(neues deutschland)
Nomadische Weltaufwühlung.
Von Florian Wilde.
Man stelle sich einen international vernetzten und entschlossen agierenden antikapitalistischen Zusammenschluss vor. Transnational handelnd, in globaler Perspektive und mit modernsten Kommunikationsmitteln versuchen dessen Mitglieder, einen sozialistischen Ausweg für die Weltbevölkerung freizukämpfen. Sie wollen verhindern, dass die Menschheit in schlimmste Katastrophenlagen stürzt. – Was klingt wie eine progressive Utopie, ein Szenario aus ferner Zukunft, wurde vor einem Jahrhundert bereits einmal Wirklichkeit: in Gestalt nämlich der Komintern, der Kommunistischen Internationale.
»Das 20. Jahrhundert kannte wohl keine zweite Organisation und soziale Bewegung, die zugleich in ihrer Rhetorik derart international, in ihren Praktiken derart transnational und in ihrer Zielsetzung derart global ausgerichtet war«, schreibt Brigitte Studer in ihrem jüngst bei Suhrkamp erschienenen monumentalen Werk über die »Reisenden der Weltrevolution«. Diese »Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale« steht im Kontext eines in Zeiten der »Globalisierung« wachsenden Interesses an transnationalen Organisationsformen, das sich auch in einer Reihe von Publikationen zur Komintern um den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung 2019 ausdrückte. Studers Buch hält dabei noch einiges mehr, als sein Titel verspricht. Es ist zugleich eine Kollektivbiografie jenes transnationalen Milieus kommunistischer Revolutionäre, das Anna Seghers in »Die Gefährten« und Bertolt Brecht in »An die Nachgeborenen« so eindrücklich beschrieben haben: »Diese Berufsrevolutionäre bildeten eine Elite, die nicht auf Vermögen, Einkommen oder beruflich-sozialem Status beruhte, sondern auf der Zugehörigkeit zu einer kleinen verschworenen, wenn auch durch Konflikte und Konkurrenz geprägten Gruppe.«
Die emeritierte Berner Geschichtsprofessorin zeichnet deren prekäre, nomadische, aufreibende und gefährliche Lebens- und Arbeitsbedingungen detailliert nach. Sie bietet eine Geschichte der Komintern aus der Akteursperspektive, in die diese oft den ganzen Globus umspannenden Lebenswege eingeflochten werden. Dabei schreibt Studer auch die Geschlechtergeschichte der Komintern auf unaufdringliche Weise um- und teils neu: Oft vergessene und verdrängte Frauen erhalten den gebührenden Platz: Hilde Kramer, Tina Modotti, Ruth Oesterreich, Mentona Moser oder Fanny Jezierksa.
Ausgangspunkt ist das Moskau des Jahres 1920, der Zeit der »utopischen Sehnsucht nach Weltrevolution«, als Kommunisten aus aller Herren Länder zum 2. Weltkongress ihrer zunächst sehr pluralen Internationale zusammenkamen, um ihr ein festeres Fundament und einheitlichere Strukturen zu geben. Die junge Komintern zog dabei keineswegs nur Kommunisten an. Denn die Bolschewiki machten sich nicht nur zum Sprachrohr der Arbeiterbewegung, sondern »eigneten sich die Forderungen der antikolonialen Aktivisten und der nationalen Befreiungsbewegungen ebenso an wie diejenigen der linken Feministinnen«.
Berlin, Wuhan, Schanghai
Das Buch zeigt nebenbei, dass sich die wirkliche Geschichte einer solchen Organisation kaum schreiben lässt, wenn man sich nur auf ihre Publikationen, Protokolle, Plattformen und dergleichen stützt. So bliebe der »Spirit«, blieben die Dynamiken und Motivationen außen vor, welche die Komintern lebendig machten und vorantrieben. Es ist weit mehr als flüssig zu lesende Revolutionsromantik, wenn Studer etwa die gefährliche Anreise vieler Delegierter des Weltkongresses durch die Alliierte Blockade ins junge Sowjetrussland schildert. In den Debatten des Kongresses, in seinem Bemühen um eine kollektive Selbstverständigung über eine »Geopolitik der Subversion und Solidarität« schwingen die Abenteuer dieser Reisen mit, die sich mit dem noch frischen revolutionären Enthusiasmus in Moskau und Erfahrungen transnationaler Solidarität zu revolutionärem Elan verbinden.
Von Moskau aus begleitet das Buch einige der Akteure zunächst auf ihrer Weiterreise gen Osten, nach Baku zum antikolonialen »Kongress der Völker des Ostens«. Dann folgt es dem indischen Kommunisten Manabendra Nath Roy und seiner Partnerin, der Amerikanerin und antikolonialen Aktivistin Evelyn Trent, die gemeinsam im Exil die Kommunistische Partei Mexikos gegründet hatten, nach Taschkent. Dort erlebt ihr Plan einer Invasion Indiens durch eine kommunistische Geheimarmee allerdings ein rasches Scheitern. Von Taschkent ziehen die Roys weiter nach Berlin, in den 1920ern neben Moskau in Studers Worten »das zweite globale Betriebszentrum des internationalen Kommunismus«, ein »sternförmiger Knotenpunkt der kommunistischen Organisationen Europas und darüber hinaus« – und auch ein kulturelles Zentrum, das die »Wanderarbeiter der Komintern« in seinen Bann zog und in dem sie ein Leben »zwischen Askese und Boheme« lebten.
Hier war das Westeuropäische Sekretariat der Komintern angesiedelt, in dessen Auftrag auch die Roys die Kolonialrevolution vorantreiben sollen. Um das Sekretariat und die sowjetische Botschaft herum entstand ein ganzes Geflecht legaler und illegaler Organisationen, Zeitschriften und Tarnfirmen, das Studer minutiös rekonstruiert. Das damalige Berlin, dem mehrere Kapitel gewidmet sind, war der wichtigste Transitort für die Kader mit ihren gefälschten Pässen, für die politischen Materialien und die illegalen Finanzflüsse der Komintern, die über etliche konspirative Wohnungen verfügte.
Auch Willi Münzenberg dirigierte von hier aus sein innovatives kommunistisches Medienimperium. Er und die Roys knüpften ein Netz aus den verstreuten Exilanten und den Untergrundkommunisten der kolonisierten Länder und Gebiete. Sie organisierten antiimperialistische Kongresse, deren wichtigster 1927 in Brüssel stattfand. Anschließend ging Roy, nun von Ehefrau Evelyn getrennt, im Auftrag der Komintern nach China, auf dem Mitte der 1920er die kommunistischen Revolutionshoffnungen ruhten. Aus Opposition zum Stalinismus brach er schließlich mit der Organisation und kehrte nach Indien zurück, wo ihn die britischen Machthaber für Jahre in Haft steckten. Evelyn Trent wurde derweil eine prominente linke Journalistin in den USA und orchestrierte eine Solidaritätskampagne für ihren gefangenen Ex-Partner. Solche transnationalen Lebenswege durchästeln das gesamte Buch, sich immer wieder kreuzend.
China dient als Beispiel für die Schwierigkeiten der Agenten, in ihnen fremden kulturellen Kontexten sinnvoll zu agieren, oft irritiert durch widersprüchliche und schwankende Anweisungen aus dem Moskauer Hautquartier. Das revolutionäre Wuhan wurde vorübergehend zum »Magneten für Kommunisten aus aller Welt«. Nach der Niederschlagung der Revolution dort avancierte Schanghai zum Fernost-Hauptquartier. In der durch Kolonialkonzessionen aufgeteilten Stadt entstand ein beachtlicher Untergrundapparat mit Verbindungen bis nach Indonesien. Akribisch werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Illegalen in Schanghai aufbereitet – bis zur Sprengung ihres Netzes durch eine Verhaftungswelle im Jahr 1931.
Ein Ende mit Schrecken
Von China kehrt die Handlung zurück nach Europa, wo die 1933 aus Deutschland geflohenen Kommunisten beim Wiederaufbau ihrer Strukturen und dann bei Einsätzen in der spanischen Revolution begleitet werden – um schließlich im Ausgangsort in Moskau zu enden. Dort traf ab 1936 das »große Massaker« Stalins nicht zuletzt die Komintern mit voller Wucht: Von den 320 in dem Buch namentlich erwähnten Mitarbeitern der Internationale ließ Stalin nicht weniger als 64 ermorden, 17 fielen dem Nationalsozialismus zum Opfer. 1943 löste Stalin die Organisation sang- und klanglos auf. Seitdem sind alle Versuche einer Neugründung gescheitert, sei es als 3., 4. oder 5. Internationale.
Dabei schreien die heutigen Verhältnisse geradezu nach neuen Formen transnationaler Organisierung. Die Bedingungen sind durch die Fortentwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel sogar günstiger als vor hundert Jahren. Und doch weist momentan nur weniges in eine solche Richtung. Zu den Ansatzpunkten könnte die Rosa-Luxemburg-Stiftung zählen, die mit 27 Auslandsbüros eine beachtliche, legale Infrastruktur von Brückenköpfen in aller Welt geschaffen hat und neue Vernetzungsprozesse lokal verankerter Akteure auf globaler Ebene unterstützend begleiten kann. In Europa ist mit der Europäischen Linkspartei (EL) immerhin ein neuer Zusammenschluss linker Parteien entstanden. In Lateinamerika fasst das »São-Paulo-Forum« fast die gesamte Linke des Kontinents zusammen.
Gelänge es, dieses Potenzial für die Herausbildung eines transnationalen sozialistischen Zusammenschlusses auf der Höhe unserer Zeit zu nutzen, könnte eine neue Internationale tatsächlich eine Verheißung des 21. Jahrhunderts sein.
Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale. Suhrkamp, 618 S., brosch., 30 €.
Der Autor ist Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung.