In den vergangenen zweieinhalb Jahren wehrten sich die Beschäftigten vieler europäischer Länder mit einer Reihe von politischen Generalstreiks gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die breite Mehrheit der Bevölkerung. Diese Generalstreiks bauen auf einer deutlichen Zunahme des Einsatzes dieses Kampfmittels in den vergangenen 30 Jahren auf. Dazu ein paar Zahlen:
Zwischen Januar 1980 und Dezember 2008 kam in den westeuropäischen Ländern zu insgesamt 85 politischen Generalstreiks[1]. Dabei ist die Tendenz eindeutig steigend: von 18 in den 1980ern über 29 in den 90ern auf 38 zwischen 2000 und 2008. Am streikfreudigsten erwiesen sich die Griechen: Sie griffen 38 Mal zu diesem Mittel, gefolgt von den Italienern (13 Mal) und den Franzosen (10 Mal).[2] Aber auch in Ländern wie Österreich und den Niederlanden kam es zu 3, in Luxemburg und Norwegen zu immerhin einem Generalstreik. Noch nicht in dieser Statistik erfasst sind die zahlreichen politischen Generalstreiks in verschiedenen europäischen Ländern gegen die Kürzungspolitiken in Folge der durch die Lehman-Brothers-Pleite ausgelösten Weltwirtschafts- und der aus ihr folgenden Euro-Krise. Die Gesamtzahl für die letzte Dekade dürfte daher noch höher ausfallen.
Auf den ersten Blick irritierend ist, dass diese Zunahme von Generalstreiks in eine Zeit fällt, in der die Gewerkschaften europaweit in die Defensive geraten sind und Handlungs- und Gestaltungsmacht eingebüßt haben. Geradezu dramatisch spiegelt sich dies im Einbruch an Streiktagen pro 1000 Beschäftigten/Jahr seit 1980: Lag diese Zahl in den OECD-Ländern zwischen 1970-79 noch bei 419, waren es zwischen 2000-04 nur noch 51 – eine Abnahme von fast 90%!
Bei genauerem Hinsehen erscheinen diese Entwicklungen aber als zwei Seiten derselben Medaille. Dazu erste Thesen:
Der Rückgang an Betriebs- und Branchenstreiks seit den 70er Jahren reflektiert die geschwächte Stellung der abhängig Beschäftigten und ihrer Organisationen im Produktionsprozess im Zuge der postfordistischen Wende. Outsourcing, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wachsende Arbeitslosigkeit, territoriale Versprengung und netzwerkartige Neustrukturierung der Produktion unter den Bedingungen kapitalistischer Globalisierung und damit tendenzielle Atomisierung der Arbeiterklasse erschwerten die Handlungsmöglichkeiten der abhängig Beschäftigten und machten sie verwundbarer. Da auch branchenweite Streiks oft kaum noch tatsächlich eine gesamte Branche erfassen, wächst die Angst der Beschäftigten vor Entlassung bei Streikbeteiligung. Wenn sich nur einzelne Betriebe einer Branche an einem Streik beteiligen, gewinnt zugleich das Unternehmerargument an Gewicht, der „eigene“ Betrieb würde durch den Streik geschädigt und die nichtbestreikte Konkurrenz gestärkt.
Landesweite politische Streiks, an denen sich idealerweise alle beteiligen, entziehen diesem Argument den Boden. Wenn „alle“ mitmachen, sinkt auch die Angst vor einer Entlassung durch Streikteilnahme. Ein Generalstreik erlaubt so auch denen eine Teilnahme, die sich sonst nicht trauen würden, zu streiken.
Zugleich reflektiert die Zunahme an politischen Generalstreiks den im Neoliberalismus massiv gewachsenen Einfluss des Kapitals auf Regierungshandeln. Regierungen erwiesen sich immer mehr als Erfüllungsorgane von Kapitalinteressen: Die Steuern für die Reichen wurden oft drastisch gesenkt, die daraus resultierenden Einnahmeausfälle des Staates durch Sozialabbau, Stellenabbau und die Erhöhung indirekter Steuern kompensiert. Auseinandersetzungen zur Verteidigung des Lebensstandartes abhängig Beschäftigter verlagerten sich so tendenziell von der betrieblichen auf die nationale Ebene politischer Auseinandersetzungen. In diese versuchten Gewerkschaften einzugreifen, in dem sie das Mittel des Streiks verstärkt aus der Sphäre der betrieblichen in die der nationalen Auseinandersetzung exportierten. Die Bilanz ist dabei durchwachsen: Häufig konnten geplante Kürzungen nicht verhindert, sondern bestenfalls abgemildert werden. Aber es gab auch andere Beispiele: 2002 zwang ein Generalstreik in Spanien die konservative Regierung zur Rücknahme der geplanten Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung. Und 1994 zwang ein Generalstreik in Italien gegen geplante Rentenkürzungen die Regierung Berlusconi zum Rücktritt und zu Neuwahlen, aus denen die Linke als Sieger hervorging.
Auf der Landkarte der steigenden Zahl politischer Generalstreiks gibt es einen großen weißen Fleck: Deutschland.[3]
Ebenso wie in anderen europäischen Ländern ist auch in Deutschland die Zahl der Streiktage pro 1000 Beschäftigte/Jahr dramatisch eingebrochen, sind die Gewerkschaften in den letzten 30 Jahren deutlich geschwächt worden. Ebenso wie in anderen Ländern vertreten auch hier die Regierungen aggressiv Kapitalinteressen und wurde der Lebensstandard der Beschäftigten durch Umverteilungs- und Kürzungspolitiken deutlich gesenkt. Eine wichtige Rolle dabei spielten die Agenda2010-„Reformen“ und dabei vor allem die HartzIV-Gesetze. Sie zielten (auch) auf eine Disziplinierung der Beschäftigten durch Angst vor Armut bei Entlassung ab.
Das Mittel eines politischen Generalstreiks kam dennoch nicht zum Einsatz. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass in Deutschland als fast einzigem Land in Europa die Reallöhne in der letzten Dekade gesunken sind. Diese Reallohnverluste sind ein wesentliches Element der deutschen Exportüberlegenheit innerhalb Europas, deren Kehrseite wachsende Verschuldung anderer europäischer Länder zur Ausgleichung für sie negativer Handelsbilanzen sind. Als Folge dieser Entwicklung droht nun die Gefahr von Staatsbankrotten in Ländern wie in Griechenland, die wiederum die Krise zurück ins ökonomische Herz Europas zurückschlagen lassen könnte.
Vor diesem Hintergrund stellt sich immer mehr die Frage, ob politische Streiks nicht auch in das Repertoire der deutschen Gewerkschaftsbewegung aufzunehmen wären. Zumal mit der Aufkündigung des den Rheinischen Kapitalismus kennzeichnenden Klassenkompromisses und der Sozialpartnerschaft Seitens des Kapitals die historische Bedingung für den Verzicht auf dieses Kampfmittel durch die Gewerkschaften nicht mehr gegeben sind. Der Frage politischer (General-)Streiks sollte daher auch in der deutschen Debatte um eine Revitalisierung der Gewerkschaften eine prominente Rolle zukommen.
[1] Politische Generalstreiks werden in diesem Kontext definiert als landesweite Streiks, die sich (primär) gegen die Politik einer Regierung richten.
[2] Alle Zahlen aus: Kelly, John und Kerstin Hamann: General Strikes in Western Europe, 1980-2008, Paper fort he European Regional Congress of the International Industrial Relations Association, Copenhagen, 28 June – 1 July 2010.
[3] Weitere europäische Länder, in denen es zwischen 1980 und 2008 zu keinen politischen Generalstreiks kam, sind Dänemark, England, Irland, Finnland und Schweden.
Weniger Streik, mehr Genralstreiks.
Von Florian Wilde. Veröffentlicht auf Mehring1