Juden im Trotzkismus

(rosalux)

Einsame Propheten?

Juden im Trotzkismus. 

Von Florian Wilde. In: Riccardo Altieri, Bernd Hüttner, Florian Weis: Die Arbeiter*innenbewegung als Emanzipationsraum. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 3), Berlin 2023, S. 69-77.

Es gibt wohl keine andere Strömung der internationalen Linken, die in den letzten 100 Jahren sowohl derart internationalistisch ausgerichtet als auch derart stark von säkularen Jüdinnen und Juden geprägt gewesen ist wie der Trotzkismus. Als sich dieser ab Mitte der 1920er-Jahre zunächst als Linke Opposition innerhalb der kommunistischen Weltbewegung herauszubilden begann, verteidigte er gegen die stalinsche Theorie vom «Sozialismus in einem Land» die weltrevolutionär-internationalistische Perspektive der ersten Weltkongresse der Dritten Internationale. Der Aufbau einer daran anknüpfenden neuen Vierten Internationale steht seit den 1930er-Jahren im Zentrum trotzkistischen Wirkens. Aber auch die Prägung durch säkulare Juden war dem Trotzkismus bereits von seinem Gründervater Leo Trotzki (Lew Dawidowitsch Bronstein) an eingeschrieben.

Dabei galt wohl für die allermeisten jüdischen Trotzkist*innen, was Trotzki 1903 vor jüdisch-sozialistischen Bundist*innen über sich selbst erklärt hatte: nämlich weder Russe noch Jude, sondern Internationalist zu sein – eine Haltung, die später von seinem Biografen Isaac Deutscher auf die Formel des «nichtjüdischen Juden» gebracht wurde. In diesem Sinne handelt es sich bei allen in diesem Text erwähnten Akteur*innen – bis auf Josef Stalin, C. L. R. James und Juan Posadas – um Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund, die in der trotzkistischen Bewegung aktiv waren. Wie Trotzki selbst legten sich auch viele weitere jüdische Trotzkisten Decknamen zu, um ihren Familienhintergrund zu verbergen. Und wie Trotzki führten auch viele seiner Anhänger*innen ein von Flucht und Migration geprägtes, kosmopolitisches Leben voll internationaler Verbindungen. Anders als er wirkte aber keiner von ihnen jemals wieder an der Spitze einer Revolution oder in der Führung eines revolutionären Staates. Zur ungewollten Vorlage für die sich auf ihn berufenden Strömungen wurden nicht seine großen Jahre 1917 bis 1923, sondern vielmehr sein letztes Lebensjahrzehnt, in dem er verfolgt, isoliert und an den Rand der Arbeiterbewegung gedrängt wurde.

Schon in der Führung der Linken Opposition in der Sowjetunion der 1920er- und 1930er-Jahre fanden sich überdurchschnittlich viele Juden, darunter Karl Radek, Adolf und Nadeschda Joffe, Jakob Drobnis, Rafail Farbman und Lew Sosnowski. Ähnlich sah es in der internationalen Linken Opposition aus. In Österreich gründeten Kurt Landau und Josef Frey 1927 die erste trotzkistische Organisation, in der auch der Psychoanalytiker Ernst Federn und der Publizist Kurt Hirsch aktiv waren. Landau gründete 1930 auch die erste explizit trotzkistische Organisation in Deutschland, während Frey 1938 ins Schweizer Exil ging und dort zusammen mit Heinrich Buchbinder den Aufbau einer Sektion der Vierten Internationale vorantrieb; für die Tschechoslowakei sind Trotzkis Sekretär Jan Frankel zu nennen, und für Polen Hersh Mendel.

Der Große Terror Stalins eliminierte den Trotzkismus in der Sowjetunion physisch. Er schlug aber auch auswärts zu: Neben dem im mexikanischen Exil mit einem Eispickel erschlagenen Trotzki selbst wurden auch mindestens elf seiner Familienangehörigen im Auftrag Stalins ermordet, darunter in Paris sein Sohn Leo Sedow, der zeitweilig sein engster Mitarbeiter beim Aufbau der 1938 gegründeten Vierten Internationale war, aber auch Kurt Landau 1937 in Spanien.

Waren jüdische Trotzkisten von der stalinschen Sowjetunion nicht als Jüdinnen und Juden, sondern als Trotzkisten verfolgt worden, so basierte der nationalsozialistische Terror in Europa auf einer Kombination aus Antikommunismus und Antisemitismus. Damit stellte er für sie wie für alle jüdischen Linken eine doppelte existenzielle Bedrohung dar: wegen ihrer Herkunft und wegen ihrer Haltung. Trotz seiner Ausrottung durch den Stalinismus in der Sowjetunion und in Mittelost- und Osteuropa, trotz seines hohen Blutzolls unter dem Nationalsozialismus und trotz der Hinwendung ehemals marxistischer jüdischer Milieus zum Zionismus als Konsequenz aus dem Scheitern auch der Arbeiterbewegung bei der Rettung des europäischen Judentums blieb der Trotzkismus weiterhin in einem bemerkenswerten Maße von Juden geprägt.

Prägend in internationalen Zusammenschlüssen …

Dies gilt namentlich für die Führung der Vierten Internationale, auch über Trotzkis Tod hinaus. Zunächst stand der in Alexandria als Sohn einer griechisch-jüdischen Mutter geborene Michel Pablo (Michalis Raptis) mit dem niederländischen Berufsrevolutionär Sal Santen als engstem Berater an ihrer Spitze. Ihm folgte mit Pierre Frank ein französischer und mit Ernest Mandel ein belgisch-deutscher Trotzkist nach. Von ihren Anfängen bis zu Mandels Tod 1995 wies die Vierte Internationale damit Jahrzehnte lang durchgehend jüdische Führungsfiguren auf. Auch viele Abspaltungen von der Vierten Internationale wurden von jüdischen Trotzkisten angeführt, etwa die in den späten 1940er-Jahren in Großbritannien von dem aus Palästina emigrierten Tony Cliff (Yigael Gluckstein[1]) gegründeten International Socialists (IS), die sich später Socialist Workers Party (SWP) nannten und als internationalen Zusammenschluss die International Socialist Tendency (IST) hervorbrachten. Etwa zur selben Zeit bildete sich auch die Militant-Strömung heraus (internationaler Zusammenschluss: Committee for a Workers International, CWI). Diese wurde von Ted Grant (Isaac Blank) gegründet, der mit anderen jüdischen Mitgliedern einer trotzkistischen Gruppe aus Südafrika nach Großbritannien emigriert war. 1953 kam es zu einer großen Spaltung der Vierten Internationale, als sich das International Committee of the Fourth International (ICFI) um Pierre Lambert (Boussel) von ihr trennte, während Pablo 1972 die kleine International Revolutionary Marxist Tendency (IRMT) gründete. Rechnet man die von der US-amerikanischen Internationalist Group um Jan Norden, Marjorie Salzburg und Mark Rosen angeführte League for the Fourth International (LFI) hinzu, lassen sich für mindestens elf trotzkistische Internationalen jüdische Gründerväter nachweisen[2] bzw. für das sich um die US-amerikanische Freedom Socialist Party (FSP) gruppierende Committee for Revolutionary International Regroupment (CRIR) mit Clara Fraser eine Gründermutter.

… in den vier Zentren des Welttrotzkismus …

In seiner 2022 erschienenen Studie «The Twilight of World Trotskyism» arbeitet John Kelly vier Länder als Zentren des Welttrotzkismus heraus: Frankreich, Großbritannien, die USA und Argentinien. 26 der gegenwärtig 32 divergierenden internationalen trotzkistischen Zusammenschlüsse haben in einem dieser Länder ihre Zentrale. Entsprechend groß ist die Ausstrahlung ihrer vier geografischen Zentren auf die trotzkistische Bewegung insgesamt. In jedem von ihnen lässt sich eine starke Prägung durch jüdische Trotzkisten belegen. Besonders ausgeprägt war diese bei der französischen Sektion der Vierten Internationale, der Ligue communiste révolutionnaire (LCR), deren Jugendorganisation um 1968 aus einem Drittel jüdischer Genoss*innen bestanden haben soll – und dass bei einem jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa einem Prozent. Darauf anspielend machte in den 1970er-Jahren folgender Witz die Runde: «Warum wird im Politbüro der LCR französisch und nicht jiddisch gesprochen? Weil Daniel Bensaïd als Sephardi kein Jiddisch spricht.» Neben dem Philosophen Bensaïd gehörten zu den weiteren führenden jüdischen Akteuren der Philosoph Michael Löwy, der Politiker Henri Weber, die Lateinamerika-Expertin Janette Habel (Pienkny), der spätere Gründer der LCR-Abspaltung Gauche Unitaire Christian Picquet (Lamothe) und Alain Krivine, der 1999 als Kandidat einer gemeinsamen Liste der LCR mit ihrer trotzkistischen Konkurrentin Lutte Ouvrière (LO) ins Europaparlament gewählt wurde. LO geht zurück auf die in den 1930er-Jahren von dem aus Rumänien emigrierten David Barta (Korner) gegründete Wochenzeitung Lutte Ouvrière/Union Communiste. Deren Chefredakteur war lange Michel Rodinson, der wie einige andere LO-Militante aus der linkszionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair heraus gewonnen wurde. Aber auch in der anderen trotzkistischen Konkurrentin der französischen LCR, der Parti Communiste Internationaliste mit ihren zeitweilig 8.000 Mitgliedern, war die jüdische Präsenz stark ausgeprägt, angefangen mit ihrem Gründer Lambert über die Historiker David Assouline und Benjamin Stora bis hin zu ihrem späteren Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten Daniel Gluckstein. Glucksteins Eltern, Bundisten aus dem Ghetto von Lodz, waren dort mit den Eltern von Maurice und Charles Najman befreundet gewesen, die 1969 in Paris die Alliance marxiste révolutionnaire (AMR) gründeten, eine Organisation in der Tradition Michel Pablos.

In Großbritannien wurde den damals nur wenige Hundert Mitglieder zählenden International Socialists (IS) wegen der Zusammensetzung ihrer Führung (neben Tony Cliff seine aus Südafrika emigrierte Frau Chanie Rosenberg und ihr Bruder Michael Kidron sowie Chris Harman und John Rose) und ihrer Diskussionsfreudigkeit in den 1960er-Jahren sogar explizit eine «jüdische politische Kultur» attestiert.

Diese fand man jenseits des Atlantiks auch im Milieu der SWP, der jahrzehntelang stärksten Organisation des US-Trotzkismus mit zu Hochzeiten gut 1.800 Mitgliedern, darunter viele oft aus Osteuropa emigrierte Jüdinnen und Juden. Schon zu ihren Gründern 1938 gehörten auffällig viele von ihnen, darunter Martin Abern (Abramowitz), George Breitman, Joseph Carter (Friedman), Bert Cochran (Alexander Goldfarb), Albert Goldman, William Gorman (Morris Goelman), Antoinette Konikow, Morris Lewit (Stein), John Wright (Vanzler), Begründer der Theorie einer permanenten Rüstungswirtschaft, Ed Sard (Salomon) sowie der Filmemacher David Loeb Weiss. Als weitere prominente jüdische SWP-Mitglieder sind unter anderem zu nennen: der durch seine Studie zur spanischen Revolution bekannt gewordene Publizist Felix Morrow, der Literaturtheoretiker Paul Siegel, das Führungsmitglied der Bürgerrechtsorganisation NAACP Herbert Hill, die Feministin Evelyn Reed und der spätere Gründer der Workers World Party Sam Marcy (Ballan). Auch die von dem in Warschau geborenen und nach New York emigrierten Max Shachtman[3] gegründete SWP-Abspaltung Workers Party (WP), später Independent Socialist League (ISL), war mit ihrer Hochburg in Brooklyn in den 1950er-Jahren bemerkenswert stark jüdisch geprägt. Hier waren auch die Historiker George Rawick und Martin Glaberman sowie Selma Weinstein mit ihrem Partner C. L. R. James organisiert. Die Repression in der McCarthy-Ära konnte diese Traditionen nicht ganz zerstören und so knüpften in den 1960er-Jahren die Independent Socialist Club (ISC) um Hal Draper (Harold Dubinsky) und in den 1970er-Jahren die US-International Socialists um Joel Geier an sie an.

In Argentinien mit seiner großen aschkenazischen Gemeinde hatten sich nicht wenige Juden der Stadtguerilla PRT-ERP angeschlossen, die bis 1973 der Vierten Internationale angehörte, darunter der von der zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair kommende David Armando Laniado, der ebenso wie später Adriana Ruth Gelbspan, Nina Judith Goldberg und Nora Ester Hochman Freinkil erschossen wurde, während Alejandra Jaimovich zu den vielen «Verschwundenen» zählt. Denn der Terror der rechtsextremen Militärdiktatur traf ab 1976 insbesondere auch jüdische Linke – bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von einem Prozent waren zwölf Prozent der 30.000 Diktaturopfer jüdisch.

Trotzdem konnte sich das Land zu einer Hochburg des Trotzkismus mit deutlich jüdischem Einschlag entwickeln: So erzielte die Linksfront aus Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) und zwei weiteren trotzkistischen Formationen bei den Parlamentswahlen 2021 fast sechs Prozent der Stimmen und stellt vier Abgeordnete, von denen mit Myriam Bregman (PTS) eine jüdische Wurzeln aufweist, wie etwa auch der Theoretiker Daniel Gaido und der Vorsitzende der PO, Jorge Altamira (Samuel Wermus). Altamira gründete 2004 gemeinsam mit dem Vorsitzenden der griechischen Workers Revolutionary Party (EEK), dem Philosophen Savas Matsas (Sabetai Benaki Matsas), als internationalen Zusammenschluss das Coordinating Committee for the Refoundation of the Fourth International (CRFI). Nebenan in Brasilien konnte hingegen die Trotzkistin Luciana Genro als Präsidentschaftskandidatin der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) 2014 mit 1,6 Millionen Stimmen den vierten Platz belegen.

… jenseits der Zentren …

Denn auch außerhalb der vier Zentren des Trotzkismus lässt sich eine bemerkenswerte Beteiligung von Juden an der ja meist eher kleinen trotzkistischen Bewegung feststellen. Einen nicht geringen Anteil an der Präsenz von Jüdinnen und Juden in der trotzkistischen Bewegung haben die vielen Übertritte von Linkszionist*innen, die aus dem internationalen pfadfinderartigen Jugendverband Hashomer Hatzair stammten, zum Trotzkismus. Diese Übertritte vollzogen sich in zwei größeren Wellen in den 1930er- und 1960er-Jahren. So hatten die trotzkistischen antifaschistischen Widerstandskämpfer Abraham Léon, Martin Monath und Dov Shas ihre Wurzeln ebenso in dieser Bewegung wie die deutschen Trotzkisten Jakob Moneta,[4] Rudolf Segall und Paul Ehrlich, die in ihren Kibbuzim in Palästina geprägt worden waren. Wie Chanie Rosenberg in Südafrika hatte auch Baruch Hirson seine politischen Aktivitäten in der linkszionistischen Jugendbewegung begonnen, ebenso der französische Lambertist Boris Fraenkel und eine Reihe der bereits genannten LCR-Mitglieder. In Israel selbst, wo die jüdische Prägung des Trotzkismus wenig überraschend ist, ging seine Wiederbelebung mit der Gründung der Organisation Matzpen 1962 auf das ehemalige Hashomer-Hatzair-Mitglied Moshé Machover zurück, zusammen mit Akiva Orr (Karl Sonnenberg), Arie Bober und anderen. Zu ihren prominentesten Köpfen gehört Michel Warschawski, der zeitweise wegen Unterstützung der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) im Gefängnis saß und das Alternative Information Center in Jerusalem gründete.

Selbst in Westdeutschland spielten Überlebende der Shoah eine wichtige Rolle beim Aufbau trotzkistischer Gruppen. In Bezug auf die Sektion der Vierten Internationale gehörten nach der Befreiung vom Faschismus neben den Ex-Hashomer-Hatzair-Mitgliedern Segall und Moneta auch weitere Palästinarückkehrer wie Susi und Bertold Scheller dazu. Die deutsche IST-Sektion Sozialistische Arbeitergruppe (SAG) wurde 1971 von der in Haifa geborenen Maya Cohen-Mosler in Frankfurt am Main mitgegründet. Ebenfalls in Frankfurt rief Paul Schulz, der sich im argentinischen Exil 1944 der von Daniel Malach mitangeführten Grupo Cuarta Internacional (GCI) des Argentiniers Juan Posadas angeschlossen hatte, 1969 die Gruppe Revolutionärer Kommunisten (Posadisten) ins Leben. Die Posadisten rekrutierten in Frankfurt auch Harri Grünberg, der in Venezuela zunächst Hashomer Hatzair beigetreten war und dann in den 1970er-Jahren bei Matzpen in Israel und in der sich nun Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) nennenden Sektion der Vierten Internationale in Deutschland aktiv wurde, um in den 1980er-Jahren in der Leitung der Pablisten-Internationale IRMT zu wirken. Ebenfalls in Frankfurt konnten die Lambertisten der Internationalen Arbeiterkorrespondenz (IAK) um 1980 ein knappes Dutzend jüdischer Gymnasiast*innen für sich gewinnen.

Von Kanada, wo 1932 die erste trotzkistische Organisation Workers Party von Maurice Spector gegründet wurde und Barry Weisleder heute als Generalsekretär der Socialist Action (SA; 4.) amtiert, über Spanien, wo der Brite Steve Cedar eine wichtige Rolle bei En Lucha (EL; IST) spielte, Südafrika, wo der Trotzkistenführer Baruch Hirson neun Jahre wegen Sabotageakten gegen das Apartheitsregime im Gefängnis saß, und der Türkei, wo der Istanbuler Journalist Ron Margulies 1997 die Devrimci Sosyalist İşçi Partisi (DSİP; IST) mitgründete, bis Australien, wo der Historiker Rick Kuhn 1995 an der Gründung der Socialist Alternative (SA; IST) beteiligt war, lassen sich in vielen Ländern Beispiele prägender Juden im Trotzkismus anführen.

… und unter Intellektuellen

Aber nicht nur unter den führenden Mitgliedern trotzkistischer Organisationen finden sich oft überdurchschnittlich viele Jüdinnen und Juden. Auch unter trotzkistischen Intellektuellen spielen sie eine auffällige Rolle. So wurde eine der wichtigsten marxistischen Untersuchungen zur «jüdischen Frage» von dem in Auschwitz ermordeten belgischen Trotzkisten Abraham Léon verfasst.[5] Und wenige Bücher dürften wohl so sehr zur Popularisierung der Ideen des «einsamen Propheten» beigetragen haben wie die dreibändige Trotzki-Biografie des aus Polen nach Großbritannien emigrierten Isaac Deutscher. Die Theoretikerin Freddie Forest (Raya Dunayevskaya), die aus Litauen in die USA emigriert war, begründete dort die philosophische Richtung des «marxistischen Humanismus». Wichtige Beiträge zu jüdischer Geschichte und Linguistik verfasste der belgische Trotzkist Nathan Weinstock, wichtige Werke zur Musiktheorie der amerikanische Komponist George Perle, der wie seine Frau, die Cartoonistin Laura Slobe, der SWP angehörte. Bei ihnen allen ging politische Arbeit unmittelbar mit der intellektuellen Tätigkeit einher, so auch bei dem italienischen Kunsthistoriker Arturo Umberto Samuele Schwarz, der 1946 die ägyptische Sektion der Vierten Internationale mitbegründete. Mit den New York Intellectuals gab es in den 1930er- und 1940er-Jahren sogar eine ganze vom Trotzkismus beeinflusste Intellektuellen-Kohorte, deren Angehörige überwiegend aus jüdischen Elternhäusern stammten und von denen viele Mitglieder trotzkistischer Organisationen waren, darunter die Literaturkritiker Irving Howe und Leslie Aaron Fiedler, der Soziologe Nathan Glazer und die Herausgeber des Magazins New Politics, Julius und Phyllis Jacobson.

Warum die Affinität zum Trotzkismus?

Wenn es stimmt, dass in keiner anderen Strömung der internationalen Linken der letzten 100 Jahre Jüdinnen und Juden so relativ stark und prominent vertreten waren wie im internationalismusfixierten Trotzkismus – wie wäre dann diese Affinität zwischen Trotzkismus und Menschen mit jüdischer Herkunftsfamilien zu erklären?

Eine erste Erklärung mag ein Karl Radek zugeschriebener Witz illustrieren: «What’s the difference between Moses and Stalin? Moses took the Jews out of Egypt, Stalin takes them out of the Communist Party.» Die antitrotzkistischen Kampagnen Stalins hatten immer auch eine antisemitische Note, und spätestens[6] mit der angeblichen Moskauer «Ärzteverschwörung» und dem Slánský-Prozess in Prag 1952 schlug Stalins Politik sogar in offenen Antisemitismus um. Manche davon abgestoßene Jüdinnen und Juden wandten sich dem Trotzkismus zu.

Einen weiteren Grund dürfte das Versagen der stalinistisch geführten kommunistischen Parteien und namentlich der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei der Abwehr des aufkommenden Faschismus darstellen, der jüdische Linke in Trotzkis klarsichtiger Faschismusanalyse eine Alternative erblicken ließ. Dass sich viele kommunistische Parteien in Westeuropa nach 1945 um ein legalistisches Auftreten bemühten, während sich viele Trotzkisten einem explizit militantem Antifaschismus verschrieben, mag ebenfalls zur Affinität jüdischer Linker zum Trotzkismus beigetragen haben.

Ein Hauptgrund ist darüber hinaus in dem auf ein Gregor-Gysi-Zitat zurückgehenden Titel des zweiten Bands dieser Reihe zu finden: «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten.»[7] Bei Gysi bezog sich dies auf die allgemeine Ausgrenzung der sozialistischen und kommunistischen Bewegung, die diese für die ebenfalls von Ausgrenzungserfahrungen geprägten Jüdinnen und Juden attraktiv machte. Wenn diese Beobachtung stimmt, muss sie in besonderem Maße für die Trotzkisten als innerhalb der bereits ausgegrenzten Arbeiterbewegung spezifisch ausgegrenzten Richtung gelten. Sie boten einen transnational jüdisch mitgeprägten politischen Lebensraum, in dem Ausgegrenzte sich nicht einsam fühlen mussten.

Aber es gibt wohl noch eine weitere Dimension: die gewissen Ähnlichkeiten kultureller Praktiken zwischen Judentum und Trotzkismus. Nach der Vertreibung aus dem gelobten Land Israel wurde in der Diaspora jahrhundertelang in endlosen Textexegesen um die Interpretation der Gründungsschriften gerungen, um eine den Schriften angemessene (Lebens-)Praxis zu entwickeln, was zur Zersplitterung in zahlreiche sich um charismatische Anführer gruppierende, zankende Sekten führte – ganz ähnlich, wie es dem Trotzkismus nach seiner Vertreibung aus der Dritten Internationale und dem«Vaterland der Werktätigen», der Sowjetunion, erging. Der Trotzkismus bot jüdischen Menschen so in gewisser Weise die Möglichkeit, ihnen vertraute, uralte kulturelle Praktiken unter säkularen Vorzeichen fortzuführen.

Eine solche These vertritt auch der Londoner Professor für Israel-Studien Colin Shindler: «Trotskyism has always interested Jews because of its almost Talmudic adherence to text and interpretation. Its leaders were treated like Chasidic rebbes, held court for their followers and did not work for a living.»[8] Der AMR-Gründer und spätere Filmregisseur Charles Najman brachte das Verhältnis auf die Formel: «Der trotzkistische Messianismus ist die Frucht der Begegnung von jüdischem Mystizismus und revolutionärem Mystizismus».[9]

Ist nun zu erwarten, dass sich diese relative Affinität zwischen jüdischen Menschen und Trotzkismus im 21. Jahrhundert fortsetzen wird? Einige der oben angeführten Gründe haben zumindest deutlich an Wirkmächtigkeit verloren. Mit dem Tod Stalins ließen die antisemitischen Auswüchse der offiziellen kommunistischen Bewegung allmählich nach und die einst massive Ausgrenzung der Trotzkisten aus der internationalen Linken hat längst ein Ende gefunden. Ob eine talmudisch anmutende Kultur der Textexegese im Zeitalter videofixierter sozialer Medien ihre Attraktivität zu bewahren vermag, darf bezweifelt werden. So ist durchaus denkbar, dass sich der im letzten Jahrzehnt mit den Spaltungen und Krisen vieler der hier genannten internationalen Zusammenschlüsse und nationalen Sektionen abzeichnende Bedeutungsverlust des immer schon eher marginalen Trotzkismus fortsetzen und damit auch seine relativ starke Basis unter Menschen mit jüdischer Familiengeschichte zunehmend schwinden wird. Auf der anderen Seite scheinen gerade die 2020er-Jahre mit Wirtschaftskrisen, Kriegsgefahren und dem weltweitem Aufschwung der extremen Rechten vom Wiederaufkommen von Bedingungen zu künden, unter denen sich in den 1930er-Jahren einst der Trotzkismus herausbildete, unter denen damals aber auch der Faschismus die industrielle Vernichtung des europäischen Judentums in Angriff nahm. Sollte es der trotzkistischen Bewegung künftig gelingen, glaubwürdige sozialistische Perspektiven zu formulieren und diese mit einer erfolgsversprechenden antifaschistischen Strategie zu verbinden, könnten sowohl der Trotzkismus wie die Affinität relativ vieler jüdischer Menschen zu ihm möglicherweise auch wieder einen Aufschwung erleben.

Dank für wertvolle Hinweise zu diesem Beitrag gebührt Mitgliedern der Facebook-Gruppe «Trotzkismus in Deutschland».

[1] Vgl. hierzu Wilde, Florian: Der heterodoxe Trotzkist. Tony Cliff (1917–2000), in: Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd/Weis, Florian (Hrsg.): «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten». Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, Bd. 2, Berlin 2022, S.121–126.

[2] Vgl. die Übersicht ebd., S. 122.

[3] Siehe dazu den Beitrag von Mario Keßler «Vom Trotzkismus zur Sozialdemokratie. Max Shachtman (1904–1972)» in diesem Band.

[4] Vgl. dazu Will, John S.: Jakob Moneta – jüdischer Internationalist und sozialistischer Gewerkschafter. Ein Leben im «kurzen 20. Jahrhundert», in: Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd/Weis, Florian (Hrsg.): «Die jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen». Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, Berlin 2021, S. 81–89.

[5] Léon, Abraham: Judenfrage und Kapitalismus. Historisch-Materialistische Analyse der Rolle der Juden in der Geschichte bis zur Gründung des Staates Israel. Schulungstext zur Wirtschaftsgeschichte Europas, München 1971.

[6] Vgl. dazu Tosstorff, Reiner: Das Jüdische Antifaschistische Komitee. Zwischen internationaler Mobilisierung des jüdischen Antifaschismus und den Zwängen stalinistischer Macht, in: Altieri/Hüttner/Weis: «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten», S. 61–71.

[7] «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten». Gregor Gysi über jüdisch-linke Beziehungen und Antisemitismus, in: Altieri/Hüttner/Weis: «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten», S. 9–19.

[8] Shindler, Colin: Trotskyites and the talmudic tendency, The Jewish Chronicle, 18.8.2016, unter: www.thejc.com/comment/analysis/trotskyites-and-the-talmudic-tendency-1.62746.

[9] Zit. n. Gutierrez, Laurent: L’héritage juif révolutionnaire, ou les fils de la Révolution, La Riposte, 14.8.2020, unter: www.lariposte.org/2020/08/lheritage-juif-revolutionnaire-ou-les-fils-de-la-revolution/.