Von Lampedusa in die Hansestadt

Es waren ungefähr dreihundert westafrikanische Flüchtlinge, die im Frühjahr 2013 von Libyen aus kommend Hamburg erreichten. Ihr Weg hatte sie über eine gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zunächst auf die Insel Lampedusa (Italien) geführt. Laut den EU-Regelungen wäre Italien als erstes europäisches Land, das die Flüchtlinge betraten, für sie zuständig gewesen. Die italienischen Behörden setzten die Flüchtlinge aber in einen Zug, drückten ihnen etwas Geld und – in anderen EU-Ländern wertlose – Papiere in die Hand und schickten sie nach Norden.

In Hamburg angekommen, weigerten sich die Behörden unter Verweis auf die EU-Richtlinien, den Flüchtlingen eine dauerhafte Unterkunft zur Verfügung zu stellen und versuchten, sie gleich wieder aus der Stadt zu treiben. Doch die Flüchtlinge wollten nicht weiter ziehen. Wohin denn auch? Sie entschieden sich zu bleiben, an die Öffentlichkeit zu gehen und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie stießen dabei auf eine spontane Welle der Sympathie und Solidarität in Teilen der Bevölkerung.

Kiez-Türsteher schützen die Flüchtlinge

Evangelische Kirchen öffneten ihre Tore, ebenso Moscheen. Auch alternative Zentren und Wohnprojekte nahmen Flüchtlinge auf. Etwa 80 fanden Unterschlupf in einer Kirche im Stadtteil St.Pauli, gleich neben den ehemals besetzten Hafenstraße-Häusern und dem Park Fiction, einem von den Anwohnern gegen Investoreninteressen durchgesetzten und selbstgestalteten Park. Dort organisierten die Anwohner mehrere Willkommens-Grillabende für die Flüchtlinge. Jeden Tag wurden Lebensmittel und Decken zur Kirche gebracht, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Der FC St.Pauli spendete Nahrungsmittel und Fanbekleidung. Ver.di und die GEW organisierten eine Willkommensparty im Gewerkschaftshaus. Nachdem es zu rassistischen Pöbeleien von Burschenschaftern gegen die Flüchtlinge gekommen war, meldete sich ein Kiez-Türsteher freiwillig, um wochenlang nachts vor der Kirche Wache zu stehen. Der damals noch linke AStA der Uni Hamburg, SDS* Hamburg, autonome Gruppen, Avanti, DIE LINKE, ver.di, GEW und andere organisierten eine erste große antirassistische Demonstration Anfang April. Auch auf der großen Herbst-Demonstration „Keine Profite mit der Miete“ des Hamburger „Recht auf Stadt“-Bündnisses am 28. Oktober spielte das Thema eine wichtige Rolle.

Der Kampf für ein Bleiberecht

Doch während die Flüchtlinge viel Solidarität aus der Bevölkerung, von linken Gruppen und Gewerkschaften erfuhren, blieb der Hamburger SPD-Senat bei seiner harten Linie: Die Anwesenheit der Flüchtlinge verstoße gegen EU-Richtlinien, sie müssten die Stadt verlassen. Als es im Herbst kälter wurde, wollten die Kirchen Container aufstellen, in denen die Flüchtlinge schlafen können. Während der Bezirk Altona mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken zustimmte, untersagte der Senat den Kirchen das Aufstellen der Container. Sie würden sich sonst illegaler Fluchthilfe schuldig machen. An der harten Linie der SPD änderte auch die Katastrophe vor Lampedusa mit über 250 ertrunkenen Flüchtlingen nichts. Im Gegenteil:

Am 11. Oktober begannen massive rassistische Polizeikontrollen mit dem Ziel, die Flüchtlinge zu erfassen und ihre Abschiebung vorzubereiten. Vor den Kirchen und anderen Unterkünften lauerten die Beamten afrikanisch aussehenden Menschen auf. Dagegen erhob sich eine spontane Welle des Protestes. Noch am gleichen Abend gingen in Altona über 1.000 Menschen auf die Straße, spontan, wütend und sehr laut. Am nächsten Tag, einem Samstag, versammelten sich bereits am Mittag trotz Hamburger Dauerregens viele hundert Menschen im Park Fiction und zogen durch St. Pauli. Viele Anwohner schlossen sich an. Am Sonntag blockierten 50 Unterstützer aus Protest den Eingang des Hamburger Rathauses.

Ultimatum an den Senat

Noch am gleichen Abend kam es in der Roten Flora, dem besetzten autonomen Zentrum im Schanzenviertel, zu einer Vollversammlung, um den Umgang mit den Polizeikontrollen zu diskutieren. Im Anschluss demonstrierten erneut über 500 Leute spontan durch die Schanze für ein Bleiberecht der Flüchtlinge. Die Vollversammlung beschloss außerdem ein Ultimatum an den Hamburger Senat: Wenn dieser nicht bis Dienstag Abend die Polizeikontrollen der Flüchtlinge beende, werde man wieder auf die Straße gehen und den Protest eskalieren: „Wir beschränken uns nicht mehr auf legale Protestformen, wenn tagtäglich Menschen im Mittelmeer ertrinken und dies alles vom Hamburger Senat trotz internationaler Kritik lediglich zum Anlass genommen wird, den Druck auf Flüchtlinge zu erhöhen.“

Tatsächlich versammelten sich am Dienstagabend weit über 1.000 Menschen vor der Roten Flora und zogen unangemeldet durch das Schanzenviertel. Nach wenigen hundert Metern wurde die Demonstration von der Polizei brutal angegriffen, als Reaktion flogen Steine, Flaschen und Böller. Stundenlang setzten Kleingruppen den Protest fort. Nur einen Tag später, am Mittwoch, den 16. Oktober, waren es erneut etwa 1.100 Menschen, die von einem Protestcamp der Flüchtlinge vor dem Hauptbahnhof aus durch die Innenstadt zogen. Gleichzeitig veröffentlichte die 10. Klasse einer Schule auf St.Pauli einen Aufruf, in dem sie erklärten, ihre Turnhalle den Flüchtlingen zu Verfügung zu stellen.

Recht auf Stadt

Die Proteste in Hamburg beziehen ihre Stärke und Dynamik auch aus ihrer engen Verbindung mit der „Recht auf Stadt“-Bewegung, die sich gegen die Privatisierung des öffentlichen Raumes, für günstigen Wohnraum, gegen Kommerzialisierung und für Freiräume für alle – also auch Flüchtlinge – einsetzt. In Hamburg gibt es eine lange Tradition linker stadtteilpolitischer Kämpfe und Bewegungen. So wurden in den 80ern und frühen 90er Jahren die Hafenstraße, die Rote Flora und viele weitere Häuser besetzt und ihr Erhalt – meist in der Form von Wohnprojekten – durchgesetzt. Die Rote Flora besteht sogar seit 1987 als besetztes autonomes Zentrum ohne jeden Vertrag. Zwar wurden andere Projekte geräumt und beendet, wie 2002 der Bauwagenplatz „Bambule“. Jedoch folgten dann monatelange, zum Teil militante Proteste.

Seit in den späten 2000er Jahren die Mieten in Hamburg regelrecht explodierten, formiert sich auch der Widerstand in einem „Recht auf Stadt“-Netzwerk neu. Alljährlich gelingt es seitdem, viele tausend Menschen zu Herbstdemos gegen den „Mietenwahnsinn“ zu mobilisieren. Wenn Investorenpläne für die innerstädtischen Gebiete bekannt werden, folgten immer wieder Proteste: Anwohner hängen Protest-Fahnen aus den Fenstern, es werden symbolisch Häuser besetzt, Informations-Veranstaltungen organisiert. Zwar konnten viele Investoren-Pläne trotzdem nicht verhindert werden, aber unter dem Druck der Bewegung sahen sich schließlich alle Parteien in Hamburg gezwungen, die Mietenfrage in das Zentrum des Wahlkampfes zu rücken und massive Wohnungsbauprogramme zu versprechen. Aber auch ganz konkrete Erfolge konnte die Bewegung erzielen: im Sommer 2009 wurde das Gängeviertel, zwei kleine Straßen mit historischer Bausubstanz, besetzt und besteht seit dem als selbstverwaltetes nichtkommerzielles Projekt.

Im Spätsommer 2013 wurde bekannt, dass die Rote Flora in ihrer Existenz als besetztes linksautonomes Zentrum bedroht wird: vor Jahren schon von der Stadt an einen Investor verkauft, hat dieser nun angekündigt, die Flora in eine kommerzielle Konzerthalle zu verwandeln. Alle Parteien bis hin zur CDU haben gegen eine Veränderung an der Roten Flora ausgesprochen: Sie gehöre so, wie sie ist, zum Schanzenviertel. Denn allen ist klar: Die Flora hat eine weit über Hamburg hinausreichende Bedeutung. Ihre Räumung würde zu heftigen Protesten führen und immense finanzielle und politische Kosten verursachen. Diese scheut die Politik. Dennoch ist es möglich, dass der Investor vor Gericht seine Interessen und damit eine Räumung der Roten Flora durchsetzt. Seit dem Bekanntwerden der Bedrohung der Flora wurden von dort aus zahlreiche Aktivitäten entfaltet, die sich zugleich immer auch auf den Kampf der Flüchtlinge beziehen.

Heißer Herbst in Hamburg

Ob der Druck der Bewegung ausreichen wird, tatsächlich ein Bleiberecht für die Flüchtlinge durchzusetzen, wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die Bewegung auszuweiten. Der Straßenprotest wird bisher im Wesentlichen von linken und autonomen Gruppen, der Partei DIE LINKE und einigen Gewerkschaften – oder Teilen von ihnen – getragen. Und die konkrete Solidarität mit den Flüchtlingen besteht vor allem in den von jahrelangen linken Bewegungen geprägten Stadtteilen wie St.Pauli, Altona und Sternschanze. Andernorts hat der Kurs des Senates auch weiterhin viel Zustimmung und trifft auch auf weitverbreitete rassistische Ressentiments. Um die mit absoluter Mehrheit regierende SPD tatsächlich zu einer Abkehr von ihrem Kurs zu zwingen, wird es notwendig sein, den Druck aufrechtzuerhalten, zu erhöhen und andere Spektren wie sozialdemokratische und grüne Milieus in die Bewegung hineinzuziehen.

Der Herbst 2013 hat in Hamburg hat aber in jedem Fall heiß begonnen, und es soll so weitergehen: Zahlreiche weitere Demonstrationen und Aktionen für ein Bleiberecht für die Flüchtlinge und für ein Recht auf Stadt sind geplant. Sie sollen in einer bundesweiten Großdemonstration am 21. Dezember zur Verteidigung der Roten Flora, gegen die drohende Abschiebung der Flüchtlinge und für ein Recht auf Stadt für alle gipfeln.

Von Florian Wilde, Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE.

Mehr Informationen:

Von Lampedusa in die Hansestadt. Während es vielerorts in Europa zu rassistischen Pogromen gegen Flüchtlinge kommt, erlebt Hamburg gerade das Gegenteil: eine breite Bewegung für das Bleiberecht von Flüchtlingen, verbunden mit dem Kampf um ein Recht auf Stadt. Von Florian Wilde. Veröffentlicht auf marx21.de