(junge Welt) »Massive Welle von Generalstreiks in Europa«. Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung will Debatte über politische Arbeitsniederlegungen voranbringen. Ein Gespräch mit Florian Wilde. In: junge Welt, 17.04.12
Frage: In Spanien hat ein 24stündiger Generalstreik Ende März weite Teile der Wirtschaft lahmgelegt, ebenso in Portugal. Die Beschäftigten in Italien haben im selben Monat die Arbeit für zwei Stunden unterbrochen, Ende Mai soll ein achtstündiger Generalstreik folgen. Griechenland ist ohnehin ständig im Ausstand, und auch in Belgien gab es im Januar einen Generalstreik. Ist die Zunahme politischer Arbeitskämpfe in Europa nur der aktuellen Krise geschuldet oder ein längerfristiger Trend?
Seit Ausbruch der Krise erleben wir eine massive Welle von Generalstreiks in Europa. Diese knüpft aber an einen bereits länger bestehenden Trend an. In den 80er Jahren gab es in Westeuropa 18, in den 90er Jahren 26 Generalstreiks und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts schon 37. Seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise ist ihre Zahl noch einmal massiv gestiegen: Allein 2010 und 2011 griffen Gewerkschaften insgesamt 24mal zu diesem Mittel.
Ökonomische Kämpfe auf Betriebs- oder Branchenebene werden hingegen seltener. Wie erklärt sich das?
Diese gegenläufige Entwicklung ist wirklich ein interessantes Phänomen. Während Generalstreiks häufiger werden, geht die Zahl anderer Arbeitsniederlegungen dramatisch zurück. Das hat sicher mit der geschwächten Stellung der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu tun, etwa durch Outsourcing, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und wachsende Arbeitslosigkeit. Da auch branchenweite Streiks oft kaum noch tatsächlich eine ganze Branche erfassen, wächst die Angst der Beschäftigten vor Entlassung bei Streikteilnahme. Ein Generalstreik, an dem sich idealerweise alle beteiligen, kann dem entgegenwirken: Wenn alle mitmachen, nimmt die Furcht ab, wegen der Teilnahme seinen Job zu verlieren.
Warum greifen Europas Beschäftigte zunehmend zum Mittel des politischen Streiks? Ist das Ausdruck von Stärke oder eher von Verzweiflung?
Es ist vor allem ein Ausdruck des unglaublichen Drucks, unter dem die Lohnabhängigen in vielen Ländern heute stehen. Dieser wird zunehmend durch Regierungen ausgeübt, die zu Handlangern der großen Banken und Konzerne geworden sind. Denn im Neoliberalismus ist der strukturelle Einfluß des Kapitals auf das Regierungshandeln enorm gewachsen, etwa durch Lobbyismus, Parteispenden und die Instrumentalisierung von Standortentscheidungen zur politischen Erpressung. Das führt zu einer Verlagerung der Kämpfe von der betrieblichen auf die nationale Ebene politischer Auseinandersetzungen. Gewerkschaften versuchen, in diese einzugreifen, indem sie notgedrungen verstärkt zur Waffe des Generalstreiks greifen.
Wie erfolgreich waren politische Streiks in den vergangenen Jahren?
Die Erfolge sind bislang leider begrenzt. Zwar gelang es in einigen Fällen, die Regierungen zu Zugeständnissen zu zwingen, zuletzt etwa in Belgien. Eine generelle Abkehr von der in ganz Europa betriebenen Kürzungspolitik konnte aber noch nicht durchgesetzt werden.
Wie kommt es, daß hierzulande über den politischen Streik zwar geredet wird, sich in der Praxis aber wenig tut?
Das hängt sicher damit zusammen, daß die hiesigen Gewerkschaften noch viel zu sehr den regulierten Auseinandersetzungsformen einer längst aufgekündigten Sozialpartnerschaft verhaftet sind. Da es in der Bundesrepublik Deutschland keine Tradition politischer Streiks gibt, können sich viele Beschäftigte schlicht nicht vorstellen, wie ein Generalstreik aussehen könnte.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lädt für den 5. Mai zu einer Konferenz »Politische Streiks im Europa der Krise« nach Berlin. Wie soll das weiterhelfen?
Wir wollen mit unserer Konferenz die Debatte um politische Streiks hierzulande voranbringen, indem wir das Thema entmystifizieren: Im Zentrum soll keine abstrakte Propaganda stehen, sondern eine Diskussion über konkrete Erfahrungen unserer Kolleginnen und Kollegen im europäischen Ausland bei der Organisierung von politischen Streiks. Wir hoffen, daß dies deutschen Gewerkschaftern am ehesten hilft, sich einen Generalstreik auch in Deutschland vorstellen zu können.
Interview: Herbert Wulff
Florian Wilde ist Referent für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften am Institut für Gesellschaftsanalyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
www.rosalux.de/event/45102/politische-streiks-im-europa-der-krise.html