Geschichte und Perspektiven studentischen Protestes

1968: Der große Aufbruch
Von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre gelang es einer sowohl breiten als auch radikalen Studierendenbewegung, massive Veränderungen an den Hochschulen durchzusetzen: Gegenüber der alten elitären Ordinarienuniversität wurde eine Demokratisierung der Hochschulen erkämpft. Streiks, Gebührenboykotte und Proteste erzwangen eine Abschaffung von Studiengebühren und “Hörgeld”. Die Preise für das Wohnen in studentischen Wohnheimen konnten durch Besetzungen und Boykotte gesenkt werden, und mit der erkämpften Einführung des BAFöG wurde endlich auch Kindern aus ärmeren Familien der Hochschulzugang erleichtert.
Höhepunkt der Proteste war das Jahr 1968, in dem die Unis im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen standen. Zahlreiche Institute waren besetzt, es wurden „Kritische Universitäten“ initiiert und viele Veranstaltungen zu Hochschulspezifischen Themen ebenso wie zu Notstandsgesetzen, dem Vietnamkrieg und den Perspektiven des Sozialismus organisiert, an denen sich oft Tausende beteiligten.
Dass die Ziele der Studierendenbewegung der 60er und frühen 70er Jahre über eine reine Veränderung der Unis hinaus auf eine allgemeine Veränderung der Gesellschaft abzielten, erwies sich dabei als Stärke der Bewegung. Denn aus der gesellschaftsverändernden Stimmung dieser Jahre entstanden für deutsche Verhältnisse z.T. recht radikal geführte Arbeitskämpfe, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, Bewegungen von Lehrlingen und Heimkindern, Hausbesetzungen und vieles mehr. Dass die Studierenden eben nicht nur die Unis, sondern auch die Gesellschaft, deren Teil die Hochschule ist, verändern wollten, erleichterte das Zusammengehen mit anderen Protestbewegungen. Gerade in diesem Kontext konnten die Studierenden realen Druck aufbauen und echte Veränderungen durchsetzen. Die Erfolge der studentischen Proteste wurden durch die im Vergleich zu heute weit besseren ökonomischen Rahmenbedingungen – Wirtschaftswachstum, vollere Haushalte und damit mehr Verteilungsspielräume – erleichtert. Ohne massive, in Form wie Inhalt radikale Proteste hätte es all die Verbesserungen der 70er aber nicht gegeben.

1988: UniWut
Spätestens mit dem Antritt der Kohlregierung, der von ihr verkündeten “geistig-moralischen Wende” und der beginnenden Dominaz neoliberaler Wirtschaftstheorien begannen massive Angriffe auf die Errungenschaft “demokratische Massenuniversität”. Im Zeichen des Neoliberalismus wurde begonnen, an den Hochschulen massiv zu sparen. Die Zahl der BAFöG-EmpfängerInnen wurde stark zurückgedrängt, das BAFöG unter Kohl zu einem Darlehen umgewandelt, das man zurückzahlen muss. Die sich so verschlechternde soziale Lage der Studierenden und die katastrophalen Studienbedingungen als Folge der Einsparungen führten im Winter 1988 zu einer Explosion von “UniWut”. Die bald bundesweite Streikwelle unter diesem Motto begann spontan, entwickelte sich oft unabhängig von Asten und traditionellen hochschulpolitischen Strukturen und schaffte sich mit zahllosen Streikräten und Komitees rasch eine eigene basisdemokratische Struktur. Der Streik wurde als echter Besetzungsstreik geführt. Die Streikenden wohnten und lebten in der besetzten Uni. Zahlreiche “Volxküchen” zur Versorgung der Streikenden und selbstverwaltete Cafes entstanden. An der FU Berlin, einem der Zentren der Bewegung, gab es über 300 autonome Seminare, in denen gelernt und diskutiert wurde. Die Unis wurden so endlich als soziale Orte erfahrbar und von den Studis selbst gestaltet. Unübersehbar waren der Einfluss der Hausbesetzungen der 80er Jahre (Uni als Freiraum) und der Frauenbewegung (strenge Quotierung der Streikräte, Forderungen nach Frauenquote beim Lehrkörper und feministischer Wissenschaft). Zudem wurde massiv die Forderung nach einer Interdisziplinarität von Forschung und Lehre und ihrer gesellschaftlichen Kontrolle und Reflexion erhoben.
Auch die 88er-Bewegung stellte sich in den Kontext anderer sozialer Auseinandersetzungen. Auch wenn der Streik ab Beginn des Jahres 1989 bröckelte, konnte die Bewegung eine Reihe von Erfolgen erzielen. Auf Bundesebene wurde ein Milliardenschweres Finanzierungsprogramm für die Hochschulen aufgelegt. Die Schließung einer Reihe von Fächern wurde verhindert. Verschiedene inhaltliche Forderungen des Protestes wie z.B. die Interdisziplinarität – wenn auch oft nur in deformierter Form – oder feministische Forschungsstränge fanden Eingang in die Hochschulen. Und neue Freiräume innerhalb der Uni wie das Voca (Volxcafe) im Philturm der Uni Hamburg, das Ende der 90er Jahre geräumt wurde, konnten erkämpft werden.
Auch die in Hamburg noch heute bestehenden Teilautonomen Referate (Schwule, Frauen/Lesben, Ausländer) gehen auf den ´88er Streik zurück.
In den 90er Jahren verschlechterte sich die Situation an den Hochschulen infolge fortgesetzter Einsparungen weiter. 1993 gab es in verschiedenen Bundesländern und auch in Hamburg zu Streiks dagegen.

1997: Lucky Streik

Das Wintersemester 97/98 erlebte dann die bisher zahlenmäßig größte Studierendenbewegung der deutschen Geschichte, den „Lucky Streik“. Für Beobachter wie Teilnehmer überraschend breitete sich ab November 1997 eine massive Streik- und Protestwelle über die Universitäten aus. Begonnen hatte alles mit einigen Erstsemestern in Gießen, die wegen völliger Überfüllung ihrer Seminare spontan zu streiken begannen und an alle Unis appellierten, ebenfalls in den Streik zu treten. Getragen vor allem von den unteren Semestern breitete sich die Bewegung immer weiter aus, Anfang Dezember waren über 40 Unis im Streik. Es gab Vollversammlungen mit z.T. Tausenden Teilnehmern, allerorts große Demos und zwei bundesweite Demonstrationen in Bonn mit bis zu 40.000 Teilnehmern. Die Proteste richteten sich gegen die schlechte Ausstattung und Unterfinanzierung der Unis, ein zentraler Slogan war „Seminarleiter statt Eurofighter“. Kennzeichen des „Lucky Streiks“ waren phantasievolle und kreative Aktionen: In Hamburg ging die Bildung mit vielen Studis symbolisch in der winterlichen Alster baden, Blockflötenkonzerte in Einkaufszentren verdeutlichen, wie „die Bildung flöten geht“, Mediziner nahmen Passanten den Blutdruck ab um so „Druck für mehr Bildung“ zu machen. Da die Studis so lieb und lustig auftraten, v.a. mehr Geld für Bildung forderten und die Perspektive einer grundlegenden Veränderung von Hochschule oder gar Gesellschaft weitgehend fehlte, stießen sie auf eine ungekannte Welle medialer und gesellschaftlicher Sympathie. Professoren, Unileitungen, selbst Wirtschaft und Kohlregierung äußerten ihr Verständnis für die Proteste. Das Fehlen herrschaftskritischer Inhalte führte zu einer Vereinnahmung der Proteste von allen Seiten und nahm ihnen zugleich jede Schärfe.
Es gab auch radikalere Strömungen im Protest: Ausdruck davon war die Erstürmung der Bonner Bannmeile bei einer bundesweiten Demo oder die Mittwochsdemos, die wöchentlich synchron in allen Uni-Städten zu Arbeitsämtern, Parteien oder Unternehmerverbänden zogen und an denen sich anfangs bundesweit Zehntausende beteiligten. Zu einer Radikalisierung und Zuspitzung auf inhaltlicher Ebene kam es auf dem von 1.500 Studis besuchten Kongress „Bildung und Gesellschaft“ am Ende des Protestes. Erstmals wurde hier die Auseinandersetzung um die Unis in den Kontext der neoliberalen Globalisierung gestellt.
Aber insgesamt war ein Zusammengehen mit anderen Protestbewegungen im „Lucky Streik“ ebenso umstritten wie eine Radikalisierung der Proteste, und beides fand letztlich nicht statt. So konnte der Protest totgelobt werden, bis er auslief. Direkt erreicht wurde außer einem kleinen Notprogramm für die Bibliotheken in Höhe von 40 Mio. Euro nichts. Das die SPD sich ein Verbot von Studiengebühren im Erststudium auf die Fahnen schrieb und dieses nach der Wahl ´98 auch im Hochschulrahmengesetz verankerte, ging aber direkt auf die Proteste im Winter 97/98 zurück.

In den folgenden Jahren flammten immer wieder lokaler Bewegungen auf, z.B. in Hamburg im Sommer 2002, aber es entwickelte sich keine überregionale Dynamik.
Erst im Wintersemester 2003/04 gab es wieder eine etwas größere Bewegung. Ihren Ausgang nahm sie in Berlin. Auch in Hamburg war einiges los: Streiks, große VVs, zahlreiche studentische „Besuche“ bei Behörden, Parteien und Zeitungen. Im Gegensatz zu 1997 war ein Zusammengehen mit anderen sozialen Bewegungen kaum umstritten, und die Formen der Proteste waren deutlich radikaler. Ein zentraler Slogan war „Bildung für alle – und zwar umsonst“. Ein großes Manko der Proteste war ihre Ungleichzeitig: als die Streiks in Hamburg begannen, waren sie in Berlin schon wieder vorbei. Die Zahl der an den Protesten aktiv beteiligten war wesentlich geringer als bei den großen Streikbewegungen, so dass die Proteste schließlich abflauten, ohne wirklich was zu erreichen.

Perspektiven 2005

Die drohende Einführung von Studiengebühren stellt zusammen mit der nach dem Karlsruher Urteil ebenfalls drohenden Abschaffung der Verfassten Studierendenschaften (Asten etc.) den bisher dramatischsten Angriff auf die einst erkämpfte demokratische Massenuniversität dar.
Einem derartigen Frontalangriff kann man mit halbherzigen Protesten nicht erfolgreich begegnen. Wenn wir Studiengebühren für alle noch verhindern wollen, müssen wir im Sommer aufs Ganze gehen. Dass Sommersemester muss ein krachiges Streik- und Protestsemester werden – oder Studiengebühren werden so kommen, wie der Senat sich das vorstellt.
Der Blick in die Geschichte zeigt: Studierendenproteste waren dann erfolgreich, wenn sie breit getragen wurden, entschlossen waren und über die Unis hinaus Verbindungen mit anderen sozialen Bewegungen suchten.
Gerade letzteres ist auch heute angesagt. Das Verständnis von Studiengebühren als einem Teil einer umfassenden neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft ist für unsere Proteststrategien wichtig. Studien- und Arztpraxisgebühren entspringen der gleichen Logik. Kürzungen und Privatisierungen erleben wir im gesamten Bildungs- wie Gesundheitsbereich, bei der sozialen Grundversorgung wie bei den Renten. Es ist an der Zeit, dass der neoliberalen Offensive endlich in einem der so zahlreichen von ihr betroffenen Bereiche ein großes STOP-Schild entgegengehalten, ihr ein unüberhörbares „Es reicht“ entgegengeschrieen wird. Wenn wir das hinkriegen, können wir uns breiter Sympathien und Solidarität in der Bevölkerung sicher sein.
Da Studiengebühren uns wahrscheinlich alle treffen werden, sind die Voraussetzungen für eine an den Unis breit getragene Bewegung gut. Wichtig ist, von Anfang an ein plurales Verständnis unserer Proteste zu haben: Auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit zielende „die Bildung geht baden“-Aktionen müssen darin ebenso ihren Platz haben wie direkte Aktionen zivilen und sozialen Ungehorsams.
Da die Auseinandersetzungen nun v.a. auf Länderebene geführt werden, stehen unsere Chancen, wirklich etwas zu erreichen, gut. Hier in Hamburg können wir ein echter politischer Faktor sein, wenn wir unsere Sache ernst nehmen, uns nicht spalten lassen und immer den Kontakt zu anderen Sozialprotesten suchen. Wenn wir Studiengebühren noch verhindern wollen, werden wir viel Mut, Entschlossenheit und einen langen Atem brauchen. Wenn wir all das haben, können wir viel erreichen.

Geschichte und Perspektiven studentischen Protestes
von Florian Wilde, 2005 hochschulpolitischer Referent im Asta der Uni Hamburg. Veröffentlicht in Asta Uni HH (Hg.): Asta la victoria – summer of resistance, Hamburg, 2005.