KPD: Konsolidierung als Massenpartei

Foto-Archiv Karl-Dietz-Verlag Berlin

(Marxistische Blätter)

Konsolidierung einer Massenpartei.

Ernst Meyer als KPD-Vorsitzender 1921/22.

 

Von Florian Wilde.

 

Ernst Meyer war eine herausragende Führungsfigur des frühen deutschen Parteikommunismus. 1921/22 stand er als Parteivorsitzender an der Spitze der KPD. Als Anhänger einer revolutionären Realpolitik hatte er wesentlichen Anteil an der Entwicklung und Anwendung der kommunistischen Einheitsfrontstrategie. Im Folgenden soll Meyers Wirken 1921/22 vorgestellt werden.

 

Nachdem Ernst Meyer bei der Wahl der KPD-Zentrale auf dem Jenaer Parteitag Ende August 1921 bereits die meisten Stimmen erhalten hatte, wählte ihn die Zentrale zum Vorsitzenden des Polbüros – was ihn bis zum Leipziger Parteitag im Januar 1923 faktisch zum Parteivorsitzenden machte.[1]

Schon in den Jahren zuvor hatte Meyer eine wichtige Rolle auf dem linken Flügel der deutschen Arbeiterbewegung gespielt.[2]Bereits vor Kriegsausbruch zum linken Flügel der SPD und um Freundeskreis um Rosa Luxemburg zählend, gehörte nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu den Gründern und Führern der Gruppe Internationale und des aus ihr hervorgegangenen Spartakusbundes. Diese Gruppen vertrat er auch als Delegierter auf den internationalen Treffen sozialistischer Kriegsgegner in Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916). Auf dem Gründungsparteitag der KPD wurde er in die Zentrale der Partei gewählt, der er in den folgenden Jahren fast ununterbrochen angehörte und in der er verschiedene leitende Funktionen übernahm. Am II. und IV. Weltkongress der Komintern nahm Meyer als Delegierter der KPD teil. In Folge der Verhaftung des KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler im April 1921 hatte Meyer bereits kommissarisch die Leitung der Partei übernommen und wurde in dieser Funktion nach dem Jenaer Parteitag bestätigt.

 

Die KPD befand sich im Sommer 1921 in einer tiefen Krise. Sie war erst wenige Monate zuvor durch ihren Zusammenschluss mit dem linken Flügel der USPD zu einer Massenpartei geworden und hatte sich zunächst, auch unter Einfluss Meyers, einer „Offensivstrategie“ verschrieben. Im März 1921 stürzte sie sich in das Abenteuer eines isolierten Aufstandsversuches. Das Scheitern dieser „Märzaktion“ führte zu einem Mitgliederexodus: Hatte die Mitgliederzahl nach der Vereinigung bei 350.000 (nach anderen Angaben sogar 448.500) gelegen, betrug sie im August 1921 nur noch 180.443. Innerparteiliche Auseinandersetzungen mündeten im Ausschluss Paul Levis und einiger seiner Anhänger und deren Konstituierung als „Kommunistische Arbeitsgemeinschaft“ (KAG). Der KPD wurde Putschismus vorgeworfen, die Partei war in der Arbeiterbewegung isoliert und lag vielerorts monatelang am Boden.

 

Die Wende zur Einheitsfront

Als Konsequenz aus dem katastrophalen Ausgang der Märzaktion und dem darin sichtbar werdenden Abebben der revolutionären Nachkriegswelle läutete der III. Weltkongress der Komintern im Sommer unter dem Slogan „Heran an die Massen“ die Wende hin zur Einheitsfrontpolitik ein. Mit ihr wurde ein Konzept entwickelt, dass es den kommunistischen Parteien erlauben sollte, in nichtrevolutionären Zeiten ihre revolutionäre Identität zu bewahren, gleichzeitig aber politik- und bündnisfähig zu bleiben und eine Perspektive auf die Gewinnung der Massen für den Kommunismus zu behalten. Die Beschlüsse des Weltkongresses blieben aber relativ wage. Es oblag den verschiedenen kommunistischen Parteien, die neue Linie in der folgenden Zeit praktisch zu erproben. So auch der KPD, deren Zentrale nun Ernst Meyer vorstand. Er tat sich zunächst schwer damit, die von ihm mitgeprägte Offensivtaktik zugunsten ihres Gegenteils, einer Einheitsfrontorientierung, aufzugeben. Seine Zurückhaltung und seine Bedenken schwanden aber bald. Meyer wurde rasch und nachhaltig zu einem der energischsten Verfechter der neuen Linie, vor allem unter dem Eindruck der positiven praktischen Erfahrungen, die die KPD unter seiner Leitung bald mit ihr machte.

Die Weiterentwicklung und Anwendung der auf dem III. Weltkongress der Komintern 1921 verabschiedeten Einheitsfrontstrategie ist Meyers originellster Beitrag zur kommunistischen Theorie und Praxis. Bei der Einheitsfront handelt es sich um das Konzept einer revolutionären Realpolitik, also den Versuch, in einem nichtrevolutionären Umfeld eine massenwirksame revolutionäre Politik zu betreiben. Wenn die unerlässliche Voraussetzung einer Revolution die Gewinnung proletarischer Mehrheiten für den Kommunismus ist (und hierin war Meyer unbedingt ein Schüler Rosa Luxemburgs), diese Mehrheiten aber noch der reformistischen Sozialdemokratie folgen, so musste die KPD nach Wegen suchen, sie vom Reformismus zu lösen. Als effektivstes Mittel hierfür sah Meyer die Einheitsfrontstrategie. Bei dieser war nicht mehr die Radikalität einer Forderung an sich das entscheidende Kriterium, sondern die Frage, ob sie zu breit getragenen außerparlamentarischen Kämpfen der gesamten Arbeiterschaft führen und eine radikalisierende, über den parlamentarischen Horizont hinausweisende Dynamik entfalten könne. Dabei bildete der Kampf für konkrete Verbesserungen und die Perspektive einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft keinen Gegensatz, sondern eine innere Einheit. Dieses Herangehen machte auch Angebote an die SPD für gemeinsame Aktionen erforderlich. Unerlässliche Voraussetzung blieb, dass die Kommunisten ihre organisatorische Unabhängigkeit und die Freiheit zur – auch öffentlichen Kritik – an ihren Bündnispartnern bewahrten.

 

Die KPD experimentierte unter Meyers Leitung auf unterschiedlichen Politikfeldern mit der neuen Einheitsfront-Strategie. So unterstützte sie im Februar 1922 vorbehaltlos einen großen Streik der Eisenbahner und rief die SPD zu gemeinsamen Aktionen zur Unterstützung der Eisenbahner auf. Sie wandte sich der vorher verpönten Steuerpolitik zu und erhob konkrete Steuerforderungen, die auf parteiübergreifende außerparlamentarische Mobilisierungen der Arbeiterschaft abzielten. Und sie rief im Angesicht des wachsenden rechtsextremen Terrors zu Einheitsfrontaktionen der Arbeiterschaft gegen rechts auf, so nach dem Mord an Matthias Erzberger im September 1921 und insbesondere nach der Ermordung Walther Rathenaus im Sommer 1922. Aus einem zunächst vor allem taktisch verstandenen Instrument entwickelte sich die Einheitsfront dabei allmählich zu einer kommunistischen Gesamtstrategie.

 

„Sammelpunkt für den Kampf“: Meyers Verständnis der Einheitsfrontpolitik  

Auch Meyer selbst löste sich schrittweise von einem eher „taktischen“ Verhältnis zur Einheitsfrontpolitik und betrachtete sie zusehends als dieadäquate Methode zur Ablösung der sozialdemokratischen Anhänger von ihren Organisationen in nichtrevolutionären Zeiten. Auf dem IV. Weltkongress der Komintern im November 1922 sagte Meyer daher, die Einheitsfrontpolitik dürfe „nicht als Episode, sondern als eine Periode der kommunistischen Taktik betrachtet werden“.[3]

Ein 1921/22 konstantes, zentrales Element des meyerschen Einheitsfrontverständnisses ist sein Herangehen an sogenannte Teil- oder Übergangsforderungen, also Forderungen, die für sich genommen noch nicht auf eine sozialistische Revolution abzielen. Es resultierte aus den Erfahrungen der KPD in der Märzaktion: Sie hatten ihn gelehrt, wie schnell mit Maximalforderungen begonnene Kämpfe in die Isolation führen konnten. Nicht mehr die Radikalität einer Forderung an sich galt ihm künftig als entscheidendes Kriterium, sondern das radikalisierende Potenzial, das in dem Aufstellen von (an sich noch reformistischen) Teil- oder Übergangsforderungen lag, deren Durchsetzung aber nur in Form von breiten Massenkämpfen gegen Bürgertum und Regierung vorstellbar war. Die solchen Kämpfen immanente radikalisierende Dynamik musste in seinen Augen notwendigerweise über den Rahmen reformistisch-parlamentarischer Politik hinausweisen – ein Punkt, der wesentlich für Meyers Verständnis der Einheitsfrontpolitik ist. Hieraus folgte Meyers Betonung der Bedeutung von Teil- oder Übergangsforderungen als Ausgangspunkten gemeinsamer Kämpfe der Arbeiterschaft. Immer wieder kommt diese Haltung Meyers in den oben dargestellten Beispielen zum Ausdruck, etwa, wenn er sich in der Frage der Erfassung der Sachwerte der Reichen zwecks höherer Besteuerung bereiterklärte, auch in den Augen der KPD ungenügende Forderungen zu unterstützen, „wenn sie Anlass zur Einleitung von Kämpfen geben und dadurch die Bildung der Einheitsfront des gesamten Proletariats gegenüber den Kapitalisten beschleunigen“[4],oder wenn er anlässlich des Berliner Abkommens nach dem Rathenaumord sagte, „nicht ein paar Forderungen mehr oder weniger entscheiden heute über die Stärke der Bewegung. Viel wichtiger ist es, dass selbst die bescheidensten Forderungen durch die eigene Aktion der Arbeiterschaft […] durchgesetzt werden“.[5]

Ähnlich argumentierte Meyer in einem Artikel für die „Kommunistische Internationale“ im September 1922: „Die Taktik der Einheitsfront besagt zunächst nur, dass die Kommunisten in bestimmten Kampfsituationen sich mit der Aufstellung von der Mehrzahl der Arbeiter verständlichen Etappenlosungen begnügen, weil sie wissen, dass der wirkliche Kampf um diese Losungen zu weiteren Konsequenzen, zu verbreiterten Kämpfen mit weitergehenden Zielen führt“.[6]

Für Meyer standen realpolitisch durchsetzbare Teilforderungen keineswegs im Gegensatz zum kommunistischen Endziel, sondern umgekehrt: Die Möglichkeit der Erlangung dieses Ziels erwuchs erst aus der Realität des Kampfes um Teilforderungen, denn dieser müsse, so Meyer in einem Artikel in der „Inprekorr“, „wirklich durchgekämpft, unmittelbar umschlagen […] in Kämpfe um die Erringung des letzten Zieles“.Meyer ging es in erster Linie um die aus dem Kampf für die Durchsetzung solcher Forderungen entspringende Dynamik, und nicht so sehr um die Durchsetzung dieser Forderungen an sich: „Die Aufstellung von solchen Forderungen bedeutet nicht, dass alle diese Forderungen in der genannten Form tatsächlich werden erreicht werden, sondern nur, dass diese Forderungen Sammelpunkte für den Kampf der breiten Massen werden müssen. Der Kampf um eine dieser Forderungen kann bereits die ganze Front des Klassenkampfes aufrollen und zur Verwirklichung der Rätediktatur führen“.

Keineswegs bedeutete die Einheitsfrontpolitik für Meyer also eine Aufgabe des Zieles der Revolution und des Kommunismus, keineswegs darf sie als ein Synonym für reformistische Politik, für ein sich einrichten in und sich abfinden mit den kapitalistischen Verhältnissen missverstanden werden. Die Einheitsfrontpolitik war für Meyer die praktische Seite des Problems, „mit welchen Mitteln und unter welchen Losungen die Kommunisten aller Länder am raschesten und am erfolgreichsten zum Ziele der Verwirklichung des Kommunismus gelangen“.In diesem Sinne waren die von der KPD aufgestellten Teil- oder Übergangsforderungen für Meyer auch keine rein reformistischen Forderungen mehr. Überhaupt lehnte er eine strikte Trennung des Kampfes um Reformen und des Kampfes um die Revolution ab. Für Meyer ließen sich auch Reformforderungen am ehesten mit den „revolutionären“ Mitteln des außerparlamentarischen Kampfes durchsetzen: „Reformarbeit ist nur dann erfolgreich, wenn sie in revolutionärem Geiste geleistet wird und wenn sie unmittelbar zu revolutionären Kämpfen führt“.[7]

Bemerkenswert ist Meyers Positionierung in der innerhalb der KPD während der gesamten Weimarer Republik umstrittenen Frage des Verhältnisses der Kommunisten zur Republik. Für ihn stand die Notwendigkeit ihrer unbedingten Verteidigung durch die Kommunisten gegen alle Angriffe von Rechts ebenso außer Frage wie das kommunistische Ziel ihrer Überwindung und Ersetzung durch eine auf Räte gestützte Diktatur der Proletariats.

Ähnlich wie das Aufstellen von Teil- und Übergangsforderungen waren für Meyer auch Spitzenverhandlungen mit den anderen Arbeiterorganisationen vor allem ein Mittel, um so zu gemeinsamen außerparlamentarischen Kämpfen der gesamten Arbeiterschaft zu gelangen. So sagte Meyer auf der Mai-Sitzung des ZA 1922: „Die Taktik der Einheitsfront […] besteht doch eben darin, dass wir über den Umweg der losen Besprechung mit den Zentralkomitees der anderen Arbeiterorganisationen hinweg die Möglichkeit gewinnen wollen, mit der Arbeiterschaft und mit den Mitgliedern dieser anderen Parteien zusammen zu treten. Wir wissen wohl, dass diese Besprechungen nicht Selbstzweck sein sollen. Sie sind für uns nur ein Mittel. Aber diese Besprechungen abzulehnen bedeutet, die Taktik der Einheitsfront überhaupt nicht vollkommen durchzuführen“.[8]Und an anderer Stelle meinte Meyer, die Verhandlungen der Spitzenkörperschaften hätten keinen anderen Zweck, als „die gemeinsame Operation der Arbeiter herbeizuführen“.[9]Wenn die anderen Organisationen den Vorschlag zu Spitzenverhandlungen über gemeinsame Aktivitäten ablehnten, konnte die KPD darauf verweisen, dass diese nicht gewillt seien, für die Interessen ihrer Anhänger wirklich zu kämpfen. Gingen sie aber darauf ein, hoffte die KPD, in gemeinsamen Aktionen beweisen zu können, dass die Kommunisten am entschiedensten für die Belange der Arbeiter kämpften. Die Aufforderung zu gemeinsamen Aktionen dürfe sich aber, so Meyer, niemals allein an die Spitzen, sondern immer an die gesamte Organisation, Führung wie Basis, richten – und wenn es zu Verhandlungen käme, müssten diese öffentlich und somit für die Arbeiterschaft nachvollziehbar geführt werden.[10]

Als größte Gefahr bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik betrachtete Meyer die Gefahr, dass die Kommunisten bei gemeinsamen Aktionen und gerade auch bei Spitzenverhandlungen aus Rücksicht auf diese ihr „eigenes Gesicht“nicht ausreichend zeigen könnten, sich mit der „genügend scharfe(n) und vollständige(n) Kritik“an den anderen Organisationen zu sehr zurückhielten.[11]Kurz: die größte Gefahr sei der Opportunismus. Deswegen sah Meyer „die theoretische Vertiefung des Wissens aller Mitglieder, organisatorische Festigung der Partei und straffe Disziplin“als die „unumgänglichen Voraussetzungen einer erfolgreichen Anwendung dieser Taktik“an.[12]

 

Bilanz der Einheitsfrontpolitik 1921/22

Da weder der III. Weltkongress der Komintern noch der Jenaer Parteitag der KPD wirklich konkrete Vorgaben für die Umsetzung der neuen Linie Einheitsfrontpolitik gemacht hatten, musste die KPD deren genaue Ausformung erst in der politischen Praxis entwickeln. Meyer hatte darauf großen Einfluss; die Politik der KPD stimmte 1921/22 im Wesentlichen mit dem Verständnis Meyers von der Einheitsfronttaktik überein, auch wenn dieses in der Partei auf die Opposition des linken Flügels stieß. Insgesamt lässt sich in der Politik der KPD nach Jena vor allem das Meyersche Herangehen an sogenannte Teil- oder Übergangsforderungen als zentrales Element der Einheitsfronttaktik feststellen.

Die bei den verschiedenen Einheitsfrontinitiativen der KPD gemachten Erfahrungen waren unterschiedlich: während ihre Anwendung in den ökonomischen Auseinandersetzungen (vor allem im Eisenbahnerstreik) als eindeutig positiv bewertet wurde, stellte gerade die Anwendung der Einheitsfrontpolitik in der politischen Frage der Rathenaukampagne die Partei vor eine Reihe von Problemen. Sie resultierten teilweise aus der Unerfahrenheit der Partei mit Spitzenverhandlungen, teilweise aus dem parteiinternen Druck des linken Flügels. Zwischen den Extremen opportunistischer Anpassung an die Bündnispartner auf der einen und sektiererischer Selbstisolation auf der anderen Seite war es für die Partei nicht einfach, einen angemessenen Weg zu finden. Die in dieser Form noch nie da gewesene, hohe Zahl an gemeinsamen Treffen der Arbeiterorganisationen, die Entstehung proletarischer Kontrollausschüsse sowie der „proletarischen Hundertschaften“ im Zuge der Rathenau-Kampagne und das allgemeine Wachstum der KPD in dieser Zeit deuten aber darauf hin, dass sie auch in dieser Frage keineswegs erfolglos operierte. Gleiches gilt für den Reichsbetriebsrätekongress, dessen Einberufung die KPD vom ADGB seit dem Sommer 1922 forderte, und zu dem nach seiner Ablehnung durch die ADGB-Führung schließlich eine kommunistische Betriebsräteversammlung einlud. 802 Delegierte versammelten sich am 23.11.22 in Berlin; allerdings war die Versammlung klar kommunistisch dominiert. Auch wenn es hier nicht im größeren Umfang gelang, nichtkommunistische Betriebsräte einzubeziehen, so drückte der Kongress doch einen beachtlichen kommunistischen Einfluss unter Betriebsräten aus.

Erwiesen sich Übereinkünfte mit der SPD auf nationaler Ebene nach dem Erzberger-Mord noch als unmöglich, konnte sich die SPD diesen nach dem Mord an Rathenau nicht mehr verschließen – ein Beleg dafür, wie es der KPD dank der Einheitsfronttaktik gelang, ihre Isolation in der Arbeiterbewegung, in die sie v.a. nach der Märzaktion geraten war, schrittweise zu überwinden.

Mit der Einheitsfrontpolitik entwickelte die KPD eine Methode, die es ermöglichte, das Ansetzen an den unmittelbaren Interessen der Arbeiterschaft mit einem Weitertreiben und einer Verallgemeinerung des Kampfes und schließlich mit einer systemüberwindenden Perspektive zu verbinden.

Engagiert verteidigte Meyer auch auf dem IV. Weltkongress der KI die Einheitsfrontpolitik seiner Partei und der gesamten Internationale, die er insgesamt als erfolgreich bewertete. Sinowjew darin zustimmend, charakterisierte Meyer sie als eine Periode, nicht nur Episode kommunistischer Taktik.[13]Er widersprach der Position, die Einheitsfront dürfe nur auf ökonomischen, nicht aber politischem Terrain angewandt werden: „Die Erfahrung, die auch bei uns gemacht worden ist, lehrt, dass in der gegenwärtigen Situation eine solche Trennung überhaupt unmöglich ist.“[14]

Meyer erwies sich bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik als durchaus flexibler Politiker. Immer wieder war er bereit, einmal bezogene Positionen im Lichte sich wandelnder praktischer Erfahrungen zu verändern, ohne allerdings das Ziel kommunistischer Politik, den Sturz des Kapitalismus und die Machteroberung durch die Arbeiterklasse, aus den Augen zu verlieren. Fraglos war Meyer einer derProtagonisten der Einheitsfrontpolitik der KPD, die zumindest für die Zeit 1921/22 untrennbar mit seinem Namen verbunden sein sollte. Zeit seines Lebens sollte er für ihre Anwendung durch die KPD eintreten.

 

 

„Diskussionsfreiheit ist innerhalb unserer Partei absolut notwendig“: Meyer als Streiter für die innerparteiliche Demokratie

 

Auch 1921/22 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Zentrale-Mehrheit und „rechten“ bzw. „linken“ Flügeln der KPD. Bemerkenswert ist, wie vehement

Ernst Meyer dabei die Diskussionsfreiheit in der Partei und die Offenheit der kommunistischen Presse für oppositionelle Ansichten als unbedingt notwendig verteidigte und sich damit für eine faktisch plurale kommunistische Partei einsetzte. Auf der Sitzung des November-ZA erklärte er:

„Wir können feststellen […] dass gelegentlich rechts und links Auffassungen vorhanden sind, die nicht der Auffassung der Parteimehrheit entsprechen […] Es muss selbstverständlich Aufgabe unserer Partei sein, alle solche Abweichungen […] sachlich zu diskutieren und politisch zurückzuweisen. Diskussionsfreiheit ist innerhalb unserer Partei absolut notwendig, eine Freiheit, die auch dadurch gestärkt werden muss, dass unsere Organe, insbesondere unsere Zentralzeitschriften […] sachlich taktischen Auseinandersetzungen Raum gewähren. Wir denken nicht daran, […] nach dieser oder jener Seite hin die Fragen personell oder organisatorisch zu lösen und abzuschneiden, sondern: Unsere Partei hat Raum und muss Raum haben für die sachliche Diskussion der verschiedenen politischen Auffassungen. […] Wenn also bei einzelnen Genossen die Befürchtung bestehen sollte, dass Ausschlüsse oder Versetzungen oder ähnliche schreckliche Dinge geplant seien, so können wir die Genossen von vornherein beruhigen. Das ist nicht die Absicht der Zentrale, durch personelle Erledigung politische Fragen zu lösen, sondern wir betrachten es als Aufgabe der Partei, politische Fragen politisch zu lösen“.[15]

Diese Offenheit der Diskussionen in der kommunistischen Partei wurde von Meyer als Vorzug der KPD gegenüber den anderen Arbeiterparteien gepriesen. So sagte er auf dem Leipziger Parteitag im Januar 1923: Die Diskussionen dieses Parteitages seien nicht sonderlich fruchtbar gewesen, da alle Fragen bereits im Vorfeld „so eingehend in den Mitgliedschaften diskutiert worden sind, das eigentlich alle Genossen vollkommen über die Argumente […] unterrichtet sind. Eben dadurch unterscheidet sich unserer Parteitag vom dem der Sozialdemokratie, dass er tatsächlich vorbereitet ist durch eine eingehende Diskussion aller Fragen. Unsere Partei fürchtet nicht  die Kritik, prüft mit aller Schärfe nach jeder Aktion, was falsch gewesen ist, und so kann der Parteitag nur das abschließende Urteil geben. Die Partei braucht Kritik, denn das ist das Zeichen der Gesundheit“. Interessant ist die Einschränkung, die Meyer dann zu diesem Punkt macht: „Was wir aber vermeiden müssen, ist die Übertreibung der Kritik, aus der leicht eine Schädigung der Werbekraft unserer Partei entstehen kann“.[16]Freiheit der Kritik scheint für Meyer kein Selbstzweck gewesen zu sein, sondern ein unbedingt notwendiges Element der Entwicklung einer richtigen Politik und damit der Stärkung des kommunistischen Einflusses. Sie war aber auch daran gekoppelt und diesem Ziel letztlich untergeordnet: Übertriebene Kritik, die eine Stärkung dieses Einflusses zu gefährden drohe, müsse vermieden werden: „Die Wirkung der Kritik muss doch sein, die Organisation schlagkräftiger zu machen, sie innerlich zu festigen und nach außen ihre Position zu erleichtern“.[17]

Ebenso fand die Freiheit der Diskussion nach innen für Meyer ihre Grenzen in dem Moment, in dem aufgrund der Diskussionen Mehrheitsbeschlüsse gefasst wurden, aus denen Aktionen nach außen folgten: „Dass, was die Partei verlangt, ist nur, dass in der Zeit der Aktion alle verschiedenen Auffassungen zugunsten der Aktion schweigen oder zurücktreten, die von der gesamten Partei oder ihren Organen beschlossen ist“.[18]

Und an anderer Stelle sagte er, es müsse hervorgehoben werden, „dass viele Kritiker, die nachher die Märzaktion kritisiert haben, damals erfreulicherweise revolutionäre Kampfdisziplin geübt haben und mit uns in den Reihen der Kämpfenden standen. Wir können nur die Kritik begrüßen, die vom Boden des Kampfes aus geübt worden ist, und wir lehnen von vornherein jede Kritik ab, die abseits der Kämpfenden steht und an dem herumnörgelt, was blutende Proletarier getan haben oder tun“.[19]

 

 

Konsolidierung der KPD unter Meyer

 

Unter Meyers Leitung gelang es der KPD, sich allmählich von den schweren Rückschlägen nach der Märzaktion zu erholen. Sie konnte sich konsolidieren, ihren Einfluss ausweiten und neue Genossen gewinnen. Hatte die Mitgliederzahl im September 1921 noch bei 180.443 gelegen, war sie ein Jahr später um fast 44.000 auf 224.389 Mitglieder angestiegen. Diese Zunahme, so vermerkt der Bericht des 8. Parteitages vom Januar 1923, „spiegelt freilich in keiner Weise den gestiegenen Einfluss wieder, den die KPD durch ihre Arbeit bei den Arbeitermassen im Laufe der Berichtszeit erlangt hat“, zumal die Gewinnung neuer Mitglieder durch die (inflationsbedingte) fortwährende Erhöhung der Beiträge erschwert worden sei, die deutlich höher als etwa bei der SPD lagen. Einen weiteren Grund für das dem realen Anstieg des kommunistischen Einflusses nicht entsprechende Wachstum der Mitgliederzahlen führte Meyer in seinem Referat auf dem Parteitag an: In vielen KPD-Gliederungen gäbe es eine gewisse Furcht, dass die Aufnahme neuer Mitglieder zu einer ideologischen Verwässerung der Partei führen könnte. Demgegenüber sprach sich Meyer für eine weitere Öffnung der Partei, gepaart mit einer verstärkten Bildungs- und Schulungsarbeit aus. Insgesamt wertete aber auch er die organisatorische Entwicklung als erfolgreich, vor allem aufgrund der Einheitsfronttaktik, die der Partei „von Monat zu Monat größere Erfolge“gebracht habe.[20]Beispielsweise führte die insgesamt erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik zu einem messbaren Anstieg des kommunistischen Einflusses in den Gewerkschaften.

Dies lässt sich beispielsweise anhand der Eisenbahnergewerkschaft in der Zeit nach dem Eisenbahnerstreik verdeutlichen. Im Jahr 1922 übernahmen die Kommunisten die Führung des DEV in Berlin und Leipzig und stellten auf dessen Gewerkschaftstag ein Fünftel der Delegierten. Zudem übernahmen sie die Führung der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und Düsseldorf und der Metallarbeitergewerkschaft in Stuttgart. Beim ADGB-Kongress im Juni 1922 war jeder achte Delegierte ein Kommunist, ebenso auf dem Gewerkschaftstag der kommunalen Arbeiter. Beim Gewerkschaftstag der Transportarbeitergewerkschaft stellte die KPD immerhin ein Zehntel der Delegierten. Zum 8. Parteitag gab die Partei an, in den gewerkschaftlichen Bezirken über insgesamt 997 Fraktionen zu verfügen und in 60 Ortsausschüssen des ADGB eine Mehrheit zu haben. Den Delegiertenwahlen zu Gewerkschaftstagen kommt nur eine bedingte Aussagekraft über den realen Einfluss der Kommunisten in den Gewerkschaften zu, weil zum einen das Wahlreglement in verschiedenen Verbänden die Kommunisten benachteiligte, zum anderen die Kommunisten in der Regel stärker sein mussten als die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen, um ihre Delegierten durchzubringen. Der reale Einfluss der KPD in den Gewerkschaften dürfte also noch stärker gewesen sein, als es in den oben angeführten Zahlen zum Ausdruck kommt. Offensichtlich konnte die Einheitsfrontpolitik die Erwartung erfüllen, zur Steigerung des kommunistischen Einflusses in der organisierten Arbeiterschaft beizutragen. Die KPD konnte auch bei verschiedenen Betriebsratswahlen Stimmen gewinnen und stellte in einigen Großbetrieben die Mehrheit im Betriebsrat.

Auch bei den in dieser Zeit stattfindenden Parlamentswahlen konnten die Kommunisten einige Erfolge verbuchen und erhielten „fast durchweg einen beträchtlichen Zuwachs an Stimmen“.[21]Anfang 1923 regierten die Kommunisten in über 80 Gemeinden allein, in weiteren 170 waren sie stärkste Partei, in vielen hundert Gemeinden hatten sie zusammen mit der SPD eine absolute Mehrheit. Über 6.000 Kommunisten waren in Gemeindevertretungen und -verwaltungen tätig. Dementsprechend expandierte auch der Apparat der Partei: So verfügte die KPD nun über 34 (oft regionale) Tageszeitungen und sieben Zeitschriften. Darüber hinaus entstanden im Jahr 1922 Frauen-, Jugend- und Kinderabteilungen der Partei, Arbeitsgruppen für Bauern und Landarbeiter und Rechtsberatungen für politisch Verfolgte. Die KPD eröffnete Parteischulen und veröffentlichte verstärkt Literatur.

Im Vergleich zu den heftigen, von massiven Abspaltungen begleiteten internen Auseinandersetzungen in den ersten zweieinhalb Jahren ihrer Geschichte kam die Partei unter Meyers ausgleichender Leitung geradezu zur Ruhe. Auch das damalige KPD-Mitglied Karl Retzlaw resümiert in seinen Erinnerungen: „Obwohl das Jahr 1922 ein Jahr der schwersten innen- und außenpolitischen Spannungen war, hatte die KPD unter der Führung von Ernst Meyer das relativ ruhigste Jahr der bisherigen Parteigeschichte“.[22]Auch in der Literatur wird 1922 meist als ein Jahr erfolgreicher Konsolidierung bewertet. Meyer erscheint als eine integrere, den Zielen eines emanzipatorischen Kommunismus verpflichtete und der Partei als entscheidendem Mittel zur Erlangung dieser Ziele ergebene Persönlichkeit. In keiner Weise missbrauchte er die Partei zur eigenen Selbstdarstellung. Ebenso wenig gab es irgendeine Art von Führungskult um ihn. Diese Zurücknahme seiner Person und der kollektive Führungsstil der KPD in dieser Zeit erschwert es dem Historiker allerdings auch, Meyers Rolle als politische Führungsfigur exakt herauszuarbeiten.

Auch wenn aufgrund dieser Zurückhaltung und der generell stiefmütterlichen Behandlung Meyers in der Geschichtsschreibung diese Erfolge oft nicht mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden und sie auch nicht nur auf seine Verdienste zurückzuführen sind, so sind sie doch von seiner Person auch nicht zu trennen. Für die Bewertung eines Parteivorsitzenden ist die organisatorische Entwicklung der Partei ein wichtiger Indikator – und unter diesem Gesichtspunkt muss Meyers Rolle für die KPD als sehr positiv bewertet werden. Unter seiner Leitung konsolidierte sich die KPD nach ihren turbulenten Anfangsjahren als Massenpartei, die sie bis zum Ende der Weimarer Republik bleiben sollte, entwickelte eine entsprechende Identität und politische Praxis. Entsprechend fiel auch Sinowjews Lob für die KPD auf dem IV. Weltkongress aus: „Niemand wird bestreiten, daß unsere deutsche Bruderpartei ihren Einfluss ganz wesentlich verstärkt hat“. Sie habe „einen riesigen Schritt vorwärts getan. Wenn nicht alle Merkmale trügen, führt der Weg der proletarischen Revolution von Russland durch Deutschland“.[23]Tatsächlich sollte sich die KPD im Oktober 1923 noch einmal in der Lage sehen, ernsthaft den Griff zur Macht ins Auge zu fassen.

 

 

Dr. Florian Wildeist Historiker, Mitglied der Partei Die Linke und arbeitet als wissenschaftlicher Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Gewerkschaftspolitik. Er ist Autor von Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, Konstanz 2018, 452 S., 29€.

[1]Die formelle Funktion des Parteivorsitzenden war auf dem Parteitag abgeschafft worden; real spielte Meyer diese Rolle bis zum Leipziger Parteitag, weshalb er in diesem Text wie auch in weiten Teilen der Literatur üblich als KPD-Vorsitzender bezeichnet wird.

[2]Zur Biographie Meyers siehe Florian Wilde: Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, Konstanz 2018. Siehe dort auch zur Vertiefung der in diesem Aufsatz diskutierten Aspekte seines Wirkens.

[3]Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd-Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S.73.

[4]Meyer, Ernst: Steuerfragen, in: Die Rote Fahne, 19.8.21.

[5]Meyer, Ernst: Der Kessel ist zum Platzen voll, in: Inprekorr Jg.2, Nr.135 (18.7.22), S.858. Ähnlich in: Protokoll der Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/14, Bl.16.

[6]Meyer, Ernst: Die deutsche Partei während der Rathenau-Kampagne in: Die Kommunistische Internationale, Jg. 4, H 22 (13.9.1922), S.26-31, hier S.28.

[7]Meyer, Ernst: Die Aufgaben des 4.Weltkongresses, in: Inprekorr Jg.2, Nr. 196, S.1316.

[8]Protokoll der Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 14. und 15.5.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/13, Bl.167.

[9]Protokoll IV. Weltkongress, S.74.

[10]Vgl. Bericht über die Verhandlungen des 3.[8.] Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Leipzig vom 28. Januar bis 1. Februar 1923. Hrsg. von der Zentrale der KPD, Berlin 1923, S.210f.

[11]Bericht 8. Parteitag, S.212.

[12]Meyer, Ernst: Die deutsche Partei während der Rathenau-Kampagne in: Die Kommunistische Internationale, Jg. 4, H 22 (13.9.1922), S.26-31, hier S.29.

[13]Vgl. Protokoll IV. Weltkongress, S.73.

[14]Protokoll IV. Weltkongress, S.74.

[15]Protokoll der Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 16. und 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/11-12, Bl.31.

[16]Bericht 8. Parteitag, S.251. Ähnlich äußerte sich Meyer auch auf dem Jenaer Parteitag, siehe Bericht über die Verhandlungen des 2.[7.] Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921. Hrsg. von der Zentrale der KPD, Berlin 1922, S.216.

[17]Protokoll der Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 23.7.22, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/14, Bl.157.

[18]Protokoll der Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 16. und 17.11.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/1/11-12, Bl.31.

[19]Bericht 7.Parteitag, S.216.

[20]Bericht 8. Parteitag, S. 63 u. 204.

[21]Bericht 8. Parteitag, S. 39.

[22]Retzlaw, Karl: Spartacus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt(M) 1976, S. 222.

[23]Protokoll IV. Weltkongress, S. 36 f.