Ahmed Shawki (1960-2023)

(SoZ)

Von Florian Wilde. 

Mehr als sein halbes Leben lang war er die zentrale Figur in der Führung der International Socialist Organization (ISO) gewesen, hatte Pate bei ihrem Aufschwung zur ab den 90ern stärksten Organisation der US-amerikanischen revolutionären Linken gestanden – aber auch bei ihrer 2019 in einer Selbstauflösung mündenden Krise. Nun ist Ahmed „Shawki“ Sehrawy mit nur 62 Jahren gestorben.

Der ägyptenstämmige und zeitweise in London aufgewachsene Shawki hatte sich dort bereits als Teenager den britischen International Socialists (ab 1977: Socialist Workers Party, SWP) angeschlossen und wurde vom SWP-Gründer Tony Cliff ausgebildet, bevor er 1976 zum Studium an der Brown-University in den USA ging, Mitglied der ISO wurde und sofort eine ISO-Gruppe an seiner Hochschule aufzubauen begann.

Die ISO entstammt einem eigenständigen US-amerikanischen Traditionsstrang innerhalb des Trotzkismus: Den sich an der – auf Max Schachtman zurückgehenden – Theorie eines bürokratischen Kollektivismus orientierenden Independent Socialist Clubs und späteren International Socialists um Hal Draper und Joel Geier, mit ihrer Ausrichtung auf einen „Sozialismus von unten“. Trotz gewisser Unterschiede zu der von Tony Cliff ausgearbeiteten Staatskapitalismus-Analyse unterhielten beide Gruppen schon lange Verbindungen. 1976 spaltete sich ein sich stark an Cliff orientierender Teil der amerikanischen International Socialists ab, formierte sich als ISO neu und schloss sich bald der um die SWP gruppierten International Socialist Tendency (IST) an. Shawki übte rasch einen großen Einfluss in der ISO aus, deren Führung er von den frühen 80er Jahren an durchgehend angehörte und die sich unter seinem Einfluss lange stark an der SWP orientierte. Auch in der IST spielte Shawki bald eine wichtige Rolle, nahm regelmäßig an ihren informellen Treffen teil und betreute erfolgreich den Aufbau einer ISO-Zimbabwe, die dort in den 90ern sogar einen Parlamentsabgeordneten stellte.

Wie die anderen IST-Gruppen hatte sich auch die ISO in den 80ern, Cliffs downturn-Analyse folgend und sich entsprechend dem damaligen turn-to-industry anderer trotzkistischer Gruppen verweigernd, dem Aufbau einer Propaganda-Organisation durch Verlagerung des Schwerpunktes von der Betriebs- auf die Studierenden-Arbeit verschrieben, und war auf Distanz zur restlichen Linken gegangen. Und wie die anderen, sich ebenfalls auf die Staatskapitalismus-Theorie stützende IST-Gruppen bewertete auch sie den Zusammenbruch des Ostblocks positiv und sah dann die 90er als Dekade neuer Wachstumschancen, die sie reichlich zu nutzen verstand: aus den etwa 150 Mitgliedern um 1990 schnellte sie durch ihre Interventionen in die Antikriegs-, Antirassismus- und Frauenbewegungen auf stabil um die 1000 Mitglieder hoch und konnte einstmals weit stärkere Organisationen wie die US-SWP oder die Kommunistische Partei hinter sich lassen. Ahmed Shawki hatte großen Anteil an diesem Aufbruch der ISO in einem zusammenbrechenden linksradikalen Umfeld.

Regelmäßig trat er in den 90ern bei den damals von bis zu 8.000 Personen besuchten »Marxism«-Kongressen der SWP an der Uni London auf, und auch ich durfte den großartigen Redner dort mehrfach erleben. Unvergessen Shawkis ungeheuer energiegeladenen, leicht verwahrlost wirkenden und dabei sympathisch-exzentrischen Auftritte, etwa wenn er sich eine Pizza aufs Podium liefern ließ und sie vor und nach einem mit blitzenden Augen und donnernden Stimme gehaltenen Vortrag über „China seit Mao“ zwischen diversen Zigaretten hektisch in sich hineinstopfte.

Schon kurz nachdem Alex Callinicos nach Tony Cliffs Tod im Jahr 2000 faktisch die Führung von IST und SWP übernommen hatte, eskalierte ein sich an unterschiedlichen Einschätzungen der globalisierungskritischen Bewegung aufhängender Streit zwischen SWP und ISO. Verschärft wurde der Konflikt zwischen den Zentralen in London und Chicago durch den Vorwurf an Ahmed Shawki, die Abspaltung der „Arbeiterlinken“ DEA von der griechischen IST-Organisation SEK forciert zu haben. 2001 setzte Callinicos den Ausschluss der ISO aus der IST durch – gegen den ich und einige andere sich damals in der deutschen Sektion Linksruck vergeblich stemmten: Unsere Internationale auf dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung wegen kleinkarierter Streitereien zu spalten und ihre zweitstärkste Sektion – und ausgerechnet auch noch die im Herzen der imperialistischen Bestie operierende – auszuschließen, erschien uns ein völlig groteskes Manöver zu sein. Die Erfahrung trug zu meinem und anderer Austritt aus der IST und dem Linksruck bei, als dieser sich wenige Monate später aufgrund des Bekanntwerdens der Vertuschung sexueller Übergriffe im Umfeld der Führung und den im Umgang damit unübersehbar werdenden Demokratie-Defiziten spaltete. Die die 90er hindurch auf bis zu 30 Mitgliedsorganisation dynamisch angewachsene IST schwächte sich durch den Ausschluss der ISO und den Spaltungen von Linksruck, SEK und weiteren Sektionen massiv – und sollte sich davon nie wieder erholen.

Nun einen eigenen Verlag und eigene Konferenzen benötigend, gründete Shawki 2001 den Verlag »Haymarket Books« und 2002 die seitdem jährlich in Chicago stattfindenden »Socialism«-Konferenzen, und betätigte sich als Herausgeber des weit über die ISO hinaus gelesenen »International Socialist Review«. Auch nach ihrem Ausschluss aus der IST hielt die ISO an den politischen Grundlagen dieser Strömung und nicht zuletzt ihrem entschiedenen Antiimperialismus fest, aus dem heraus sie sich nach dem 11. September dem Patriotismus und dem Krieg gegen den Terror entgegenwarf. Sie bemühte sich zugleich aber um einen im Vergleich zur SWP offeneren Marxismus samt Integration von Intersektionalität und Identitätspolitik in Theoriebildung und politische Praxis. Als ich 2005 eine Veranstaltung der ISO in Los Angeles besuchte, war die Diversität der von People of Colour und Schwulen geprägten Ortsgruppe entsprechend bemerkenswert. Shawkis heimatlos gewordene Organisation näherte sich zunehmend der 4. Internationale an, an deren Weltkongressen sie nun als Beobachterin teilnahm. Durch und durch Internationalist reiste Shawki immer wieder nach Lateinamerika, besuchte nach der Revolution 2011 mehrfach Ägypten, um den Aufbau der Revolutionary Socialists Egypt zu unterstützen, und begleitete im Verbund mit der DEA eng Aufschwung und Niedergang von Syriza in Griechenland.

Ich traf Ahmed Shawki in den 2010er-Jahren mehrfach bei den »Historical Materialism«-Konferenzen in London und zuletzt bei einem »Marx is muss«-Kongress in Berlin wieder und er legte mir ausführlich seine Kritik an den Demokratiedefiziten der SWP-Tradition dar. Diese hatte 2013 zu einer tiefen, durch den Versuch einer Vertuschung eines Vergewaltigungs-Vorwurfes gegen ein führendes Mitglied durch das SWP-ZK ausgelösten und mit einer mangelhaften innerorganisatorischen Demokratiekultur nicht bearbeitbaren Krise der Partei geführt. Es sollte sich als bittere Ironie der Geschichte erweisen, dass der gleiche, aus der IST-Tradition entstammenden Organisationen wie inhärent erscheinende Mechanismus bald darauf auch Shawkis ISO zerlegen sollte.

Die 2. Hälfte der 2010er sah die ISO politisch zunehmend in der Defensive durch den Sog, den erst die Sanders-Kampagne und dann der für US-Verhältnisse astronomische Aufschwung der Democratic Socialists of America (DSA) ausübte. War eine strikte Ablehnung jeder Positionierung im zwischen Republikanern und Demokraten polarisierten US-Parteiensystem und das Insistieren auf den Aufbau einer von den Demokraten gänzlich autonomen Linken lange eine Bedingung des relativen Erfolges der ISO gewesen, verwandelte sich das Festhalten an dieser Line unter veränderten politischen Bedingungen in einen Hemmschuh. Immer mehr Mitglieder traten aus und wechselten in die DSA. Die Krise seiner zunehmend isolierten Organisation lies Shawki schließlich erstmals in eine Minderheitenposition in der ISO-Führung geraten. 2019 wurde dann, ähnlich wie schon bei Linksruck 2001 und bei der SWP 2013, ein an ein führendes Mitglied gerichteter Vergewaltigungsvorwurf bekannt, den die alte ISO-Führungsmehrheit jahrelang vertuscht hatte. Vertrauensverlust in der Mitgliedschaft und strategische Orientierungslosigkeit ließen die neugewählte Führungsmehrheit nach einer Mitgliederbefragung die ISO auflösen, deren Mitglieder sich nun entweder den DSA anschlossen, ins Privatleben zurückzogen, sich um die Redaktion der Zeitschrift „Tempest“ gruppierten oder sich in lokalen Gruppen um eine Neuentwicklung revolutionärer Politik bemühten. Shawki und seine langjährige Partnerin Sharon Smith – auch sie über 40 Jahre lang ISO-Führungskader – bemühten sich um eine Fortführung ihrer Politik in einem kleinen »International Socialism Project«. Shawki wurde von den sich insbesondere an seine Lebenspartnerin richtenden Vertuschungsvorwürfen und der Selbstdemontage seines Lebenswerkes, der ISO, hart getroffen, und war, nicht zuletzt als Folge eines teils exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums, auch gesundheitlich schwer angeschlagen. Nun ist er gestorben.

Mit ihm ist ein Gigant unter den Zwergen der US-amerikanischen revolutionären Linken gegangen: Während die meisten ihrer Organisationen zerfielen, war es Shawki gelungen, die Tradition eines „Sozialismus von unten“ samt einer ziemlich lebendigen Organisation ins 21. Jahrhundert zu überführen, und immer neue Aktivisten-Generationen mit ihrem Marxismus in Berührung zu bringen. Aber Shawki ist auch eine tragische Figur: Jahrzehntelang lebte er für einen Wiederaufschwung des Sozialismus in den USA und versuchte unermüdlich, ihn politisch und organisatorisch vorzubereiten. Doch als mit Black Lives Matter, #MeToo und den Klimastreiks neue Bewegungen die Bühne betraten und sich tatsächlich Millionen vorwiegend junger Amerikaner durch die Sanders-Kampagne wieder für einen demokratischen Sozialismus und zunehmend auch für Gewerkschaften zu begeistern begannen, waren Shawki und seine Organisation nicht nur nicht im Stande, sich damit produktiv zu verbinden: Unfähig, der jahrzehntelangen Marginalität zu entkommen, zerbrachen sie sogar daran. Am Ende seines Lebens hatte Ahmed fast alles verloren: seine Partei aufgelöst, seine Zeitschrift eingestellt, sein Verlag und seine Konferenzen ihm entglitten, sein Ruf durch irgendwann auch ihn betreffende Übergriffs-Vorwürfe lädiert, seine Gesundheit ruiniert, sein rechtes Bein amputiert. Und dennoch dürfte einiges von seinem jahrzehntelangem Wirken Bestand auch für kommende Jahrzehnte haben: Mehrere Tausend US-Linke sind von ihm politisch inspiriert oder gar geprägt worden, der erfolgreiche Haymarket-Verlag wird auch weiterhin marxistische Literatur anbieten, und die jährlichen Socialism-Konferenzen (mit im vergangenen Jahr 1700 physisch Teilnehmenden und 1600 weiteren online-Gästen) dürften auch künftig eine wichtige Plattform für die Diskussion sozialistischer Ideen bieten, deren Verbreitung Ahmed Shakwi sein Leben gewidmet hatte.

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