Ein Netzwerk von linken Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten organisiert den Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg. Eine tragende Rolle in der Untergrundarbeit spielt dabei der junge Ernst Meyer. Von Florian Wilde.
Florian Wilde ist Historiker und arbeitet als wissenschaftlicher Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Gewerkschaftspolitik. Anfang Mai erscheint sein Buch »Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930). Biographie eines KPD-Vorsitzenden«.
Am Abend des 4. August 1914 versammelten sich die engsten politischen Freunde Rosa Luxemburgs in ihrer Steglitzer Wohnung. Die Stimmung war niedergeschlagen und verzweifelt. Am Vormittag war etwas eingetreten, das sich kaum jemand der Anwesenden hätte vorstellen können: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie hatte den Kriegskrediten zugestimmt und damit ihre jahrelange Opposition gegen imperialistische Kriegspolitik aufgegeben. Auch in anderen kriegsführenden Ländern fielen die sozialistischen Parteien um und stellten sich auf die Seite »ihrer« Regierungen. Die Zweite Internationale, der große weltweite Zusammenschluss der Sozialisten, hatte eigentlich verabredet, einem Kriegsausbruch mit Massenstreiks zu begegnen. Nun brach die Internationale auseinander, weil die meisten ihrer Mitgliedsparteien stattdessen ein nationales Bündnis mit den Herrschenden eingingen.
Rosa sprach von Selbstmord
»Gleich, nachdem die Entscheidung im Reichstag gefallen war, eilte ich zu Rosa. Sie war fassungslos vor Empörung«, erinnerte sich ein Teilnehmer des abendlichen Treffens. »Was war zu tun? Rosa sprach zuerst von Selbstmord, als sichtbarsten Protest gegen den Verrat der Partei, als sichtbarstes Warnungssignal an die Massen des Proletariats. Wir redeten ihr mit aller Energie solche Absichten aus. (…) Dann holte ich noch am Abend die besten und bekannten Genossen zu einer Besprechung zusammen. Der alte Franz Mehring kam, tobte und schimpfte, wie nur Franz Mehring schimpfen konnte. Es kam unser alter russischer Freund Marchlewski, es kam Hermann Duncker, Wilhelm Pieck und Ernst Meyer.« Der damals 27-jährige Meyer war der mit Abstand Jüngste in der Runde – der Nächstältere, Wilhelm Pick, war 38, die anderen alle schon mehr als vierzig Jahre alt. Franz Mehring ging bereits auf die Siebzig zu.
Ernst Meyer als antisozialistischer Intellektueller
Ernst Meyer war als Student in Königsberg eigentlich als antisozialistischer Intellektueller bekannt gewesen. Als solcher wurde er 1908 zu einem Streitgespräch mit dem prominenten Sozialdemokraten Hugo Haase eingeladen. Gewissenhaft bereitete Meyer sich vor und begann, intensiv Marx zu lesen. Schließlich musste er das Streitgespräch absagen: Seine Lektüre hatte ihn von der Richtigkeit der marxistischen Auffassungen überzeugt. Statt gegen Haase zu polemisieren, trat er der SPD bei. Im Jahr 1912 zog er nach Berlin und suchte sich eine Wohnung in Steglitz. Die damals noch eigenständige Gemeinde war eine linksradikale Hochburg in der SPD. In unmittelbarer Nähe Meyers wohnten Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Wilhelm Pieck und weitere. Eine wichtige Rolle bei der Verständigung und Herausbildung dieser radikalen sozialdemokratischen Linken spielten damals gesellige Zusammenkünfte mit einem halb privaten, halb politischen Charakter. Einem solchem Zirkel – der nach den bei diesen Zusammenkünften im Winter bevorzugten scharfen Grog »Eisbrecher-Runde« genannt wurde und sich immer Freitagabends in einer Kneipe traf – gehörte auch Ernst Meyer an. Organisatorische Strukturen, die deutlich über eine Kneipenrunde hinausgingen, hatten die Linken in der SPD vor Kriegsbeginn nicht aufgebaut. Das enge politische und freundschaftliche Vertrauensverhältnis untereinander erwies sich in der Folgezeit aber als wichtige Ressource.
Schwäche der radikalen Linken
Das Treffen in der Wohnung Rosa Luxemburgs offenbarte zunächst einmal mit aller Deutlichkeit die organisatorische Schwäche der radikalen Linken: Zwar hatten sie jahrelang – so in den großen Massenstreikdebatten – für eine radikale Praxis der SPD gestritten. Aber sie hatten versäumt, sich dabei in der Partei eigene, handlungs- und interventionsfähige Strukturen aufzubauen. Bei Kriegsausbruch standen sie ohne ein reichsweit organisiertes Netzwerk von Genossen, ohne Zeitungen und ohne eigene Gelder da. Diese Strukturen mussten in den folgenden Kriegsjahren unter permanentem Repressionsdruck mühevoll aufgebaut werden. Die Gruppe wurde beständig von Spitzeln überwacht, immer wieder kam es zu Hausdurchsuchungen, Zeitungen und Flugblätter wurden beschlagnahmt, die klandestinen Vertriebswege unterbrochen. Rosa Luxemburg wurde verhaftet, Karl Liebknecht trotz seines Reichstagsmandates eingezogen und an die Front geschickt. Ernst Meyer musste erstmals im September 1915 wegen der Verbreitung von Antikriegs-Flugschriften für einen Monat ins Gefängnis.
Im Frühjahr 1915 gelang es dem Kreis, mit »Die Internationale« erstmals eine eigene Zeitschrift herauszugeben. Diese wurde zwar verboten und beschlagnahmt, aber zuvor konnten die SPD-Linken an einem einzigen Abend 5000 Exemplare bei Berliner Parteiversammlungen verkaufen.
»Unser Vaterland ist die Menschheit!«
An der Basis der SPD nahmen Forderungen nach einer Rückkehr der Partei zur Antikriegspolitik zu. So berichtete der Reichstagsabgeordnete Heine vom rechten SPD-Flügel über eine Parteiversammlung im Juni 1915 in Neukölln, er habe sich mit Zwischenrufen konfrontiert gesehen wie: »Wir sind vaterlandslose Gesellen und wollen es bleiben! – Unser Vaterland ist die Menschheit! – Wer sagt Ihnen denn, dass wir siegen wollen? – Unsere Soldaten sollen das Gewehr gegen die Tyrannen kehren!« Dieser allmählich zunehmenden Antikriegsstimmung versuchte der Kreis um Rosa Luxemburg politischen Ausdruck zu verleihen und sich selbst gleichzeitig enger zusammenzuschließen und zu organisieren. Diesem Zweck diente auch ein konspiratives Treffen in der Wohnung Liebknechts am 1. Januar 1916, zu dem Genossinnen und Genossen aus verschiedenen Städten angereist waren. Hier wurde beschlossen, eine regelmäßige illegale Zeitschrift herauszugeben. Auf Vorschlag Meyers erhielt sie den Namen »Spartacus«. Um die Zeitschrift und ihre heimliche Verbreitung entstand ein reichsweites Netzwerk, das bald als Spartakusgruppe bezeichnet wurde.
Am 1. Mai 1916 organisierte die Gruppe eine illegale Antikriegskundgebung in Berlin. Liebknecht, der als erster im Reichstag gegen den Krieg gestimmt und die Existenz einer linken Antikriegsopposition in Deutschland damit weltweit sichtbar gemacht hatte, ergriff das Wort: »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!« Er wurde daraufhin verhaftet und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Gegen dieses Urteil kam es in Berlin zu einem ersten politischen Massenstreik, an dem sich 55.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten.
Massenstreiks gegen den Krieg
Mit der Dauer des Krieges wuchs auch der Widerstand. Es war der erste Krieg, in dem Kampfbomber, Flugzeugträger und massenhaft Giftgas eingesetzt wurden. Fast zehn Millionen Soldaten aus allen Ländern kamen in den Schlachten von Verdun, Tannenberg und anderswo ums Leben, doppelt so viele wurden verletzt. Zehn Millionen Zivilisten starben abseits der Front an Hunger und entbehrungsbedingten Krankheiten. Weitere Massenstreiks gegen den Krieg brachen im April 1917 und im Januar 1918 aus.
Mit der Wut über den Krieg wuchs langsam auch die Spartakusgruppe. Immer häufiger war sie in der Lage, illegale Zeitungen und Flugblätter herauszubringen und Aktionen gegen den Krieg zu organisieren. Meyer berichtete später über die Verbreitung der Spartakus-Flugblätter: »Sie geschah durch Hunderte von Freiwilligen, die sie mit beispiellosem Opfermut und freudiger Hingabe in Tausenden von Exemplaren in die Betriebe, in die Arbeiterorganisationen und sogar in die Schützengräben brachten. Besonders viel leisteten dabei die Jugendlichen und die Frauen. Es wurde so kräftig zugepackt, dass die von uns vorgesehenen Auflagen häufig nicht ausreichten.« Mit dem Wachstum der Aktivitäten wuchs die Repression gegen die Revolutionäre: Rosa Luxemburg wurde nur drei Monate nach ihrer Freilassung 1916 erneut zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch Meyer wurde im August 1916 wieder verhaftet und musste dieses Mal für fünf Monate in »Schutzhaft«.
Ernst Meyer und die illegale Untergrundarbeit
Luxemburg und ihre Genossen hatten sich zu Beginn des Krieges darauf verständigt, in der SPD zu bleiben. Das hing mit der Grundannahme Luxemburgs über die sozialistische Revolution zusammen: Für sie konnte »die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst« sein, war Befreiung nur als Selbstbefreiung der Massen denkbar – und solange sich die proletarischen Massen an der SPD orientierten, müssten auch die Revolutionäre in diesem Umfeld aktiv sein. Diese Taktik ging zumindest teilweise auf. Denn neben der radikalen Spartakusgruppe gab es auch eine starke Strömung gemäßigter Kriegsgegner in der Partei. Auch sie lehnten den Kuschelkurs der SPD-Führung gegenüber Staat, Kapital und Polizeibehörden ab, konnten sich aber lange nicht zu eigenen Aktivitäten durchringen. Doch unter dem beständigen Druck der Spartakusgruppe radikalisierten sie sich schließlich und gründeten im April 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Unter der Bedingung, eigene Strukturen beibehalten und ihre Positionen ungehindert vertreten zu können, arbeitete auch die Spartakusgruppe fortan in der neuen Partei mit.
Der Repressionsdruck blieb aber weiterhin hoch. Da die anderen führenden Genossen im Knast waren, wurde Meyer im Jahr 1918 Leiter der illegalen Untergrundarbeit der Gruppe. Er war in einem Redakteur ihrer Publikationen, Organisator des Drucks und der illegalen Vertriebswege, Koordinator der Aktivitäten in den einzelnen Städten, Kassierer der Mitgliedsbeiträge und Zuständiger für den Kontakt mit revolutionären Kräften in anderen Ländern.
Verstärkt bemühte er sich um eine Agitation in den Betrieben. In ihren Flugblättern rief die Spartakusgruppe nun offen zur »Herbeiführung eines sofortigen Friedens sowie den Sturz der bestehenden Gesellschaftsordnung«, zur Bewaffnung der Arbeiterschaft und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten auf.
Spartakusbund und Novemberrevolution
Als im November 1918 die Kieler Matrosen gegen den Krieg rebellierten, sich mit den Arbeiterinnen und Arbeitern verbrüderten und die Novemberrevolution auslösten, geschah genau das, was die Spartakusgruppe schon lange gefordert hatte: Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet, der Kaiser gestürzt, der Krieg beendet. Die Spartakusleute spielten namentlich in Berlin bei der unmittelbaren Vorbereitung der Novemberrevolution eine wichtige Rolle. Als die Revolution am 9. November die Hauptstadt erreichte, riefen sie mit einem von Liebknecht und Meyer unterzeichneten Flugblatt zum Generalstreik und zur Bildung von Räten auf.
Mittags proklamierte Karl Liebknecht vom Balkon des besetzten Berliner Stadtschlosses aus die »freie sozialistische Republik Deutschland«, während Meyer die Besetzung eines bürgerlichen Zeitungsverlages organisierte, um mit der »Roten Fahne« eine Tageszeitung der sich nun Spartakusbund nennenden Organisation herauszugeben.
Allerdings musste der Spartakusbund rasch die bittere Erfahrung machen, immer noch viel zu schwach zu sein, um das Abwürgen der Revolution durch die Sozialdemokratie verhindern zu können. Zum Jahreswechsel 1918/19 wurde daher die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet. Meyer eröffnete den Gründungsparteitag mit einem Überblick über die Untergrundaktivitäten der vergangenen vier Jahre. Aber auch später betonte er immer wieder, die eigentliche Geburtsstunde des deutschen Kommunismus sei das Treffen in der Wohnung Rosa Luxemburgs am 4. August 1914 gewesen. Aus dem kleinen Häuflein verzweifelter Genossinnen und Genossen war eine Partei geworden, in deren Reihen sich bald Hunderttausende revolutionäre Arbeiter organisieren sollten.
Florian Wilde
Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930). Biographie eines KPD-Vorsitzenden
UVK
Konstanz und München
ca. 450 Seiten
Erscheint voraussichtlich im Mai
Triff unseren Autor Florian Wilde auf dem diesjährigen »MARX IS‘ MUSS«-Kongress. Der Historiker wird Dich in die Jahre 1919 bis 1923 mitnehmen und erzählen wie die revolutionäre Strategie und Taktik der damaligen KPDaussah.
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