90 Jahre Novemberrevolution

90 Jahre Novemberrevolution – als die Macht auf der Strasse lag
von Florian Wilde. Veröffentlicht in critica und auf antifa.de

Riesige, teilweise bewaffnete Demonstrationszüge unter roten Fahnen zogen am Morgen des 9. November 1918 aus den proletarischen Außenvierteln ins Stadtzentrum Berlins. Aus den meisten Kasernen, an denen sie vorbeizogen, schlossen sich ihnen Soldaten an. Nur vereinzelt kam es zu Blutvergießen. Mittags erreichten die immer mehr anschwellenden Demonstrationen das Zentrum. Das Polizeipräsidium wurde gestürmt und die Polizisten entwaffnet. In den frühen Nachmittagsstunden brach der Widerstand einzelner Offiziere, die sich in der Universität und in der Staatsbibliothek verschanzt hatten, zusammen. Die Bewegung, die wenige Tage zuvor mit dem Aufstand der Matrosen in Kiel begonnen und sich rasend schnell über das ganze Reich ausgebreitet hatte, hatte nun auch die Hauptstadt erreicht und auch hier in wenigen Stunden die jahrhundertealte Monarchie hinweggefegt. Zwei Tage später beendete ein Waffenstillstand das vierjährige Massenmorden des Ersten Weltkriegs.
1914: Der Verrat der SPD
Ein derartiges Ende des Krieges erschien bei seinem Ausbruch vier Jahre zuvor als unwahrscheinlichste aller Optionen. Von einer beispiellosen nationalistischen Welle erfasst zogen 1914 Millionen begeistert für Kaiser, Volk und Vaterland in den Krieg. Für die SPD schien sich die Gelegenheit zu bieten, aus ihrer jahrzehntelangen Außenseiterrolle im Parteiensystem auszubrechen und endlich ihre „Regierungsfähigkeit“ unter Beweis stellen zu können. Sie verriet dafür ihr eigenes Programm und alle Beschlüsse der Internationalen Sozialistenkongresse. In denen hatte sie sich zur Ablehnung des Krieges verpflichtet und darauf, sollte er sich nicht verhindern lassen, „für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“ Obwohl hunderttausende SPD-Anhänger sich noch im Sommer 1914 gegen den nationalistischen Taumel stemmten und gegen den drohenden Krieg auf die Strasse gingen, stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu und die Parteiführung schloss einen „Burgfrieden“ mit Regierung und Militärbehörden.

Widerstand
Es war anfangs nur ein winziges Häuflein aufrechter SozialistInnen um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Clara Zetkin, die an einer radikalen Antikriegshaltung festhielten. Bitter rächte sich nun das Versäumnis dieser Linksradikalen in der SPD, rechtzeitig eigene, handlungsfähige Strukturen aufzubauen. So standen sie bei Kriegsbeginn ohne Zeitungen, ohne Gelder, ohne einem landesweiten Netzwerk da. All das musste in den folgenden Kriegsjahren unter dem permanenten Repressionsdruck der Polizeibehörden mühevoll und illegal aufgebaut werden. Immer wieder wurden die Aktivisten der bald unter dem Namen ihrer Untergrundzeitung „Spartakus“ bekannten Gruppe verhaftet, wurden Zeitungen und Flugblätter beschlagnahmt. Und trotzdem verbanden sich ihre radikalen Positionen allmählich mit der wachsenden Wut in der Arbeiterschaft über die schrecklichen Opfer des Krieges. Ab 1916 konnten erste Demonstrationen und bald auch Streiks gegen den Krieg organisiert werden, und die ständige Agitation der Spartakusgruppe setzte die gemäßigten Kriegsgegner in der SPD so stark unter Druck, bis sie 1917 mit der USPD eine eigene Partei gründeten, in der Spartakus mitarbeitete.
Neben den Spartakisten waren es die „Revolutionären Obleute“, die in den letzten Kriegsjahren vor allem in den Betrieben der Metall- und Rüstungsindustrie Netzwerke linksradikaler AktivistInnen aufgebaut hatten. In großen Streiks im April 1917 und Januar 1918 gelang es ihnen zeitweise, die Rüstungsindustrie lahmzulegen. Diese linken Strukturen spielten auch bei den Ereignissen des 9. Novembers eine wichtige Rolle.

Rätemacht
Mit der Novemberrevolution wurde der Kaiser gestürzt und der Frieden erzwungen. Aber welche Gesellschaftsordnung würde dem Kaiserreich folgen? Die SPD, die bis zuletzt nach Wegen gesucht hatte, die Monarchie zu erhalten, versuchte nun, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen: Ihr Vorsitzender Phillip Scheidemann rief die Republik aus. Zeitgleich proklamierte Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik“. Noch am 9. November wandte sich Liebknecht mit mahnenden Worten an die Massen auf dem Berliner Schlossplatz: „Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. […] Wenn auch das Alte niedergerissen ist, dürfen wir doch nicht glauben, dass unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.“
Überall im Land lag die Macht im November 1918 in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten. Ihre Mitglieder wurden meist in Betrieben und Kasernen demokratisch gewählt, waren ihrer Basis rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit abgewählt werden. Sie organisierten das öffentliche Leben, die Verteilung von Nahrung und die Demobilisierung der Soldaten. Spontan war so aus den Kämpfen der Massen eine reale rätedemokratische Alternative zum Stellvertretertum des bürgerlichen Parlamentarismus entstanden. Eine Alternative, in der auch die Wirtschaft, der Staatsapparat und die Medien einer beständigen demokratischen Kontrolle durch die Massen unterworfen wären.
Aber ein weiteres Mal zeigte sich, wie sehr der Apparat der SPD und ihre traditionelle Verankerung in der Arbeiterbewegung den schwachen Strukturen der revolutionären Linken überlegen waren: Auf allen reichsweiten Rätekongressen gelang es der SPD, eine Mehrheit der Delegierten zu stellen. Die SPD-Deligierten argumentierten für ein Ende der Rätebewegung. Unter ihrem Einfluss gaben die Räte ihre Macht schließlich selbst wieder ab und stimmten für die Wahl zu einer Nationalversammlung, also für die parlamentarische Demokratie. Wo sich die Räte – wie in Bremen oder München – weigerten, ihre Macht abzugeben, oder wo – wie in Berlin – die Revolutionäre weiter für ein Vorantreiben der Revolution kämpften, wurden sie durch ein Bündnis der SPD mit den „alten Mächten“ blutig niedergeschlagen. Luxemburg und Liebknecht sind nur die bekanntesten Toten dieses verzweifelten Kampfes für eine sozialistische Rätedemokratie.

Errungenschaften und eigenes Grab
Und dennoch: alle Errungenschaften der Weimarer Republik – die Republik selbst, das Frauenwahlrecht, der Achtstundentag, Betriebsräte, die Sozialgesetzgebung – wären ohne die revolutionären Aktionen der Massen im November 1918 nicht möglich gewesen.
Andererseits bestätigte die Novemberrevolution das Wort Saint-Justs aus der Französischen Revolution: Wer eine Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab. Die Kapitalisten, die Deutschland bereits in den 1. Weltkrieg getrieben hatten, behielten ihre Macht. Staatsapparat, Justiz und Militär wurden nicht umfassend demokratisiert, ihre Säuberung von monarchistischen Gegnern der Republik unterblieb. Im Bündnis mit den Nationalsozialisten konnten diese „Eliten“ so 1933 die Republik beseitigen, die Arbeiterbewegung zerschlagen und einen weiteren Weltkrieg für ihre Profite und Großmachtphantasien führen.
Was vom November 1918 bleibt, ist die Erkenntnis, dass umfassende Verbesserungen nur durch Massenbewegungen erkämpft werden können, dass radikale Linke interventionsfähige Strukturen brauchen und dass rätedemokratische Alternativen zum Parlamentarismus möglich – und letztendlich auch nötig – sind.

von Florian Wilde, Mitglied im Bundesvorstand dielinke.SDS und der Historischen Kommission der Partei Die LINKE