(RosaLux) Die Zahl an politischen und Generalstreiks – verstanden als Streiks, die sich explizit gegen Regierungshandeln wie etwa Sozialabbau oder Rentenkürzungen richten – steigt in Westeuropa seit drei Jahrzehnten kontinuierlich an. In den 80er Jahren führten die Gewerkschaften Westeuropas 18, in den 90er Jahren 26 und in den 00er Jahren 37 Generalstreiks durch.
Seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrise ist ihre Zahl noch einmal massiv gestiegen: Allein in den Jahren 2010 und 2011 griffen Gewerkschaften 24 Mal zu dem Mittel eines Generalstreiks, 2012 fanden bereits welche in Griechenland, Belgien, Portugal und Spanien statt (Vgl. Kelly u.a. in: LuXemburg 2/2012). Unangefochtener Spitzenreiter der westeuropäischen Generalstreikstatistik ist Griechenland, gefolgt von Italien, Frankreich, Belgien und Spanien. Aber auch in traditionell weniger streikfreudigen Ländern wie den Niederlanden, Norwegen und Österreich kam dieses Mittel zum Einsatz. Hinzukommen sektorale politische Massenstreiks mit explizit politischer Stoßrichtung wie etwa in Großbritannien im November 2011. Besonders erstaunlich ist diese Zunahme an Generalstreiks vor dem Hintergrund der seit Mitte der 70er Jahren extrem gesunkenen Zahl an insgesamt durch Streiks verlorenen Arbeitstagen.
Zwei wichtige Entwicklungen kommen darin zum Ausdruck: So reflektiert der Rückgang an ökonomischen Betriebs- und Branchenstreiks die geschwächte Stellung der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im Zuge der postfordistischen Wende der kapitalistischen Produktionsweise. Outsourcing, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wachsende Arbeitslosigkeit, territoriale Versprengung und netzwerkartige Neustrukturierung der Produktion unter den Bedingungen der Globalisierung erschwerten die Handlungsmöglichkeiten abhängig Beschäftigter und machten sie verwundbarer. Da auch branchenweite ökonomische Streiks oft kaum noch tatsächlich eine ganze Branche erfassen, wächst die Angst der Beschäftigten vor Entlassung bei Streikteilnahme. Wenn nur einzelne Betriebe sich an einem Streik beteiligen, gewinnt zugleich das Unternehmerargument an Gewicht, der „eigene“ Betrieb würde durch den Streik geschädigt, die nichtbestreikte Konkurrenz gestärkt und somit der eigene Arbeitsplatz gefährdet. Ein Generalstreik, an dem sich idealerweise alle beteiligen, kann diesem Argument den Boden entziehen: Wenn „alle“ mitmachen, sinkt die Angst vor einer Entlassung durch Streikteilnahme. Ein Generalstreik kann auch denen erlauben, mitzumachen, die sich sonst nicht trauen würden, zu streiken.
Zugleich reflektiert die Zunahme an politischen und Generalstreiks den im Neoliberalismus massiv gewachsenen strukturellen Einfluss des Kapitals auf Regierungshandeln. Dieser drückt sich in direkter Form in Lobbyismus, Parteispenden und der Nutzung von Standortentscheidungen als Instrumenten politischer Erpressung und indirekt im Einfluss der großen Medienkonzerne auf die Bildung einer öffentlichen Meinung aus. Regierungen erwiesen sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr als Erfüllungsorgane von Kapitalinteressen: Die Steuern für die Reichen wurden drastisch gesenkt, die daraus resultierenden Einnahmeausfälle des Staates durch Sozial- und Stellenabbau und die Erhöhung indirekter Steuern kompensiert. Die zunehmende Durchsetzung von Kapitalinteressen durch die Regierungen führt zu einer tendenziellen Verlagerung von Kämpfen um die Verteidigung des Lebensstandartes abhängig Beschäftigter von der betrieblichen auf die nationale Ebene politischer Auseinandersetzungen. In diese versuchen Gewerkschaften einzugreifen, in dem sie notgedrungen das Mittel des Streiks verstärkt aus der Sphäre der betrieblichen in die der politischen Auseinandersetzungen exportierten. Seit dem Ausbruch der Krise 2008 bemühen sich Regierungen europaweit, die Kosten der Bankenrettungen auf die Arbeitnehmer abzuwälzen und die Anlagen globaler Investoren in europäische Staatsanleihen mittels eines drastischen Sparkurses abzusichern. Dabei sollen in Jahrzehnten durchgesetzte Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung in Bezug auf Lebensstandart, sozialer Absicherung und politischer Teilhabe geschliffen werden. Als Reaktion darauf steigt die Zahl der Generalstreiks im Europa der Krise weiter an.
Vor dem Hintergrund des strukturellen Übergewichtes des Kapitals im Neoliberalismus spielen politischen Streiks eine zunehmend wichtige Rolle als Waffen im Kampf um die Demokratie (Vgl. Gallas/Nowak in LuXemburg 2/2012). Diese droht im Zuge der europäischen Schuldenkrise noch weiter ausgehöhlt zu werden: Fiskalpakte beschneiden die Haushaltsrechte nationaler Parlamente, eine Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission kann Griechenland seine Sozial- und Wirtschaftspolitik diktieren, und in einigen Krisenländern kommen aus Technokraten gebildete faktische Notstandsregierungen an die Macht, die weitgehend ohne demokratische Kontrolle eine scharfe Kürzungspolitik im Interesse der ökonomischen Eliten durchsetzen. Unter diesen Bedingungen sind politische Streiks eines der wenigen verbleibenden Mittel, mit denen die Interessen der abhängig beschäftigten Bevölkerungsmehrheit artikuliert und der Durchsetzung der Interessen einer kleinen Bevölkerungsminderheit von Bankiers, Großunternehmern und Kapitaleignern entgegengetreten werden kann. Sie stehen für den Versuch, dem einseitigen Einfluss des Kapitals auf Regierungshandeln den Einfluss der Lohnabhängigen entgegenzusetzen. Dieses wird auch deshalb verstärkt mit außerparlamentarischen Instrumenten wie politischen Streiks versucht, weil die Sozialdemokratie als früher dominierende Interessenvertretung der Lohnabhängigen heute meist Teil eines neoliberalen Parteienkartells ist und den Austeritätskurs mitträgt. Parteipolitische Opposition dagegen wird fast nur noch von den europäischen Linksparteien verkörpert, die bisher allerdings zu schwach sind, um Alternativen zur herrschenden Krisenbearbeitung durchzusetzen. Sie sind aber die politische Kraft, die am entschiedensten für eine Unterstützung politischer Streiks steht.
Die Erfolgsbilanz von Generalstreiks in Europa ist durchwachsen. Der britische Generalstreikforscher John Kelly hat berechnet, dass vor dem Ausbruch der Krise etwa 40% aller Generalstreiks zu Zugeständnissen durch Regierungen führten. Im Europa der Krise scheint diese Bilanz bisher schlechter auszufallen. Eine grundsätzliche Abkehr von der Austeritätspolitik konnte noch in keinem Land durchgesetzt werden. Selbst eine Welle an Generalstreiks wie in Griechenland endete bisher in Niederlagen. Nur punktuell erreichten politische Streiks im Europa der Krise Zugeständnisse, etwa in Frankreich 2009 und Belgien 2012. Immer wieder trugen Generalstreiks zwar direkt oder indirekt zum Ende einer Regierung bei, etwa bei Berlusconis Sturz 1994 oder der Abwahl Juppes in Folge des großen Streiks in Frankreich 1995. Gerade in der aktuellen Krise ergab sich aber das Problem, dass Generalstreiks zwar die Krise bestehender Regierungen stark verschärfen konnten (etwa im Falle der sozialdemokratischen Regierungen Spaniens, Portugals und Griechenlands, deren Abwahl jeweils Generalstreiks vorausgingen). Bei den folgenden Wahlen aber setzten sich weiter rechts und der Kürzungspolitik gegenüber keineswegs kritischer eingestellte Parteien durch.
Dies verweist auf das bisherige Fehlen oder die Schwäche linker gesellschaftlicher Alternativen zur Sparpolitik und zum Neoliberalismus. Erst die Verbindung von Gewerkschaften, linken Parteien und sozialen Bewegungen in einem Projekt des gemeinsamen Kampfes um eine umfassende soziale und politische Demokratisierung der europäischen Gesellschaften und damit für eine Überwindung des Neoliberalismus und der Diktatur der Märkte wird die Voraussetzung schaffen, in Abwehrkämpfen wieder erfolgreicher zu sein und aus ihnen heraus wieder in die Offensive zu kommen.
Auf der Landkarte der wachsenden Zahl politischer Streiks in Europa gibt es einen großen weißen Fleck: Deutschland. Hier sind politische Streiks der vorherrschenden Rechtsauffassung nach verboten, kamen in den letzten Jahrzehnten allerdings dennoch vereinzelt zum Einsatz. In den letzten Jahren hat die Debatte um die Notwendigkeit politischer Streiks auch hierzulande wieder an Fahrt gewonnen. Dahinter steht die Erfahrung des gewerkschaftlichen Unvermögens, die Politik der Agenda2010 mit ihren für die Arbeitnehmer verheerenden Folgen (Ausweitung von prekärer Beschäftigung und Niedriglohnsektor; Disziplinierung der Beschäftigten durch Angst vor sozialem Absturz bei Hartz IV) mit herkömmlichen Mitteln stoppen zu können. Nicht zufällig wurde Deutschland so zum einzigen Land Europas ohne Reallohnsteigerungen in der letzten Dekade, was wesentlich zur Steigerung der deutschen Exportkraft auf Kosten unserer Nachbarländer und damit zur gegenwärtigen Eurokrise beitrug. Viele linke Gewerkschafter zogen daraus die Schlussfolgerung: Das Mittel politischer und Generalstreiks muss wieder in der Repertoire der deutschen Gewerkschaftsbewegung aufgenommen werden. Prominent wurde diese Position von Oskar Lafontaine mit der Forderung nach einem Recht auf den Generalstreik in die gesellschaftliche Debatte getragen. Die IG BAU sprach sich ebenso wie auf dem Gewerkschaftstag 2011 ver.di für politische Streiks aus. Ein von zahlreichen prominenten Gewerkschaftern und LINKE-Politikern erstunterzeichneter „Wiesbadener Apell“ für das politische Streikrecht fand in diesem Frühjahr in wenigen Tagen über 2.500 Unterstützer.
Auch in der Arbeit der RLS spielt das Thema eine wichtige Rolle: Auf dem 2. Treffen des Gesprächskreis Gewerkschaften der RLS diskutierten 70 Teilnehmer Strategien zur Durchsetzung politischer Streiks in Deutschland. Und am 5. Mai veranstaltet die RLS eine internationale Konferenz „Politische Streiks im Europa der Krise“, bei der mit generalstreikerprobten KollegInnen aus dem europäischen Ausland über ihre konkreten Erfahrungen bei der Organisation politischer Streiks diskutiert werden soll.
Florian Wilde ist Referent für Gewerkschaftspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Spitzenreiter Griechenland. Zur Notwendigkeit politischer Streiks im Europa der Krise. Von Florian Wilde. In: RosaLux 2/2012.