Macht gemeinsame Sache!

(Sozialismus)

Macht gemeinsame Sache!

Von Stefanie Holtz und Florian Wilde. 

»Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen—oder aber uns von der Demokratie verabschieden.« Jane McAlevey

Am 24. Mai 2019 gingen auf der ganzen Welt in über 1.300 Protestaktionen fast zwei Millionen Menschen gegen die Zerstörung des Planeten auf die Straße. Einer Bewegung, die niemand vorausgesehen hatte, gelang es innerhalb weniger Monate die politische Agenda in vielen Industrieländern nachhaltig zu beeinflussen. Ebenso überraschend wurden die USA ab 2018 von der größten Streikwelle seit Jahrzehnten erfasst, getragen vor allem von jungen Lehrer:innen und Beschäftigten des Gesundheitssektors. In beiden Fällen meldete eine junge Generation ihren Anspruch auf demokratische Teilhabe an. Es ist eine Generation, die nicht hinnehmen will, dass unsere Wirtschaftsweise den Planeten und damit auch ihre Zukunft zerstört. Eine Generation, die keine Lust mehr hat, mit schlechteren Jobs als ihre Eltern in ein prekäres Berufsleben zu starten. Eine Generation, die echte Veränderungen fordert und die daher vor der großen Frage steht: Welche gesellschaftliche Kraft kann wie und mit welchen Methoden die notwendigen, umfassenden Veränderungen durchsetzen?

Vor allem an diese Generation wendet sich Jane McAlevey in diesem Buch mit dem Plädoyer, auf der Straße und in der Arbeitswelt Missstände nicht länger hinzunehmen. Und sie begründet, warum wir im 21. Jahrhundert für Verteidigung und Ausbau der Demokratie, für eine Umkehr der Umverteilung des Reichtums, für die Bekämpfung des Klimawandels und für eine Gestaltung der kommenden Umbrüche in der Arbeitswelt starke und beteiligungsorientierte Gewerkschaften brauchen.

 

Gewerkschaften

Erforderlich sind Gewerkschaften mit echter Organisationsmacht in den Ausbildungsstätten und Betrieben, die nicht am Betriebstor stehen bleiben, sondern den Anspruch erheben, Gesellschaft insgesamt im Interesse der arbeitenden Menschen mitzugestalten. Gewerkschaften, die ihr politisches Mandat offensiv wahrnehmen und sich gesellschaftspolitisch einbringen, konsequent im Einsatz für die Rechte von Arbeitnehmer:innen: Frauen wie Männern, jung wie alt, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob homo, divers oder hetero. Gewerkschaften, die auch für junge Menschen attraktiv sind, damit sie ihre Forderungen durchsetzen und die Welt nach ihren Bedürfnissen mitgestalten können.

Gerade auch jüngere Beschäftigte brauchen nicht nur eine starke Vertretung gegenüber ihrem Arbeitgeber, um auskömmliche Löhne und gute Arbeit zu erreichen. Sie brauchen auch eine starke Vertretung in der Gesellschaft, damit explodierenden Mieten und drohenden Armutsrenten ein Ende bereitet und zugleich eine gute (Aus)Bildung und eine öffentliche soziale Daseinsvorsorge von den Kitas bis zu den Krankenhäusern durchgesetzt werden können. Die Kraft, die dazu mehr als alle anderen in der Lage ist, sind die Gewerkschaften, weil sie mit dem Streik über ein fast einzigartiges Machtpotenzial verfügen. Dies gilt, wie dieses Buch an vielen Beispielen deutlich macht, für die USA. Es gilt aber nicht minder für Deutschland.

Allerdings sind die Gewerkschaften in den meisten westlichen Ländern schon seit mehreren Jahrzehnten in der Defensive: Mitgliederzahlen und Organisationsmacht stagnieren oder brechen ein, Tarifverträge verlieren an Reichweite und immer weniger Beschäftigte genießen Schutz durch einen Betriebsrat. Die Explosion des Niedriglohnsektors sowie die Zunahme prekärer und befristeter Beschäftigungsverhältnisse führen zu neuen Spaltungslinien innerhalb der Beschäftigten und erschweren oft die gewerkschaftliche Organisierung. Gleichzeitig agieren viele Arbeitgeber:innen immer skrupelloser: sie greifen auf Union-Busting-Methoden zurück, mit denen US- Konzerne wie Amazon, Uber und Tesla auch in ihren Unternehmensstandorten in Deutschland gewerkschaftsfreie Zonen machen wollen. Die sich abzeichnenden Branchenumbrüche durch die Digitalisierung und den Umbau der fossilen Industrie stellen die Gewerkschaften vor zusätzliche Herausforderungen.

Um die Defensivsituation zu überwinden und Gewerkschaften wieder auf breiter Front zu stärken, muss neben der Besinnung auf eigene erfolgreiche Traditionen und Arbeitsweisen auch die Bereitschaft zu einer Erneuerung der Gewerkschaften durch die Weiterentwicklung bestehender Ansätze und ihre Ergänzung durch neue und innovative Praktiken gefördert werden. Ein wichtiges Element dafür bieten die in diesem Buch vorgestellte Organizing-Methoden.

 

Organizing

Aus ihren Erfahrungen als Organizerin und Verhandlungsführerin bei Tarifauseinandersetzungen zieht Jane McAlevey den Schluss: Wenn sich Mehrheiten von Beschäftigten gewerkschaftlich organisieren, können sie auch heute noch große Erfolge erreichen und deutliche Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebenssituation erkämpfen. Dies gilt insbesondere, wenn die Beschäftigten eine Auseinandersetzung systematisch angehen und sie von Anfang bis Ende prägen und gestalten können. Die Autorin vertritt einen Organizing-Ansatz, der die Arbeitnehmer:innen und ihre Machtressourcen in den Mittelpunkt stellt: Beschäftigte müssen auf allen Ebenen selbst zu den zentralen Akteur:innen ihrer Bedürfnisse werden. Sie hat also nicht in erster Linie die Hauptamtlichen und auch nicht nur die langjährig bewährten Gewerkschafsaktiven als Zielgruppe der Organisierung vor Augen, sondern die große Masse derer, die bislang nicht politisch oder gewerkschaftlich aktiv waren. Diese müssen gewonnen werden, denn nur mit ihnen zusammen lassen sich Mehrheiten in den Betrieben aufbauen. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei in den Belegschaften besonders respektierte Kolleg:innen ein, die sogenannten organic leaders, und mit ihnen die möglichst vollständige Organisierung eines Betriebes, um erfolgreiche Streiks mit Beteiligung nahezu aller Arbeiter:innen durchsetzen zu können. Nach McAlevey sind wichtige Elemente des Aufbaus echter Gegenmacht:

  • die Nutzung inner- wie außerbetrieblichen Netzwerke der Beschäftigten
  • ihre Mitwirkung an der Strategieentwicklung und
  • die direkte Teilnahme der Beschäftigten an Tarifverhandlungen.

Organizing bedeutet Aufbau von systematischer Gegenmacht. Deshalb steckt im Organizing sehr viel Potenzial für die Erneuerung bzw. Modernisierung der Gewerkschaftsarbeit. Organizing vereint Herangehensweisen und Werkzeuge, um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten. Während wir uns unsere Freund:innen selbst aussuchen, müssen wir im Betrieb mit den Kollegen:innen arbeiten, die wir nun mal haben. Und während man in politischen Initiativgruppen (z.B. zu Antifa, Klimaschutz oder Bürgerrechten) auf Leute mit ganz ähnlichen Ansichten trifft, muss eine solche Übereinstimmung im Betrieb oft erst hergestellt werden. Mit Organizing-Methoden können am Arbeitsplatz gewerkschaftliche Mehrheiten aufgebaut werden, deren Aktionsfähigkeit durch »Strukturtests« weiterentwickelt wird und dabei Solidarität zur Erreichung gemeinsamer Ziele unter sich zuvor oft fremden Menschen herstellen kann. In Zeiten, in denen im Zuge des Neoliberalismus die Gesellschaft auseinanderfällt, ist es für erfolgreiche gewerkschaftliche Organisierung zudem unerlässlich, nicht nur die Beschäftigten in den Blick zu nehmen, sondern auch ihr komplettes Umfeld.

Der von Jane McAlevey vertretene Organizing-Ansatz ist vor allem dort hilfreich, wo es bisher keine oder nur schwache gewerkschaftliche Strukturen gibt. Anders als in den USA haben vor allem die traditionellen Industriebetriebe in Deutschland gute Vertrauensleute- und Betriebsrätestrukturen. Die großen Potenziale dieser Machtressourcen müssen bewahrt und ausgebaut werden, um die mit dem Umbau der Industrie zu erwartenden Angriffe des Arbeitgeber:innenlagers abzuwehren. Zugleich ist dieses Buch ein Beitrag zur offenen Debatte, wie Gewerkschaften auf rückläufige Mitglieder- und Beschäftigtenzahlen in ihren bisherigen Hochburgen reagieren können. Die IG Metall, ver.di und andere Gewerkschaften experimentieren mittlerweile in Tarifrunden und bei Betriebsratswahlen mit Beteiligungsmethoden aus dem Organizing.

Auch außerhalb von Gewerkschaften haben Organizing-Methoden bereits in ganz unterschiedlichen Bereichen Einzug erhalten und werden von NGOs, Parteien und Interessenverbänden eingesetzt: sei es für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, aktive Mitbestimmung bei Entscheidungsprozessen, die Mobilisierung von Wähler:innen, dem Mitgliederzuwachs in Organisationen oder auch bei der demokratischen Selbstorganisierung im Rahmen von Stadt- bzw. Stadtteilpolitik. Für eine Vielzahl von Anliegen bietet Organizing wirksame Methoden, um Beteiligung zu erhöhen, Druck zu entfalten und dadurch Erfolge zu erzielen. In den Kapiteln des Buches von Jane McAlevey geht es auch darum, die Konflikte unserer Zeit nicht getrennt, sondern gemeinsam anzugehen. Für die Autorin ist es keine Frage, ob Umwelt-, Gesundheits-, Mietrechts- und Menschenrechtsprobleme oder Arbeitsplatzthemen wichtiger sind. Menschen geraten in allen Lebensbereichen unter Druck derselben Profitlogik. Das entscheidende Gegenmittel ist die Erfahrung, dem mit kollektiver Stärke etwas entgegenzusetzen. Jane McAlevey vertritt einen Ansatz, der arbeitende Menschen nicht nur als Beschäftigte, sondern auch als Mieter:innen, Patient:innen etc. in den Blick nimmt, und sieht deshalb ihr Machtpotenzial sowohl in den Betrieben wie in ihren außerbetrieblichen Netzwerken und Verbindungen.

Diese Perspektive deckt sich mit der Erfahrung und Tradition der IG Metall, die sich stets als eine gesamtgesellschaftliche Kraft verstanden hat. Eine aktuelle Studie der IG Metall Jugend hat deutlich gemacht: Gewerkschaftlich organisierte junge Menschen engagieren sich auch außerhalb der betrieblichen Interessenvertretungen aktiver als Nicht-Mitglieder für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitswelt und haben hohe Erwartungen an die Wirksamkeit ihres Engagements. Das heißt, sie wollen mit ihrem Tun und Handeln etwas bewegen und zum besseren verändern. Gerade in Tarifrunden, bei (Warn-)Streikaktionen oder in betrieblichen Konflikten um die Übernahme und die Sicherung von Ausbildungsplätzen wird dies besonders erlebbar. Auszubildende, junge Beschäftigte und (dual) Studierende, die sich selbst für eine Sache gemeinsam auf den Weg gemacht und Erfolge erkämpft haben, haben zugleich eine hohe Bindung an die Gewerkschaft. Um Mitglieder nachhaltig für gewerkschaftlichen Aktionen und damit zur Stärkung der Organisationsmacht zu gewinnen, müssen sie von Beginn an beteiligt werden.

Mit ihrer Kampagne ORGANiCE[1] verbindet die IG Metall Jugend einige Mobilisierungsansätze aus dem Organizing mit ihren positiven Kampagnenerfahrungen der letzten Jahre. Durch sie sollen neben den aktiven Funktionär:innen im Betrieb Auszubildende, dual Studierende und junge Beschäftigte zu kollektiven Handlungen befähigt werden. Sie erfahren durch Aktionen und Beteiligung, dass sie etwas erreichen können. Ein gutes Beispiel dafür sind Streikaktionen im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen. Es ist ein Unterschied, ob nur ein kleiner Kreis von Aktiven, beispielsweise einer gut organisierten Jugend- und Auszubildendenvertretung für ein Thema einsteht, oder ob ganze Ausbildungsjahrgänge oder gar die ganze Ausbildungswerkstatt mit entschlossenen und kreativen Aktionen auf Missstände aufmerksam macht. Im Rahmen der Tarifbewegung 2021 der Metall- und Elektroindustrie haben die Aktiven, aber auch Auszubildende und dual Studierende aus vielen Betrieben Steine, Faxe und Briefe mit Taschentüchern an die Arbeitgeberverbände geschickt. Symbolisch sollten keine Steine in den Weg gelegt werden und die Arbeitgeber:innen keine Faxen machen. Mit Erfolg: Die unbefristete Übernahme konnte gegen scharfe Angriffe der Arbeitgeber:innen gesichert werden. Und noch mehr: Endlich gibt es einen Einstieg in tarifvertragliche Regelungen für dual Studierende[2] in Flächentarifverträgen. Allein in Baden-Württemberg konnte für rund 10.000 dual Studierende der Hochschule Baden-Württemberg bereits eine Tarifbindung erreicht werden. Damit diese Personengruppen auch bundesweit tarifvertragliche Lösungen für sich erstreiten können, ist ihre Organisierung und Aktivierung unerlässlich.

Ein erfolgreiches betriebliches Beispiel im Rahmen der ORGANiCE-Kampagne gibt es von der Benteler Steel/Tube GmbH in Paderborn zu berichten. Dort wurden im Jahr 2020 die jährlichen immer rund 80 Ausbildungsplätze auf nur noch 14 abgesenkt (entgegen einer bestehenden tariflichen Regelung des Benteler-Ergänzungstarifvertrages). Die Aktiven der Jugend- und Auszubildendenvertretung haben gemeinsam mit dem Betriebsrat und der IG Metall vor Ort darauf reagiert. Trotz Corona fanden sie dafür digitale und betriebliche Wege. Auch weit über die Betriebsgrenze hinaus waren sie mit einer Online-Petition aktiv, an der sich über 2.000 Menschen innerhalb kürzester Zeit beteiligten. Ziel war es hier nicht, einen Strukturtest durchzuführen, wie Jane ihn im Buch beschreiben wird, aufgrund der betrieblichen Ausgangslage stand von Beginn an die Öffentlichkeit im Fokus. Mit Erfolg! Es konnten in einem Ergänzungstarifvertrag 50 neue Ausbildungsplätze pro Jahr für die Benteler Steel/Tube-Standorte gesichert werden. Ohne den Einsatz der Auszubildenden und den Beschäftigten im Betrieb wäre das nicht möglich gewesen! Mit ehrgeizigen Zielen, einer passenden Strategie und der Macht der Beschäftigten können Dinge verbessert werden. Und auf diesem Wege lässt sich auch die Demokratie insgesamt stärken.

 

Der Kampf um die Demokratie

Dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer wieder neu mit Leben gefüllt und aktiv verteidigt werden muss, verdeutlicht dramatisch der Aufschwung des Rechtspopulismus in den letzten Jahren. Jane deutet das in ihrem Buch mit der Bedeutung gewerkschaftlicher Aktionen gegen den Rechtspopulisten Trump in den USA mehrfach an. Auch in Deutschland wird unsere Demokratie durch das Erstarken der rechten »Alternative für Deutschland«, durch immer mehr rassistischen Anschläge, die »Querdenker«-Bewegung und ein erschreckendes Ausmaß rechtsextremer Netzwerke in den Sicherheitsapparaten bedroht, gegen all dies muss das politische Mandat der Gewerkschaften genutzt werden.

Doch nicht nur der Aufstieg des Rechtspopulismus bedroht unsere Demokratie in ihrem Kern, sondern auch die wachsende soziale Ungleichheit. Immer mehr Reichtum und damit auch Macht, konzentriert sich in den Händen einer winzigen Minderheit von Kapitalbesitzenden. Um ihre Interessen durchzusetzen, betreiben sie eine millionenschwere und gut organisierte Interessen-, Lobby- und Spendenpolitik. Seit vielen Jahren bedient die Politik vorwiegend die Interessen der Reichen und Superreichen, die aus jeder Krise der vergangenen Jahrzehnte immer noch reicher und mächtiger herausgekommen sind. In der derzeit noch andauernden Corona-Krise ist das private Finanzvermögen weltweit gegenüber dem Vorjahr um gut 8% auf den Rekordwert von 250 Billionen Dollar (rund 205 Billionen Euro) gestiegen, wie aus einer Analyse der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) hervorgeht, über die die ZDF-heute-Sendung am 10. Juni 2021 berichtete. »Vor allem der Club der Reichen und Superreichen wuchs kräftig. In Deutschland stieg das private Finanzvermögen unter anderem aus Bargeld, Kontoguthaben, Aktien, Pensionen und Lebensversicherungen den Angaben zufolge um rund 6% auf rund neun Billionen Dollar. Das Sachvermögen erhöhte sich um fünf Prozent auf 13 Billionen Dollar.«[3] Demgegenüber stehen Millionen Beschäftigte, die während der Krise Einkommenseinbußen verzeichneten, Schulden machten oder ihren Job ganz verloren haben. Nach der Krise bleibt die Frage: Wer bezahlt sie? Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es harter Auseinandersetzungen bedürfen wird, die Krisengewinner:innen zur Kasse zu bitten.

Gerade im Metall- und Logistikbereich stehen wir vor großen Umbrüchen ganzer Branchen zur Bewältigung von Digitalisierung und Klimawandel, die oft als Transformation bezeichnet werden. Je mehr die Krisenkosten den Beschäftigten aufgedrückt werden und je weniger sie die kommende Transformation nach ihren Interessen und Bedürfnissen gestalten können, desto mehr werden Verunsicherung und Verbitterung unter ihnen anwachsen. Damit steigt auch die Bereitschaft, den vermeintlich einfachen Antworten von rechts zu folgen und rechte Parteien zu wählen. Infolge der wachsenden Ungleichheit bleiben immer mehr abhängig Beschäftigte, prekäre und Abgehängte Wahlen ganz fern. Viele haben das resignierte Gefühl: egal, wen sie wählen, an den Grundlagen einer sie benachteiligenden Politik wird sich nichts ändern. Und nicht zuletzt gerät auch die Demokratie im Betrieb unter Druck, wie etwa die zunehmenden Schwierigkeiten bei Betriebsratsgründungen zeigen.

Um so wichtiger ist es, die bedeutendste Machtressource, die den Beschäftigten zur Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung steht, wieder offensiver zu nutzen: die Organisierung in Gewerkschaften und das massenhafte in-Aktion-treten bis hin zum Streik. Aktivierung, Selbstaktivität, Selbstermächtigung und die Erfahrung von Wirksamkeit und damit Macht in kollektiven Aktionen sind zentrale Momente, mit denen Beschäftigte auf demokratische Entscheidungen in Betrieb und Gesellschaft in ihrem Interesse einwirken können.

Je mehr Macht organisierte Beschäftigte auf der betrieblichen Ebene aufbauen können, desto stärker sind ihre Gewerkschaften. Und je stärker die Gewerkschaften sind, desto eher können sie ihr politisches Mandat gesellschaftlich im Kampf für Umverteilung, für Gerechtigkeit, für die Demokratie und gegen Rechts zum Einsatz bringen. Wer die Demokratie schützen und ausbauen will, muss die Gewerkschaften stärken.

 

Macht. Gemeinsame Sache.

Dieses Buch wendet sich mit Fragen an eine neue Generation: Was können wir tun, wenn wir den Status Quo nicht länger akzeptieren? Welche Strategien stehen der breiten Mehrheit der Bevölkerung zur Verfügung, um ihre Interessen gegen eine winzige Elite durchzusetzen? Welche Institution kann für eine gerechtere Verteilung von Reichtum und Macht sorgen?

Die Antworten der Autorin sind ein leidenschaftliches Plädoyer für Gewerkschaften. Jane McAlevey ist überzeugt: Starke, lebendige und konfliktbereite Gewerkschaften können die Welt verändern! Diese Veränderungen sind jedoch kein Selbstläufer, denn nach ihrer Ansicht müssen sich die Gewerkschaften auch selbst verändern. Und sie ist überzeugt davon, dass sie es können. Ihr Vertrauen schöpft sie aus Beispielen aus der Geschichte der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die zeigen, wie unter schlechten Voraussetzungen gute Ergebnisse erstritten werden konnten. Vor allem aber schöpft sie aus aktuellen Beispielen vongroßen und erfolgreichen Streikbewegungen, an denen sie als Organizerin oft direkt beteiligt war. Auch wenn diese Beispiele aufgrund von hierzulande anderer, und oft besser geregelter Rahmenbedingungen wie Flächentarifverträge, dem Betriebsverfassungsgesetz, Personalvertretungsgesetze oder dem Kündigungsschutz nicht eins zu eins auf deutsche Betriebe übertragen werden können, so sollen und können sie dennoch ermutigen und inspirieren, die Organisationsmacht in den Betrieben zu stärken, Strukturen aufzubauen und sie beteiligungsorientiert auszurichten.

Die von Jane McAlevey anschaulich geschilderten Organizing-Beispiele und auch ihre Aussagen zu Gewerkschaften beziehen sich auf die USA. Moderne US-amerikanische Großkonzerne wie Amazon oder Uber haben allerdings auch hierzulande schon Fuß gefasst oder tun es gerade wie Tesla in Brandenburg. Viele von ihnen arbeiten mit Union Busting Agenturen zusammen, Unternehmen also, die darauf spezialisiert sind, den Gewerkschaften zu behindern, wo es nur geht. Die deutsche Mitbestimmung wird dabei gern missachtet, unterlaufen oder gezielt lahmgelegt.

Um das Buch für deutschsprachige Leser:innen zugänglicher zu machen, haben wir die Texte von Jane teilweise gekürzt und versucht sie in der Übersetzung noch anschaulicher zumachen sowie auf den wissenschaftlichen Anmerkungsapparat des Originals verzichtet. An anderen Stellen haben wir Begrifflichkeiten und Zusammenhänge in hinzugefügten Kästen erläutert.

»Macht. Gemeinsame Sache.« Den von uns gewählten Titel des Buches (im Original lautet der Titel » A Collective Bargain. Unions, Organizing, and the Fight for Democracy«) haben wir als IG Metall Jugend und Rosa-Luxemburg-Stiftung wortwörtlich genommen und uns entschlossen, es gemeinsam herauszugeben. Wir wollen diejenigen ermutigen, die schon ihre Stimme erheben, noch weitere Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Mitmenschen anzusprechen und für die Gewerkschaft zu begeistern. Wir wollen dazu ermutigen, sich vor Ort und in den Betrieben zu organisieren. In einer kapitalistischen Welt brauchen wir als Beschäftigte eine Gegenmacht in den Betrieben. Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen. Kein Unternehmen gibt freiwillig höhere Löhne oder sorgt für kürzere Arbeitszeiten. Die Belegschaften sind diverser geworden, Anstellungsverhältnisse, gerade in der jungen Generation, häufig prekär. Neben den schlechten Bedingungen, die Perspektive und Sicherheit kosten, gibt es noch einen weiteren Vorteil für die Arbeitgeber:innen: Sie spalten damit die Klasse der abhängig Beschäftigten.

Diesen Spaltungen wollen wir die Solidarität gewerkschaftlichen Handelns und Perspektiven eines Aufbaus von Gegenmacht unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts entgegensetzen. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Ansätze von Jane McAlevey dazu beitragen können, die Organisationsmacht deutscher Gewerkschaften zu stärken. Wir wollen zum Nachdenken anregen, zur Diskussion und zum Handeln einladen: Macht gemeinsame Sache! Vor Ort, in den Betrieben und den Hochschulen – es gibt genug zu tun!

 

Stefanie Holtz                                                            Florian Wilde
IG Metall Jugend                                                       Rosa-Luxemburg-Stiftung

Stefanie Holtz ist Bundesjugendsekretärin der IG Metall und Leiterin des Ressort Junge IG Metall und Studierende; Florian Wilde ist Referent für aktivierende und internationale Gewerkschaftspolitik in der Rosa- Luxemburg-Stiftung.

Bei diesem Text handelt es sich um den Vorabdruck des Vorworts zu dem neuen Buch von Jane McAlevey »Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie«, das von der IG Metall Jugend und der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam herausgegeben wird und im Juli im VSA: Ver- lag erscheint.

Link zum Text: Sozialismus H 7/8 2021. 

 

[1] Eine agil angelegte Kampagne, in der es im Kern um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der jungen Generation geht. Das geschieht über Themen und vor allem über Beteiligung von Auszubildenden, dual Studierenden und jungen Beschäftigten im Betrieb. Agil bedeuteti, dass es keine top-down Kampagne ist, sondern neben gemeinsamen Themen vor Ort Kampagnenpläne mit Aktiven entwickelt und thematisch angepasst werden können. Dieser Ansatz ist für die IG Metall neu.

[2] Dual Studierende machen in einigen betreuten Betrieben der IG Metall bereits rund 20% aller Lernenden im Betrieb aus. Gleichzeitig werden Ausbildungsplätze abgebaut. Das sorgt für Engpässe und regional teilweise schlechtere Chancen für Schulabgänger:innen ohne Abitur. Für dual Studierende gelten nur in bestimmten Fällen (wenn sie gleichzeitig eine duale Ausbildung absolvieren) die gleichen Rechte wie für Auszubildende. Sie sind außerhalb des Ausbildungsabschnittes noch nicht flächendeckend von Tarifverträgen erfasst. Es gibt keine Regularien, welche die Qualität sichern. Anders ist in der dualen Berufsausbildung wo es Rahmenpläne, geregelte Inhalte und vor allem Schutz für Auszubildende (Berufsbildungsgesetze, Übernahmesicherung nach §78a BetrVG für JAVen u. ä.) gibt.

[3] »Rekord trotz Corona – Studie: Reiche häufen noch mehr Vermögen an«; https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/corona-2020-privatvermoegen-rekordhoch-bcg-100.html