine, klandestine und isolierte Organisation, die sich vorrangig um den Aufbau eines Unterstützernetzwerkes bemühte, sowie ab 1972 gelegentliche bewaffnete Aktionen durchführte.

Die andere bewaffnete Gruppe, das „Revolutionäre Volksheer“ (ERP) entstand 1972 aus der christdemokratischen Jugend. Seine Politik war stärker guevaristisch orientiert und sehr voluntaristisch. Es ging seit seiner Gründung von einer im Prinzip revolutionären Situation in El Salvador aus und führte daher immer wieder verzweifelte „Aufstände“ in der Hoffnung durch, dass es nur eines Signals der Revolutionäre bedürfe, um eine Erhebung der Massen auszulösen.34 Führender Kopf des ERP war der bekannte Dichter Roque Dalton, der im Zuge innerparteilicher Auseinandersetzungen 1975 erschossen wurde.35 Seine Ermordung führte zur Abspaltung eines Teils des ERP, der sich nun als FARN [Bewaffnete nationale Widerstandsfront] organisierte. Anders als vor allem die FPL vertrat die FARN eine Form der klassischen Etappentheorie. Angelehnt an Lenins Vorstellungen von vor 1917 sprachen sie von der Notwendigkeit einer „demokratischen revolutionären Diktatur aus Arbeitern und Bauern zusammen mit den Mittelschichten“36 und lehnten die Vorstellung eines baldigen Überganges zum Sozialismus entschieden ab.

Manfred Heckhorn schreibt über die Anfangsjahre von FPL und ERP: „Gekennzeichnet von Dogmatismus und Sektierertum, blieb das erste Auftreten der neuen Linken trotz des zunehmenden Oppositionsgeistes zunächst ohne größeres Echo, reduziert auf kleinere Gruppen von Stadtguerilleros…“ 37 Ab Mitte der 70er Jahre nahmen die bewaffneten Aktionen der Guerillagruppen zu. Immer wieder entführten sie Vertreter multinationaler Konzerne und Mitglieder der herrschenden Klasse, um Lösegelder zu erpressen. Banken wurden überfallen, Anschläge auf Regierungseinrichtungen verübt und vereinzelt führende Militärs oder Mitglieder rechter Terrorgruppen exekutiert.38

  1. Der Wahlbetrug 1972

1972 war ein Schlüsseljahr für die Linke El Salvadors.39 Ein Wahlsieg des Oppositionsbündnisses UNO, an dem sich Christdemokraten (PDC), Sozialdemokraten (MNR) und die linke, von der Kommunistischen Partei beeinflusste UDN beteiligten, wurde durch offensichtliche Wahlfälschungen seitens der herrschenden Allianz aus Militär und Bourgeoisie verhindert.40 In der folgenden Zeit wurde die UNO brutal unterdrückt und ihre Mitglieder verfolgt.41 Das Ergebnis war ein massiver Vertrauensverlust in die Möglichkeiten einer Reformierung des politischen Systems. Eine Debatte über alternative Strategien zur Veränderung begann42, nochmals angeheizt durch das Scheitern des reformistischen Weges in Chile 1973. Viel mehr Leute waren nun bereit, den radikalen Ideen der Anfang der 70er Jahre entstandenen revolutionären Organisationen zuzuhören, die nun vor allem an den Universitäten neue Anhänger fanden. Damit diese Organisationen aber Masseneinfluss erlangen konnten, war neben einer Schwächung reformistischer Ideen ein weiterer Faktor notwendig: Die tiefe Polarisierung und die mit ihr verbundene Radikalisierung weiter Teile der Arbeiter, der Studenten und der Campesinos, die ab Mitte der 70er Jahre El Salvador prägte.

  1. Die Radikalisierung der Campesinos

Ein wichtiger Impuls für die Radikalisierung auf dem Land ging von einem fortschrittlichen Teil der Kirche aus. Dieser wandte sich in Folge der lateinamerikanischem Bischoffskonferenz 1968 in Medellin (Kolumbien) der Befreiungstheologie zu. Überall auf dem Lande entstanden christliche Basisgemeinden. Sie „wurden von Anfang der 70er Jahre an Zentren politischer Erfahrung und Schulung.“43 Aus ihnen gingen Mitte der 70er befreiungstheologisch beeinflußte Landarbeitergewerkschaften hervor. Sie organisierten die ersten Landbesetzungen und Demonstrationen. Eine dieser Gewerkschaften war die FECCAS (Christliche Föderation Salvadorianischer Campesinos). Sie schloss sich 1975 mit der UTC (Union der Landarbeiter) zusammen und wurde „zu der entscheidenden Organisation der verarmten Massen auf dem Lande.“44 Diese Entstehung einer Campesino-Bewegung ist eine Entwicklung, die in ihrer Bedeutung für die Klassenkämpfe in einem Land wie El Salvador, in dem noch über 50% der Bevölkerung auf dem Land lebten, nicht unterschätzt werden kann. Erstmals seit den 30ern wurde die Macht der Großgrundbesitzer auf dem Land in Frage gestellt. „Dieser Prozeß erinnert ein wenig daran, welche Mobilisierung der deutschen Bauern stattfand, als die Reformation ihnen … predigte, daß vor Gott alle Menschen gleich seien.“45 FECCAS/UTC organisierte 1974/75 erste landesweite Streiks für eine Erhöhung der Löhne von Kaffee- und Baumwollarbeitern und 1976 erste Landbesetzungen und besetzte 1977 sogar das Landwirtschaftsministerium.46

Vor allem der FPL gelang es, in der wachsenden Landarbeiterbewegung Fuß zufassen. Ihr Konzept vom „verlängerten Volkskrieg“ zielte ja auf eine möglichst breite Verankerung in verschiedenen sozialen Bewegungen ab. Die FPL sah „neben der städtischen Arbeiterschaft in der verarmten Landbevölkerung, in den Tagelöhnern und Kleinbauern das Subjekt einer künftigen proletarischen Revolution.“47Begleitet wurde der Aufschwung von sozialen Kämpfen auf dem Land von einer sich immer mehr verstärkenden Repression durch die ORDEN-Organisation und durch Polizeikräfte.48

  1. Die Volksorganisationen

Auch in den Städten gab es ab Mitte der 70er Jahre einen Anstieg sozialer Kämpfe, getragen vor allem von den Bewohnern der Elendsviertel, der Lehrergewerkschaft ANDES und den Studenten. Anders als auf dem Land spielte die revolutionäre Linke hier von Anfang an eine wichtige Rolle. Sie war ein wichtiger Faktor in den ab der Mitte der 70er Jahre entstehenden Volks- oder Massenorganisationen. Phillip Russell schreibt über diese Organisationen: „These groups … emerged in rapid succession, replacing the political parties as the focus of polical action. These mass organisations were coalitions of peasant, trade-union, professional, student, and slumm-dweller groups wich began to press demands for social justice wich were not raised in the elections. Their tactics includet street demonstrations, and ocupations of public buildings, factories and farms to press their demands. They sometimes armed themselfs to gain entry into buildings, hold hostages and repel attacks from security forces. They contrasted with the guerilla … in that the guerilla would use arms offensively, while the mass organisations unsed them defensively. Their tactics also differed froms those of the guerillas in that they operated openly.“49

Die erste der entstehenden Volksorganisationen (VO´s) war die FAPU (Vereinigte Volksfront-Aktion). Sie entstand 1974 als ein Zusammenschluß von Studenten, Arbeitern und Bauern50 unter der Beteiligung von FECCAS/UTC. Aufgrund der reformistischen Ausrichtung der FAPU verliessen FECCAS/UTC sie jedoch bald wieder.51 In ihren politischen Vorstellungen war die FAPU stark von der FARN beeinflusst. In stärkerem Maße als bei den später entstandenen VO´s hatte die FAPU ihre soziale Basis bei den städtischen Mittelschichten, aber auch bei den Stahl- und Elektrizitätsarbeitern spielte sie eine wichtige Rolle.52 Ende der 70er Jahre hatte sie ca. 20.000 Mitglieder.53

1978 entstand die Liga des 28.Februar (L-28) als dem EPL nahestehende Volksorganisation.54

Die bei weitem bedeutendste der VO´s war jedoch der 1975 unter dem Einfluss der FPL entstandene BPR(Volksrevolutionäre Block), ein Zusammenschluß der kämpferischen Lehrergewerkschaft ANDES, von Schüler-, Studenten- und Armenorganisationen.55 1976 gab es die erste gemeinsame Demonstration von FECCAS/UTC und BPR, ein wichtiger Ausdruck einer neuen linken Einheit von Stadt- und Landarbeitern, von Nichtchristen und Christen.56 1977 schloß sich die FECCAS/UTC nach ihrem Bruch mit der in ihren Augen zu reformistischen FAPU dem BPR an, der eindeutig eine sozialistischen Gesellschaft anstrebte.57 Der BPR wurde so eine machtvolle politische Organisation von Stadt- und Landarbeitern, Armen, Angestellten und Studenten.58 Im Februar 1978 kam es zum offiziellen Zusammenschluß des BPR mit der FPL. Dazu bemerkt Mike Gonzales: „Dieses war die wohl wichtigste politische Entwicklung im ganzen zentralamerikanischen Szenario, da auf die Agenda die Möglichkeit einer revolutionären Organisation gesetzt wurde, geführt durch marxistische Ideen und mit einer kampfbereiten und kampferprobten Arbeiterbasis“59. Und Heckhorn schreibt: „Der BPR … wurde in den folgenden Jahren zu einer großen Oppositionsfront, für die die selbstgewählte Bezeichnung >Volksorganisation< sicher zutreffend ist.“60In weniger als 2 Jahren gelang es der BRP 60.000 der militantesten Arbeiter und Bauern zu organisieren. 1980 war der BPR mit über 100.000 Mitgliedern die bei weitem „größte Organisation der salvadorianischen Linken“61. Seine Basis hatte er vor allem unter den Campesinos, dem städtischen Subproletariat und den Lehrern.62 Insgesamt 60 Gewerkschaften waren Teil des Blocks.63 International bekannt wurde der BPR ab 1978 durch die immer wieder von ihm durchgeführten Besetzungen ausländischer Botschaften, mit denen er auf die Menschenrechtslage in El Salvador aufmerksam zu machen, die Regierung unter Druck zu setzen und die eigenen Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen versuchte.64

Für die FPL stellte das rasante Anwachsen des BPR eine große Herausforderung dar. Jahrelang war die Organisation relativ isoliert und in sektiererische Debatten mit anderen Gruppen der Linken verzettelt gewesen. Plötzlich bekam sie Masseneinfluss. Die größte der Volksorganisationen orientierte sich an ihr. Die FPL reagierte, in dem sie die Gewichtung von militärischer zu politischer Aktivität zu Gunsten der politischen Aktivität verschob: „Alle erfahrenen Führungskader wurden für die Arbeit unter den Massen abgezogen und die Mittel für die militärische Arbeit wurden immer weiter reduziert.“65

Das Problem der FPL war ihre geringe Zahl an Kadern. Denn den Kern der Organisation machten 1978 nur etwa 800 Militante aus. 66 Mit 800 Mitgliedern nun dem BPR mit seinen 100.000 Mitgliedern und darüber hinaus der gesamten Massenbewegung eine klare Führung zu geben war in der Tat eine riesige Herausforderung, zumal die FPL noch eine sehr junge Organisation war und nur über die Erfahrung von wenigen Jahren revolutionären Parteiaufbaus verfügte.

  1. Auf dem Weg zur revolutionären Krise

Zur fortschreitenden Radikalisierung der Massen trugen zwei Ereignisse 1977 bei: ein erneuter Wahlbetrug und ein extrem gewerkschaftsfeindliches Gesetz (Public Order Law67), das alle Streiks für illegal erklärte. Gegen den Wahlbetrug organisierte das UNO-Bündnis eine Protestdemonstration mit ca. 60.000 Teilnehmern, die einen zentralen Platz in der Hauptstadt besetzten. Dieser wurde nachts vom Militär umstellt, welches das Feuer auf die unbewaffneten Demonstranten eröffnete. Mehrere hundert Menschen starben.68 Der Weg einer Veränderung durch Wahlen und Reformen war einmal mehr gescheitert. Viele bisherige Anhänger der UNO wandten sich nun ebenfalls den Volksorganisationen zu. Die Repression und der Terror gegen die Linke und die Bevölkerung nahmen in der Folge eine immer brutalere Form an. Trotz des drakonischen „Public Order Laws“ gingen die Streik- und Landbesetzungsbewegungen weiter. Über 40 illegale Streiks wurden während der Gültigkeit des Streikverbotes von BPR und FAPU organisiert. Eine besonders wichtige Rolle beim wachsenden Selbstbewusstsein der Arbeiter spielte ein Streik in der grössten Zuckerrohrverarbeitungsanlage des Landes im Januar 1978.69

Das rasche Anwachsen der verschiedenen Volksorganisationen wirkte stark auf die bewaffneten Organisationen zurück, die massiven Zulauf aus ihren Reihen erhielten. Versuche, die Volksorganisationen in den Untergrund zu zwingen, waren wegen ihrer Verankerung in den Städten und auf dem Land zum Scheitern verurteilt.

Die Massen bewegten sich in einem Tempo auf die revolutionäre Linke zu, dem diese kaum gewachsen war. Z.B. suchten Tausende von Kleinbauern bei der Guerilla Schutz vor Überfällen, den die Guerilla zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bieten konnte.

Die Guerilla versucht aber nach Kräften unter den vielen, in die Berge geflohenen Campesinos Selbstverteidigungsgruppen, Wachen und Milizen aufzubauen.70

Die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes war aufgrund der Repression und dem Scheitern reformistischer Alternativen in der Linken allgemein anerkannt. Die bewaffneten Gruppen erlangten großen Respekt in den Bewegungen, da nur sie in der Lage waren, Demonstrationen und Besetzungen von Fabriken und Haciendas (Landgütern) vor Überfällen von Staat und rechten ORDEN-Milizen zu schützen. „Angesichts der Repression mußte diese Bewegung, wollte sie überleben, den bewaffneten Kampf aufnehmen.“71

Die Klassenkämpfe erreichten in dieser Phase (1977-79), die von einer tiefen Wirtschaftskrise begleitet wurde, ein neues Niveau: „Die öffentlich diskutierten Fragen waren Arbeitermacht und Revolution“72, so Mike Gonzales. Und Manfred Heckhorn schreibt: „1977 schien die Revolution in El Salvador näher als im benachbarten Nicaragua.“73Allerdings standen sich die verschiedenen Organisationen der revolutionären Linken in erbitterter Feindschaft gegenüber; zu gemeinsamen Aktionen kam es erst ab Sommer 1979. So gab es etwa Stadtteilgruppen aller Volksorganisationen in dem selben Elendsviertel, die aber nicht in der Lage waren, gemeinsam eine Kampagne für eine Wasserleitung zu führen. Die mangelnde (Aktions-)Einheit ist eine der deutlichen Schwächen der Linken in dieser Periode. Heckhorn macht sie wesentlich dafür verantwortlich, dass eine Revolution in El Salvador vor dem Sieg der FSLN in Nicaragua ausblieb.74

  1. Die Revolution in Nicaragua und die direkten Folgen

Die Auswirkungen der nicaraguanischen Revolution von 1979 sind in El Salvador augenblicklich zu spüren. Nicaragua zeigte auf eindrucksvolle Weise: Der Sturz einer vom US-Imperialismus gestützten Diktatur ist möglich!

Anfang Mai 1979, als die Ereignisse in Nicaragua auf ihren Höhepunkt zustrebten, eskalierte auch die Situation in El Salvador. Grund war die Verhaftung von fünf führenden Mitgliedern des BPR. Der BPR besetzte daraufhin die Kathedrale von San Salvador sowie die Botschaften Frankreichs und Costa Ricas.75 Während einer Demonstration vor der Kathedrale von San Salvador verantstaltete die Guardia ein Massaker, 37 Demonstranten starben.76 Darauf kommt es zu den ersten gemeinsamen Aktionen der linken Volksorganisationen. Die weitere Zunahme der Repression (554 staatliche Morde im ersten Halbjahr 197977) wird von einer Zunahme von sozialen Kämpfen begleitet. Inspiriert durch den Sieg in Nicaragua kam es in ganz El Salvador nicht nur zu Solidaritätsdemonstrationen, sondern auch zu Fabrikbesetzungen und weiteren Streiks78, darunter einem Generalstreik in San Salvador im September ´7979. Es schien, als ob nach Nicaragua auch in El Salvador ein von den USA an der Macht gehaltenes Regime binnen kürzester Zeit fallen könnte. El Salvador steuerte klar auf eine revolutionäre Krise zu. Gleichzeitig wurde der FPL-BPR zusehends mehr eine neuartige politische Organisation mit echter Massenbasis80.

  1. Das Militär putscht

Am 15.Oktober 1979 kam es zu einem Militärputsch gegen die Regierung, angeführt von einer Gruppe junger Offiziere. Die Putschisten waren in sich äußerst heterogen. Während die Gruppe „Juventud Militar“ ein Ende der Menschenrechtsverletzungen, demokratische Wahlen und Organisations- und Meinungsfreiheit forderte, beteiligten sich auch USA-nahe Teile des Militärs sowie rechte Kräfte, die ein noch brutaleres Durchgreifen gegen die Linke forderten, es aber der bisherigen Regierung nicht zutrauten.81 Dieser heterogene Charakter erschwerte anfangs eine korrekte Einschätzung des Putsches durch die Linke.

Es wurde eine „revolutionäre“ Militärjunta unter Beteiligung von Christ- und Sozialdemokraten sowie der kommunistischen UDN gebildet.82 Ziel der Junta war die Bindung größerer Teile der Bourgeoisie El Salvadors an den Staat, um eine Wiederholung der Ereignisse in Nicaragua, wo ein Teil des Bürgertums den Sturz der Diktatur aktiv unterstützte, zu verhindern. Durch Reformen sollte der revolutionären Linken das Wasser abgegraben werden. Wirkliche Reformen hätten aber bedeutet, den Reichtum der Oligarchie anzutasten. Dazu hätte sie nur mit Gewalt gezwungen werden können, was die Gefahr einer Umwälzung der ganzen Gesellschaft bedeutet hätte. Militär und Bürgertum waren dazu nicht bereit.

Der nationalrevolutionäre Anstrich der Junta führte zu Verwirrung in der Linken. Der BPR brauchte 10 Tage, um der Junta den Kampf anzusagen. LP-28 und FAPU arbeiteten gar kurzfristig mit der Junta zusammen.83

Bald darauf versuchten LP-28 und ERP einen Aufstand zu initiieren, der blutig (über 60 Tote) scheiterte.84 Eine der ersten Maßnahmen der Junta war die Erstürmung mehrerer besetzter Fabriken und ein Angriff auf das Hauptquatier des ERP, bei dem 20 Menschen starben.85 Es folgte eine weitere Zunahme der Repression sowie der Aktivitäten raktionärer Milizen. Verschiedene Demonstrationen der Linken wurden angegriffen, wobei bei einer Demonstration des BPR 27 Menschen erschossen wurden, auf einer Demonstration der FAPU drei und auf einer Demonstration der LP-28 40 Menschen86. Insgesamt wurden zwischen Oktober und Dezember 700 Linke von Polizei und ORDEN ermordet87. Während der Junta-Regierung formierte sich die Rechte auch auf der Straße. Anfang Dezember zogen 15.000 Frauen mit Rufen nach Ruhe und Ordnung zum Präsidentenpalast und am 27.12.79 marschieren 100.000 Menschen mit „Tod den Kommunisten“-Rufen durch San Salvador.88 Der Rechten war es damit gelungen, große Teile der Mittelschichten gegen die Linke zu mobilisieren.

Da die Repression unter der neuen Regierung weiterging, echte Reformen ausblieben und der Druck der Rechten immer mehr wuchs, verliessen die zivilen Mitglieder der Junta Anfang Januar geschlossen die Regierung.89 Ihre Parteien sollten sich bald an der Seite der revolutionären Linken wiederfinden. Der Generalsekretär der PCS, die bis zu diesem Zeitpunkt an ihrem strikt legalistischen und auf Wahlen ausgerichteten Kurs festgehalten hatte (und an der daher der Strom der sich radikalisierenden Massen vorbeigeflossen war, weswegen sie nur knapp 200 Mitglieder hatte90), erklärte: „There is no possibility whatsoever of a reformist solucion of the national crisis.91 Das Scheitern der „revolutionären Junta“ zerstörte die letzten Hoffnungen in eine Reformierbarkeit des Systems. Gleichzeitig hatte die Rechte aber durch den zweideutigen Charakter der Junta und der daraus resultierenden Verwirrung auf der Linken wichtige Zeit gewonnen, um eine brutale Zerschlagung der Oppositionsbewegung vorzubereiten.

  1. Doppelherrschaft

Unter der „revolutionären Junta“ hatte es aber auch eine massive Zunahme der Aktivitäten der Arbeiterbewegung und der Linken, große Demonstrationen von Lehrern und Landarbeitern, Studenten und Schülern, Marktfrauen und städtischen Armen gegeben.92 Fast täglich kam es zu Demonstrationen, Kundgebungen und Meetings, auf denen die Präsenz auch der bewaffneten revolutionären Linken ständig zunahm.

In einer spektakulären Aktion wurde das Arbeitsministerium von der BPR besetzt und drei Minister für 14 Tage als Geiseln genommen. Der BPR forderte 100% mehr Lohn landesweit; diese Forderung wird in vielen Betrieben aufgegriffen und z.T. auch durchgesetzt. Auch wurde die Regierung gezwungen, die Buspreise deutlich zu senken93.

82 Landgüter wurden zwischen November und Dezember von Landarbeitern besetzt. Hinzu kommen zahlreiche besetzte Fabriken. Im November wurden zudem in einer Reihe von Streiks weitere Lohnerhöhungen erkämpft.94

Die letzten Monate des Jahres 1979 waren nach Mike Gonzales eine Zeit „effektiver Doppelherrschaft“95 von der Regierung auf der einen und der Oppositionsbewegung auf der anderen Seite. Teile des Landes sowie verschiedene Stadtteile, Fabriken und die Universitäten standen effektiv unter der Kontrolle der Linken. Dieser Zustand dauerte auch noch Anfang 1980 an, als „Aufstandstimmung“96 im Lande herrschte und die „revolutionäre Volksbewegung … ihren Höhepunkt erreichte“97. Die Linke wurde „zur Avantgarde einer zum Umsturz bereiten Bevölkerung.“98 Den Massenorganisationen der Linken gelang es, immer mehr Menschen in ihre Aktivitäten einzubeziehen, mehr und mehr rückte die Frage des Griffs nach der Staatsmacht ins Zentrum. Das Niveau der Konfrontation stieg qualitativ und quantitativ: In den Fabriken, auf den Straßen, auf dem Land kam es zu ständigen Zusammenstößen zwischen Linken und Rechten (ORDEN-Miliz), der Regierung entglitt zusehends die Kontrolle über das Land.99

Gleichzeitig begann die Linke (v.a. nachdem die zivilen Minister die Junta verliessen) ihre jahrelange Zersplitterung zu überwinden. Am 10.01.1980 wurde eine politische und militärische Vereinigung der UDN mit den Volksorganisationen BPR und FAPU (LP-28 schloss sich ihnen kurze Zeit später an) bekanntgegeben. Wenige Tage später wird ein „Revolutionäres Koordinierungskomitee der Massenorganisationen“ (CRM) unter Leitung Juan Chacons, 23-jähriger Arbeiter und Führer des BPR, gegründet.100 Die CRM rief zu einer Demonstration am 22.01., dem Jahrestag des Massakers im Anschluß an die gescheiterte Revolution 1932, auf.

Am 22.01.80 marschierten 250.000 Menschen (bei einer Bevölkerung von damals 4.3 Mio.) durch die Straßen San Salvadors, um die Gründung der CRM zu feiern und an die Opfer der Revolution von 1932 zu erinnern.101 Die Demonstration endete allerdings in einem Blutbad: Der Zug wird von Heckenschützen angegriffen, hunderte Tote blieben zurück.102 Es war eines der „schlimmsten Massaker in der Geschichte El Salvadors“103.

Die auf der Demonstration anwesenden Mitglieder der bewaffneten Gruppen erwiderten das Feuer, konnten das Massaker aber nicht verhindern. Eine breite Bewaffnung der Arbeiterklasse hatte es nicht gegeben.

Die Demonstration vom 22.01.80 bedeutete einen wichtigen Einschnitt für den revolutionären Prozess. Sie war „der höchste Ausdruck an Arbeitermacht, den El Salvador jemals sah“104 und die bisher grösste Mobilisierung der Linken. Gleichzeitig symbolisierte der brutale Angriff auf diese Demonstration ein gewachsenes Selbstbewusstsein von Oligarchie und Militärs und ihre äußerste Entschlossenheit, einen Bürgerkrieg gegen die Linke zu führen. Dieser Bürgerkrieg gegen die Linke „nahm bald furchtbare Ausmaße an. Täglich wurden Mitglieder der Volksorganisationen ermordet, darunter viele ihrer Führer.“105

In der Linken herrschte Unklarheit, wie sie reagieren soll. Es gab keinen klaren Kurs Richtung sozialistischer Revolution, also Zerschlagung des alten Staatsapperates durch eine Massenbewegung von unten und Errichtung eines neuen Staatswesens eben aus dieser Bewegung heraus. In der Linken herrschte die Ansicht vor, man dürfe sich nicht zu einem Aufstand provozieren lassen106 aus Angst vor einer Wiederholung der Katastrophe des verfrühten Aufstandes von 1932. So wurden einerseits die Vorbereitungen zu einem bewaffneten Guerillakampf intensiviert, andererseits die sozialen Mobilisierungen fortgesetzt. Ihnen fehlte aber eine klare Perspektive und sie wurden immer mehr Opfer brutaler Repression. Fehlende Perspektive und die Lebensgefahr für alle Teilnehmer dieser Mobilisierungen führten dazu, dass sie schliesslich nachliessen. Die Demonstration vom 22.01.80 läutete das Ende der offenen Großdemonstrationen in El Salvador ein107, auch wenn die Streik- und Besetzungsbewegung noch bis in den Sommer anhielt.

Wegen des Massakers vom 22.01. kam es zu einem Generalstreik, der allerdings nicht zu 100% befolgt wurde. Im Februar gelang es der BPR, zwei traditionell unpolitische Bereiche zu organisieren: Postler und Bankangestellte. Ebenfalls im Februar besetzten Oberschüler unter Führung des BPR das Erziehungsministerium und Bewohner der Elendsviertel das Wasseramt.108 Gleichzeitig wurde das Agrarministerium von Landarbeitern besetzt.

Währenddessen ging die Offensive des Militärs und der Rechten weiter. Am 06.03. erklärte die – mittlerweile nur noch aus rechten Kräften bestehende – Junta den Ausnahmezustand und verkündete eine „Landreform“, die als Deckmantel für die brutale Räumung besetzter Ländereien durch das Militär in den folgenden Wochen diente.109 Auf einen breit befolgten Generalstreik am 17.03. antwortete das Militär mit nackter Gewalt, über 140 Menschen wurden erschossen110, nachdem bereits im Januar und Februar über 600 Menschen ermordet worden waren.111 Am 24.03.1980 wurde der äußerst populäre Erzbischof Romero, der immer wieder das Recht des Volkes auf Widerstand verteidigt hatte, während einer Messe ermordet. Darauf wurde San Salvador für eine Woche durch einen Generalstreik lahmgelegt. Die Repression ging aber weiter. Es war der Linken daher nicht mehr möglich, um den 1.Mai herum überhaupt noch Demonstrationen durchzuführen.112 Es gab im Juni noch einen sehr erfolgreichen Generalstreik in San Salvador mit einer Beteiligung von über 90%113, im August noch einen weiteren mit einer Beteiligung von nur noch 20%.114

Der Vereinigungsprozess der Linken ging während der ersten Jahreshälfte 1980 weiter. Im März schlossen sich die bewaffneten Gruppen zur DRU (Vereinigte revolutionäre Führung) zusammen, der Vorgängerin der im Oktober 1980 gebildeten FMLN.115 Im April schlossen sich die Christdemokraten mit der CRM zur FDR (Demokratisch-Revolutionäre Front, künftige politische Flügel der FMLN) zusammen. Die FDR vereinigte Organisationen mit über 100.000 Gewerkschaftern, sowie zehntausenden Armen, Studenten und Marginalisierten als Mitgliedern unter einem Dachverband. Jedoch wurde die FDR zu einer Zeit ins Leben gerufen, in der die Linke bereits schwer in der Defensive war.

  1. Niederlage

Im November wurden sechs Schlüsselfiguren des Widerstandes, darunter Juan Chacon, Führer des BPR, ermordet, ein schwerer Schlag für die Linke und ein Zeichen des sich ändernden Kräfteverhältnisses. 116 Mit voller Unterstützung begann die von den USA mit ausgearbeiteten konterrevolutionären Maßnahmen zu greifen. Gonzales schreibt darüber: „Their respond was to strenghten the army, provide material and trainig in counter-guerilla war and lunch a military counter-offensive, driving the opposotion out of the cities, isolating the revolutionaries and then crushing them in their enclaves.117

Die Folge war eine Verlagerung der Schwergewichts der Linken weg von Massen- hin zu Guerillaaktionen: „Firing upon the January 22nd demonstration, killing archbishop Romero, firing on his funeral … al led to a rapid shift from from mass activity to guerilla warfare.“118 Im Laufe des Jahres 1981 konnte die Linke dem Druck der massiven Repression in den Städten, wo „ihre Basis buchstäblich ausgerottet wurde“119, endgültig nicht mehr standhalten und mußte sich in durch die Guerilla militärisch gehaltene ländliche Gebiete zurückziehen. Es gelang der Regierung, die in den 70ern entstandenen revolutionären Massenorganisationen (Volksorganisationen) in den Städten weitgehend zu zerschlagen. 1982 erreichte die Arbeiterbewegung einen Tiefpunkt. Zahllose Gewerkschafter waren ermordet worden, die besten Kräfte von den revolutionären Organisationen aus der Gewerkschaftsarbeit herausgezogen, um sie in den bewaffneten Kampf zu werfen und der Repression zu entziehen. Im ganzen Jahr fanden nur 4 Streiks statt. Gonzales: „By 1982, the left had been driven back into rural strongholds from wich they held off the military assault. There, in the years that followed, they build liberated zones in wich … the germs of a different kind of society were laid. But the perspektive of mass popular insurrection was no longer available.“120

  1. Schluss: Eine verpasste revolutionäre Situation

Es bestand Ende 1979 bis März 1980, eventuell sogar bis in den Sommer hinein „unzweifelhaft eine revolutionäre Situation“121. Doch die Revolution blieb aus, die Bewegung stagnierte nach ihrem Höhepunkt am 22.01. und geriet allmählich in die Defensive.

Wie konnte es dazu kommen?

Klassenkämpfe haben ihre eigene Dynamik und eine revolutionäre Situation wie die Ende 1979/Anfang 1980 läßt sich nicht beliebig konservieren; gelingt es nicht, die Offensive fortzusetzen und eine realistische Perspektive zur Machtergreifung und zur Umgestaltung der Gesellschaft aufzuzeigen, wird die Bewegung zurückfallen und werden die Herrschenden ihr Selbstvertrauen wiedererlangen und ihrerseits in die Offensive gehen. Genau das geschah in El Salvador, bedingt eine Reihe von Faktoren.

Die Linke nahm nicht ge- und vor allem entschlossen Kurs auf eine Eroberung der Macht. Dadurch wurde den Herrschenden eine Atempause gewährt, die diese nutzten, um eine Zerschlagung der Bewegung vorzubereiten.

Die Arbeiter und Bauern waren nicht bewaffnet, die (relativ wenigen) Waffen in den Händen des jeweiligen militärischen Arms der revolutionären Organisationen. Es gab keine etwa den „Roten Garden“ des russischen Oktobers 1917 vergleichbaren Arbeitermilizen. Daher konnten die Arbeiter auf und nach der Demonstration vom 22.01.80 weder ihre Offensive wirklich fortsetzen noch der beginnenden neuen Welle brutalster Repression bewaffnet entgegentreten. 600 Linke werden allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 1980 ermordet.

Entscheidender noch als die Bewaffnung der Arbeiterklasse ist in einer revolutionären Situation die politische Führung einer Bewegung. Diese Führung versagte meines Erachtens in El Salvador, ein Versagen, welches in die Niederlage der gesamten Bewegung führte. Die revolutionären Gruppen und die Volksorganisationen waren nicht wirklich darauf vorbereitet, den Staat herauszufordern. Es gelang ihnen nicht, eine angemessen klare Klassenpolitik zu entwickeln und durch neue, weiterführende Forderungen der Massenbewegung die nächsten Schritte Richtung Revolution aufzuzeigen.

Hunderttausende Arbeiter, Bauern und Marginalisierte machten um die Jahreswende 1979/80 die Erfahrung einer immensen potenziellen Stärke, die ihren kollektiven Aktionen innewohnte. Vermittelt über ihre Organisationen herrschten sie faktisch in verschiedenen Stadtteilen, Fabriken, Universitäten und Teilen des Landes. Je deutlicher aber wurde, dass es diesen Organisationen nicht gelang, die erfahrene Stärke der Bewegung in einen wirklichen Sieg über die alte Oligarchie und das Militär zu verwandeln, also die Regierung zu stürzen, die alten Eliten zu verjagen und die Gesellschaft im Interesse der Arbeiter, Bauern und Armen radikal umzugestalten, desto mehr schwand die Bereitschaft der an der Bewegung beteiligten, ihr Leben für eine Sache aufs Spiel zu setzen, an der teilzunehmen immer gefährlicher wurde und für deren Erfolg niemand eine erfolgsversprechende Strategie vorzuschlagen hatte.

Deutlich wird dieses etwa anhand des Beispieles der beiden Generalstreiks im Sommer 1980. Hatten sich am ersten im Juni noch 90% der Arbeiter in San Salvador beteiligt, so waren es im August nur noch 20%. Russell schreibt dazu: „Most workers felt it was not worth risking their lives and jobs again, only to have life return to normal after the strike was over.122 Die Enttäuschung über eine über Monate hinweg immer wieder ausgebliebene endgültige Kraftprobe Seitens der Linken war wohl ein wichtiger Grund für den Rückgang der Mobilisierung und das Scheitern der Revolution.

Ein wichtiger Faktor, wegen dem die Linke vor einem bewaffneten Volksaufstand Anfang 1980 zurückschreckte, war die traumatische Erfahrung des verfrühten Aufstandes von 1932, in dessen Folge 30.000 Menschen ermordet wurden. Gerade aber wegen diesem Zögern der Führung der Bewegung schwand das Vertrauen in die Linke, einen Aufstand erfolgreich führen zu können.

Hinzu kommt, daß das Regime in El Salvador nie derart isoliert war, wie Somoza in Nicaragua. Es konnte sich immer auf die Oligarchie, das Militär und einen Teil des Bürgertums (z.B. die rechten Christdemokraten um Duarte) stützen und unter den Fahnen des Antikommunismus auch beträchtliche Teile des Kleinbürgertums mobilisieren.

Ein weiterer wichtiger Faktor dafür, daß es der Linken nicht gelang, klaren Kurs auf eine sozialistische Revolution zu nehmen, war meines Erachtens der grosse Einfluß der Revolution in Nicaragua, ein Faktor, auf den v.a. Gonzales nachdrücklich verweist. Dieser Einfluss erwies sich in der Tat als ein zweischneidiges Schwert: Einerseits beflügelte der Sieg der FSLN die Bewegung in El Salvador gewaltig.

Auf der anderen Seite aber trug gerade die Übernahme des nicaraguanischen Revolutionsmodell mit zum Scheitern der Bewegung in El Salvador bei.

Kernstück der Politik der FSLN war seit der Übernahme der Führung durch Linkssozialdemokraten („Terracistas“-Strömung) 1978 die Kombination spektakulärer militärischer Aktionen mit dem Aufbau einer möglichst breiten Front gegen Somoza, d.h. Allianzen mit dem „fortschrittlichen“ Bürgertum statt klarer Klassenpolitik. Um das „fortschrittliche Bürgertum“ nicht zu verschrecken, mußte aber auf allzu „harte“ soziale Forderungen verzichtet werden, was letztlich bedeutete, die Hoffnungen der Massen auf einschneidende soziale Verbesserungen hinter die Erfordernisse eines Bündnisses mit bürgerlichen Kräften zurückzustellen. Nicht die in Fabriken und auf dem Land in Ansätzen bereits vorhandene Arbeiter- und Bauernmacht, nicht die soziale Befreiung der Arbeiterklasse stand nach diesem Konzept auf der Tagesordnung, sondern eine bürgerlich-antiimperialistische Revolution, die die Besitzverhältnisse im wesentlichen nicht umkrempeln sollte, sondern v.a. demokratische Reformen erkämpfen und das US-Kapital wie auch Teile des heimischen Großkapitals in die Hände des Staates überführen sollte. Dieser Staat sollte aber keineswegs ein z.B. durch Räte wirklich demokratisch kontrollierter Arbeiterstaat sein.

Auch wenn es in El Salvador ein weitaus höheres Level an Klassenkämfpen gegeben hatte als jemals in Nicaragua, auch wenn die Rolle der Arbeiterklasse in diesen Kämpfen (und ihr Gewicht in der Gesellschaft) weit bedeutender war als in Nicaragua und auch wenn es einen Bruch mit der „Etappentheorie“ gegeben hatte (für den v.a. die FPL stand) – aufgrund des Sieges in Nicaragua begannen die Ideen der FSLN die Linke in El Salvador zu dominieren.

Das von der FSLN beeinflußte Programm der CRM, das am 22.01. beschlossen wurde, war daher ein nationalistisches und antiimperialistisches (sogenanntes „demokratisch-revolutionäres“) Programm, das den militärischen Kampf gegen Oligarchie und Imperialismus von dem Kampf für soziale Befreiung trennte, also ein Programm der Etappentheorie, das die Logik der sozialen Revolution durch die Logik des Krieges ersetzte.123 Die FPL-BPR, deren Grundlage und Existensberechtigung die Konzeption einer proletarisch-sozialistischen Revolution und die Zentraltät des politischen Kampfes war, scheiterte daran, innerhalb der CRM eine politisch-ideologische Hegemonie zu erlangen, wie sie auch schon zuvor daran gescheitert war, eine Hegemonie in der Bewegung zu erlangen. Immer hatte sie auf einem „proletarischen Charakter der Revolution“ bestanden.124 Jetzt stellte sie sich auf den Boden einer „revolutionär-demokratischen“ Plattform. Sie war nach Jahren der Isolation, vor allem aber aufgrund ihrer zu geringen Größe nicht in der Lage, ihre neuen politischen Verbündeten herauszufordern, begrüßte daher die Allianz mit der reformistischen PCS (und ab Februar sogar mit den linken Christdemokraten) unkritisch125 und gab ihre originäre Position zugunsten der Etappentheorie in der Realität auf. Dieses geht deutlich aus einem Interview mit dem Generalsekretär der UDN, Manuel Franco, vom 28.02.1980 hervor. Darin erklärt er: „Die Position des BPR [war] … daß von anfang an eine sozialistische Regierung herrschen müsse. Die Genossen [vom BPR, F.W.] haben diese Position jedoch korrigiert, sonst hätten wir die Plattform der demokratisch-revolutionären Regierung nicht unterzeichnen können.“ Die war eine Plattform, in der „man auch kapitalistsiche Elemente wiederfinden“ könne. „Das bedeutet, dass sie [gemeint: der BPR, F.W.] in gewisser Weise diese [gemeint: ihre alte, FW] Position aufgegeben haben und daß sie verstanden haben, daß das Land jetzt reif ist für eine demokratisch-revolutionäre [also nicht sozialistische, F.W.] Umwälzung.“126

Folge dieser Bündnisse war, daß der konkrete Kampf für soziale Verbesserungen, der unabhängig von und oft auch nur gegen die bürgerlichen Christdemokraten hätte geführt werden können, nicht mehr im Zentrum stand. Gerade diese Hoffnung der Arbeiter und Bauern auf soziale Verbesserungen waren aber die Triebfeder ihrer Aktivität gewesen.

Zusammen mit der Angst vor einem neuen 1932 kann diese Bündnispolitik das verhängnisvolle Zögern der revolutionären Linken im Angesicht einer revolutionären Situation erklären.

Heckhorn führt das Scheitern der Linken v.a. auf ihre mangelnde Einheit zurück. Die Entstehung von CRM und FDR habe eine ungemein mobilisierende Wirkung gehabt, sei aber zu spät gekommen.127 In der Tat war die Zerstrittenheit und Konkurrenz in der Linken eine zentrale Schwäche. Statt einer Vereinigung mit Kräften wie den Christdemokraten wäre jedoch eine Vereinigung der Volksorganisationen das Gebot der Stunde gewesen. Sie hätte wahrscheinlich eine ähnlich mobilisierende Wirkung gehabt und das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Linken gestärkt, die Bewegung zum Erfolg zu führen, ohne gleichzeitig das Ziel einer sozialistischen Revolution den Erfordernissen eines Bündnisses mit Christdemokraten und „Kommunisten“ zu opfern.

Einer näheren Erklärung bedarf das Scheitern der FPL, dem Gang der Dinge eine entscheidende Wendung zu geben. Denn weder wurden ihre Ideen in der CRM-FDR Hegemonial, noch gelang es ihr aus eigener Kraft die Bewegung zu einer erfolgreichen Revolution zu führen. Die FPL ist in der vorliegenden Untersuchung so hervorgehoben worden, weil sie 1.auf der revolutionären Selbstemanzipation des Volkes und der Zentralität der Arbeiterklasse in diesem Prozeß bestand (und damit fast einzigartig im Lateinamerika dieser Zeit war) und 2.im Gegensatz zu den Sandinisten und Kommunisten keine Etappentheorie vertrat, sondern einen sofortigen Übergang zum Sozialismus anstrebte. In den entscheidenden Monaten Ende 1979/Anfang 1980 allerdings gelang es ihr nicht, von der Situation einer Doppelherrschaft von Massenorganisationen und Staatsapparat zu einer Revolution überzugehen. Der Grund lag in der geringen Größe und Unerfahrenheit der Organisation. 1978 hatte sie nur aus 800 Kadern bestanden und auch 1980 waren es nicht entscheidend mehr. In einem sehr interessanten Dokument wird dieses Unvermögen, „über eine Kaderpartei hinauszukommen“128 und zu einer Massenpartei zu werden, 1981 von Carpio im Auftrag der Führung der FPL selbstkritisch analysiert.129 Die FPL habe kein klares Konzept vom Parteiaufbau gehabt: Ihre Mitglieder arbeiteten zwar in einem riesigen politischen Syphatisantenumfeld wie dem BPR, rekrutierten aber keine neuen Genossen für eine geschlossen auftretende revolutionäre Partei. Es habe keine „Mentalität der Rekrutierung“130 gegeben, schrieb Carpio 1981. Die FPL sei letztlich immer „ihrer ursprünglichen Struktur – der einer Eliteorganisation – verhaftet geblieben.“131

Erst 1981 beschloss die FPL nach einer sehr selbstkritischen Betrachtung der Arbeit der vergangenen Jahre, eine revolutionäre Massenpartei aufzubauen. Doch es war zu spät: Offene politische Betätigung in den Städten und Teilen des Landes war bereits unmöglich geworden. Um eine Wendung der Ereignisse in El Salvador herbeiführen zu können, hätte es bereits 1979/80 einer in der Arbeiterklasse in Stadt und Land fest verankerten revolutionären Massenpartei bedurft. Doch die 1980 vielleicht 1000 Mitglieder waren einfach viel zu wenig, um einer Massenbewegung in den entscheidenden Momenten eine wirkliche politische Führung anbieten zu können. So musste Carpio 1981 feststellen: „Es gelang durchaus, gute Arbeit zu leisten, die den Massen in ihrem Kampf auch beistehen konnte. Doch in den härtesten, den entscheidenden Momenten zeigte sich immer wieder, dass wir nicht in der Lage waren, die Massen anzuführen.“132 Meines Erachtens ist dies der entscheidende Grund für das Scheitern der Revolution in El Salvador. Sie ist damit ein weiteres Beispiel in der langen Geschichte von Revolutionen, die letztlich aufgrund des Nichtvorhandenseins einer revolutionären marxistischen Massenpartei scheiterten.

1 Gonzalez, Mike: Central America after the Arias plan, in: International Socialism Nr.39,

London 1988, S.117.

2 Darüber hinaus war die FPL bis in die frühen 90er Jahre die bedeutendste Kraft in der FMLN.

3 Heckhorn, Manfred: Die Enkel des Jaguar. El Salvador. Einblicke in ein kleines Land, Berlin

1983.

4 Russell, Philip: El Salvador in Crisis, Austin(Texas) 1984.

5 Carpio, Salvador Cayetano (Comandante Marcial): Unsere Berge sind die Massen. Dokumente und Schriften zur Revolution in El Salvador, Wien 1999.

6 Brönner, Wolfram und Horst Eckart Gross (Hg.): El Salvador – die unsichtbare Front.

Aufzeichnungen aus einem mörderischen Bürgerkrieg, Dortmund 1983.

7 Lateinamerika Nachrichten(Hg.): El Salvador. Ein Land im Kampf um seine Befreiung.

Sondernummer in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle El Salvador e.V., Berlin 1980.

8 Jung, Harald: Class Strugle and Civil War in El Salvador, in: Marvin Gettleman u.a.: El

Salvador. Central America in the new cold war, New York 1981.

9 Jung in… S.66f.

10 Jung in … S.67.

11 Jung in… S. 69.

12 Jung S.70.

13 Jung S.70.

14 Jung S.71.

15 Jung S.74.

16 Jung S.75f.

17 Farabundo Martin, auf den sich die FPL-FM bezieht, war der Gründer der Kommunistischen Partei El Salvadors und Führer des gescheiterten kommunistischen Aufstandes von 1932 gewesen, in dessen Folge über 30.000 Menschen ermordet wurden [Heckhorn, S.67]. Martin wurde später Trotzkismus vorgeworfen. Auch die spätere FMLN bezog sich in ihrem Namen auf Martin.

18 Über die genauen Gründungsdaten der verschiedenen Organisationen gibt es z.T. unterschiedliche Angaben, vgl. hierzu Grenier, Yvon: The Emergence of Insurgency in El Salvador. Ideology and Political Will,

London 1999, S.187.

19 Gonzalez S.106.

20 Brönner S.82.

21 Brönner S.82f.

22 Heckhorn S.104.

23 „Nur auf dem Weg über die demokratische und antiimperialistische Revolution gelangen wir zum Sozialismus.’’ Schafik Handal, Führer der PCS, in : Brönner S.99.

24 Heckhorn S.104. Wobei sich die FPL nicht auf die Theorien Trotzkis zur Permanenten Revolution bezog.

25 Carpio S.130

26 Brönner S.86.

27 Carpio in: Brönner, S.86.

28 Zu dem Begriff “authentische marxistische Tradition” siehe Callinicos, Alex: Die revolutionären Ideen von Karl Marx, Frankfurt/M 1998; Molineux, John: Die authentische marxistische Tradition, Köln 1993 oder Drapper, Hal: The two souls of Socialism, London 1994.

29 Carpio S.140.

30 Carpio S.126.

31 Gonzales S.108.

32 Gonzales S.106.

33 Heckhorn S.105.

34 Heckhorn S.105f.

35 Lateinamerika Nachrichten S.55.

36 Lateinamerika Nachrichten S.55.

37 Heckhorn S.196.

38 Zu den Aktionen der Guerilla siehe Russell S.131-133. Laut Russell blieb die Zahl der Mitglieder dieser Gruppen bis in die späten 70er gering. 1978 habe die Zahl der Guerillas nur bei ca. 100 gelegen.

39 Gonzalez S.107.

40 Kohn Hermann: El Salvador/Nicaragua. Aufstand im US-Hinterhof, Dortmund 1981, S.81.

41 Ebenda.

42 Gonzalez S.107.

43 medico international/Gesundheitsladen Berlin e.V.(Hg.): Krieg in El Salvador. Widerstand

gegen die Weiterentwicklung der Unterentwicklung. Eine Einführung, Berlin 1989, S.49.

44 Heckhorn S.111.

45 Meckhorn S.108.

46 Heckhorn S.110.

47 Heckhorn S.112.

48 Heckhorn S.11.

49 Russell S.129.

50 Kohn S.81.

51 Russell S.130.

52 Russell S.130.

53 Russell S.130.

54 Kohn S.81.

55 Heckhorn S.112. Die Angaben über die Gründung des BPR gehen auseinander. Gonzalez gibt 1977 als Gründungsdatum an, medico international ebenfalls 1975.

56 Medico S.49.

57 Russell S.130.

58 Gonzalez S.110.

59 Gonzalez S.110.

60 Heckhorn S.112.

61 Kohn S.82.

62 Heckhorn S.129.

63 Russell S.130.

64 Russell S.130f.

65 Carpio S.50

66 Lateinamerika Nachrichten S.54.

67 Russell S.71.

68 Heckhorn S.120ff.

69 medico S.49.

70 Heckhorn S.138.

71 Heckhorn S.155.

72 Gonzalez S.110.

73 Heckhorn S.127.

74 Vgl. hierzu Heckhorn, S.127f.

75 Heckhorn S.139.

76 Gonzalez S.117.

77 Heckhorn S.141.

78 Gonzalez S.117.

79 Kohn S. 83.

80 Gonzalez S.117.

81 Zu den Putschisten vgl. Lateinamerika Nachrichten S.24.

82 Lateinamerika Nachrichten S.34f.

83 Lateinamerika Nachrichten S.35.

84 Lateinamerika Nachrichten S.36.

85 Gonzalez S.118.

86 Lateinamerika Nachrichten S.38.

87 Heckhorn S.143.

88 Lateinamerika Nachrichten S. 40f.

89 Heckhorn S.143.

90 Russell S.134.

91 Zit. nach Russell S.134.

92 Lateinamerika Nachrichten S.38f.

93 Lateinamerika Nachrichten S.38.

94 Lateinamerika Nachrichten S.41.

95 Gonzalez S.118.

96 Heckhorn S.151.

97 Heckhorn S:151.

98 Heckhorn S.152.

99 Gonzalez S.118.

100 Russell S.134.

101 Gonzalez S.118.

102 Kohn S.90.

103 Lateinamerika Nachrichten S.46.

104 Gonzalez S.118.

105 Lateinamerika Nachrichten S.46.

106 Lateinamerika Nachrichten S.46.

107 Russell S.134.

108 Lateinamerika Nachrichten S.47.

109 Lateinamerika Nachrichten S.48.

110 Lateinamerika Nachrichten S.48.

111 Kohn S.90.

112 Heckhorn S.152.

113 Russell S.134.

114 Russell S.134.

115 Russell S.134.

116 Gonzalez S. 122.

117 Gonzalez S.122.

118 Russell S.134.

119 Heckhorn S.152.

120 Gonzalez S.123.

121 Lateinamerika Nachrichten S.85

122 Russell S.134.

123 Gonzalez S.120.

124 Heckhorn S.128.

125 Gonzalez S.119.

126 Lateinamerika Nachrichten S.164.

127 Heckhorn S.151.

128 Carpio S.113 und 179.

129 Die marxistisch-leninistische Partei des Proletariats, in: Carpio a.a.O.

130 Carpio S.116.

131 Carpio S.179.

132 Carpio S.111.

Literaturverzeichnis:

Brönner, Wolfram und Horst Eckart Gross (Hg.): El Salvador – die unsichtbare Front.

Aufzeichnungen aus einem mörderischen Bürgerkrieg, Dortmund 1983.

Carpio, Salvador Cayetano (Comandante Marcial): Unsere Berge sind die Massen. Dokumente und Schriften zur Revolution in El Salvador, Wien 1999.

Jung, Harald: Class Strugle and Civil War in El Salvador, in: Marvin Gettleman u.a.: El

Salvador. Central America in the new cold war, New York 1981.

Gonzalez, Mike: Central America after the Arias plan, in: International Socialism Nr.39,

London 1988.

Grenier, Yvon: The Emergence of Insurgency in El Salvador. Ideology and Political Will,

London 1999.

Heckhorn, Manfred: Die Enkel des Jaguar. El Salvador. Einblicke in ein kleines Land, Berlin

1983.

Jokisch, Rodrigo(Hg.): El Salvador. Freiheitskämpfe in El Salvador. Guatemala, Honduras, El

Salvador, Reinbek bei Hamburg 1981.

Kohn Hermann: El Salvador/Nicaragua. Aufstand im US-Hinterhof, Dortmund 1981.

Lateinamerika Nachrichten(Hg.): El Salvador. Ein Land im Kampf um seine Befreiung.

Sondernummer in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle El Salvador e.V., Berlin 1980.

MacLean, John: El Salvador: Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Stuttgart 1987.

medico international/Gesundheitsladen Berlin e.V.(Hg.): Krieg in El Salvador. Widerstand

gegen die Weiterentwicklung der Unterentwicklung. Eine Einführung, Berlin 1989.

Russell, Philip: El Salvador in Crisis, Austin(Texas) 1984.