Streikwelle in Deutschland

(Rosalux) Eine Streikwelle? In Deutschland? Was vielen lange als Widerspruch in sich galt, schien im Frühjahr 2015 plötzlich Realität zu werden. Von der Bahn über die Kitas zur Post und bis zu den Piloten, von der Charité über Amazon bis zu den Geldautomatenwärtern und Nahverkehrsbetrieben Brandenburgs: Überall wurde gestreikt.

Aber stimmt der Eindruck, dass mehr als früher gestreikt wird? Und haben diese Streiks tatsächlich eine neue Qualität?

Zumindest in vielen Medien war die Frage schnell beantwortet und Deutschland zur Streikrepublik erklärt. Der Arbeitgeberpräsident sah durch die vielen Streiks sogar den Ruf der deutschen Wirtschaft im Ausland und damit den Standort Deutschland selbst bedroht. Dabei ist Deutschland im internationalen Vergleich ein sehr streikarmes Land. Hierzulande sind zwischen 2005 und 2013 in Durchschnitt pro Jahr gerade einmal 16 Streikausfalltage auf 1000 Beschäftigte zu verzeichnen gewesen. Weniger wird in Europa nur in Österreich, der Schweiz und Polen gestreikt. Auf ganz andere Zahlen kommen hingegen Belgien mit 77, Dänemark mit 135 und Frankreich mit 139 Ausfalltagen. Trotzdem ist in der Tendenz der letzten 10 Jahre eine Zunahme der Streiks in Deutschland festzustellen. Vor allem aber haben sich die Bereiche, in denen gestreikt wird, geändert – und mit ihnen das Bild der Streikenden in der Öffentlichkeit. Dominierten in den 70er und 80er Jahren Streiks in der Metallindustrie, betreffen mittlerweile 9 von 10 Streiks den Dienstleistungssektor. War das Bild des Streikenden früher stark vom männlichen deutschen Industriearbeiter (oder im Dienstleistungsbereich: dem Müllmann) geprägt, haben die großen Streiks im Einzelhandel 2013 oder im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 eine anderes Bild der Streikenden hervorgebracht. Der typische deutsche Streikende ist heute eine Frau, häufig eine mit Migrationshintergrund. Durch die Verlagerung des Streikgeschehens aus der Industrie in die Dienstleistung hat sich auch die öffentliche Wahrnehmung von Streiks verändert. Denn diese betreffen nun nicht mehr vorrangig nur den Arbeitgeber, sondern potenziell Millionen von Menschen, die ihre Kinder nicht in die Kita bringen oder nicht mehr Bahn fahren können, deren Flugzeuge am Boden bleiben oder deren Post nicht kommt. Dadurch sind Streiks in Medien und Gesellschaft sehr viel präsenter geworden – trotz weiterhin relativ niedriger Streikzahlen. Immerhin könnte 2015 zum streikreichsten Jahr seit 2006 werden. Allein bis Mitte Mai waren nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) insgesamt 350.000 Streikausfalltage zu verzeichnen – fast so viele wie im gesamten streikarmen Jahr 2014, aber weit weniger als die 1,5 Millionen Ausfalltage, die bei den Streiks für die 35-Stunden-Woche in den 80ern oder auch noch beim Streik im Öffentlichen Dienst 1992 erreicht wurden.

Ein weiterer Faktor, der die Streikwelle 2015 mit erklärt und der auch künftig wirken wird, ist die zunehmende Fragmentierung der Tariflandschaft. Die Erosion des Flächentarifvertrages führt zu immer mehr Haustarifverträgen – und damit in der Tendenz zu einer Zunahme der Zahl von Arbeitskämpfen. Häufig sind dies Abwehrkämpfe von Belegschaften, die ohne Flächentarifvertrag viel schwächer dastehen. Aber nicht nur – und hier bietet der Streikfrühling 2015 tatsächlich Entwicklungen, die Mut machen: eine Zunahme von offensiven Arbeitskämpfen, die geführt werden, um grundlegende Verbesserungen durchzukämpfen. So bei Amazon, wo ver.di aus einer eher schwachen Position heraus darum kämpft, dass die Beschäftigten nicht nach dem Logistik-, sondern nach dem besseren Einzelhandelstarifvertrag bezahlt werden. Oder bei der Charité, wo zwei Wochen lang erfolgreich für eine Mindestpersonalbemessung als einem Instrument gegen die ständige Arbeitsverdichtung gestreikt wurde. Oder bei den ErzieherInnen, die darum ringen, aufgewertet und höher eingruppiert zu werden. Es sind gerade diese Kämpfe, in denen es nicht einfach nur um einen etwas höheren Lohn, sondern um grundsätzliche Fragen von Anerkennung, Würde und gute Arbeit geht, die mit besonderer Vehemenz geführt werden.

Zusätzlich befeuerten Arbeitgeber und Bundesregierung mit dem Gesetz zur Tarifeinheit das Streikgeschehen, besonders bei der Bahn. Dieses Gesetz droht, sogenannten Spartengewerkschaften jede Streik- und damit Handlungsfähigkeit zu nehmen und stellt einen Angriff auf das Streikrecht insgesamt dar. Der lange schwelende Konflikt zwischen Bahn und GDL konnte schließlich dennoch beigelegt werden, und zwar unter Zuhilfenahme einer echten Neuerung dieses Frühjahrs: Mit Bodo Ramelow, Deutschlands erstem linken Ministerpräsident, wurde erstmals ein Linkspolitiker als Schlichter bei einem bundesweiten Tarifkonflikt eingesetzt. Ob die Fachtagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Tarifeinheitsgesetz im April in Erfurt wohl einen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete? Auf jeden Fall hatten an ihr neben Bodo Ramelow auch der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky sowie Klaus Bepler, Richter am Bundesarbeitsgericht und Moderator der späteren Schlichtungsgespräche, teilgenommen.

Die bisherigen Ergebnisse der Streikwelle 2015 sind durchwachsen: einige Auseinandersetzungen konnten für die Gewerkschaften erfolgreich abgeschlossen werden, etwa bei der Bahn oder der Charité. Andere endeten in Niederlagen, wie bei der Post, deren Strategie einer Durchsetzung von Niedriglöhnen durch Ausgliederungen nicht verhindert werden konnte. Wieder andere schwelen noch, wie im Sozial- und Erziehungsdienst, wo die angestrebte Aufwertung an der Blockade der Arbeitgeber zu scheitern droht, oder werden uns sogar noch eine ganze Weile beschäftigen, wie bei Amazon. Auch das Gesamtbild bleibt widersprüchlich: dort, wo die Verteilungsspielräume am größten sind – in den boomenden Exportbranchen der Metallindustrie und des Maschinenbaus – herrscht weitgehend Ruhe an der Streikfront. Dort, wo klamme Kassen herrschen – so bei den öffentlichen Arbeitgebern – wird heftig gerungen. Gerade dort entscheiden die gesellschaftliche Stimmung und der öffentliche Druck besonders stark mit über den Ausgang von Streiks. Gerade hier ist linke Streiksolidarität notwendig, weil sie einen wichtigen Unterschied in diesen manchmal wegweisenden Kämpfen um Würde, Aufwertung und gute Arbeit machen kann.

In der Arbeit der RLS spielten Streiks schon lange vor diesem Frühjahr eine wichtige Rolle. Bereits 2012 wurden unter dem Motto „Politische Streiks im Europa der Krise“ die Generalstreiks Südeuropas in den Blick genommen. 2013 veranstaltete die RLS zusammen mit ver.di Stuttgart die erste „Erneuerung durch Streik“-Konferenz, auf der 500 TeilnehmerInnen sich über Streikerfahrungen und –strategien austauschten und sich vernetzten. 2014 folgte die zweite Streikkonferenz, diesmal zusammen mit ver.di Hannover und 700 Teilnehmenden. Und auch über dieses Frühjahr hinaus wird das Thema einen wichtigen Platz in der Stiftungsarbeit behalten: für den Herbst 2015 ist ein Ratschlag mit den Amazonbeschäftigten anvisiert und eine Strategiekonferenz zu den Auseinandersetzungen in den Bereichen Pflege und Gesundheit geplant. Und für den Herbst 2016 steht die 3. Konferenz der „Erneuerung durch Streik“-Reihe auf dem Programm. Dort wird es dann auch um eine Auswertung des deutschen Streikfrühlings gehen.

Florian Wilde ist Referent für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften in der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Streikwelle in Deutschland. Was die derzeitigen Ausstände über den Stand der Klassenkämpfe verraten. Von Florian Wilde, in: Rosalux 2/2015, S.4f

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Interview: «Bestens vorbereitet». Stiftungsvorstand Raane über Tagung zur Tarifeinheit in Erfurt.

Bei der Fachtagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema «Tarifeinheit – Streikrecht – Gewerkschaftspluralis- mus» im April 2015 in Erfurt diskutierten etwa 100 Teilneh- merInnen über das Tarifeinheitsgesetz der Bundesregie- rung. Peeter Raane, Vorstandsmitglied der Stiftung, über die Faktoren für den erfolgreichen Verlauf der Tagung.

Aus welchen Überlegungen heraus organisierte die Rosa-Lu- xemburg-Stiftung eine Fachtagung zum Thema Tarifeinheit?

Raane: Die Tagung fand im Vorfeld der zweiten und dritten Le- sung des Tarifeinheitsgesetzes im Deutschen Bundestag statt und diente der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Ge- setzesentwurf. Das Ziel war sowohl zur Verteidigung der Tarif- autonomie und des Streikrechts beizutragen, als auch ein abge- stimmtes gewerkschaftliches Handeln zu befördern. Das Thema selbst war durch den Lokführerstreik im Fokus der Medien. Die Diskussionen auf der Tagung verliefen auf hohem fachlichem Ni- veau. Dazu hat auch die Aufarbeitung des Problemkreises durch den ehemaligen Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, in der Broschüre «Hände weg von Koalitionsfreiheit, Tarifautono- mie und Streikrecht!» im Vorfeld der Tagung beigetragen.

Was sprach für Erfurt als Tagungsort?

Raane: Erfurt ist Sitz des Bundesarbeitsgerichts und seit De- zember 2014 auch die Heimat der ersten gemeinsamen Lan- desregierung der LINKEN, SPD und Grünen mit dem Minister- präsidenten Bodo Ramelow, der auch bei der Tagung sprach. Das war trotz logistischer Probleme ein großes politisches Plus. Die Fachtagung war gut besucht. Wie setzte sich das Publi- kum zusammen?

Raane: Die Teilnehmenden waren als GewerkschafterInnen, WissenschafterInnen, ArbeitsjuristInnen, ParlamentarierInnen fachlich bestens vorbereitet, und sie erhielten alle Gelegenheit, ihre zum Teil kontroversen Auffassungen vorzutragen. Alle re- levanten Gruppen – sowohl im DGB als auch in den Sparten- gewerkschaften – hatten eine faire Chance in der Diskussion. Besonders überrascht hat mich, dass Reinhard Göhner, der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitge- berverbände, bereit war, den Diskurs zu eröffnen und die Posi- tion der Koalition von CDU, SPD sowie der Arbeitgeber und der DGB-Mehrheit zum Tarifeinheitsgesetz zu erläutern.

Wodurch zeichnete sich die Tagung aus?

Raane: Zu den positiven Auswirkungen der Tagung gehört wohl auch, dass dort durch das Auftre-
ten Bodo Ramelows bei der Lokführergewerkschaft GDL das Vertrauen entstand, ihn gemeinsam mit Matthias Platzeck als Schlich- ter im inzwischen erfolgreich beendeten Tarifkonflikt mit der Bahn vorzuschlagen.

Fragen: Florian Wilde

in: Ebenda, S.5