Beitrag zur Organisationsfrage

Wer sich als SozialistIn auf die Suche nach Wegen zu einer herrschaftsfreien, klassenlosen Weltgesellschaft ohne jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung macht, kommt auch heute an der Notwendigkeit, sich dafür zu organisieren, nicht vorbei.
Denn umfassende Emanzipation und Befreiung können nie das Werk einzelner sein. Befreiung im sozialistischen Sinne ist nur kollektiv als Selbstemanzipation der Massen möglich: „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“, der Kommunismus ist nur als „Bewegung der ungeheuren Mehrheit im Interesse der ungeheuren Mehrheit“ denkbar, wussten Marx und Engels schon vor 150 Jahren.
Die Massen müssen die Subjekte ihrer eigenen Geschichte werden – es gibt dazu keine Abkürzung. Keine linke Organisation kann – ob in Form einer Regierungsbeteiligung, einer kommunistischen Guerilla oder einer Roten Armee – die Selbstaktivität, die Selbstbefreiung, die Selbstemanzipation der arbeitenden Klassen, der Unterdrückten und Ausgeschlossenen ersetzen. Es ist nicht die Aufgabe sozialistischer Organisation, an die Stelle der Massen zu treten und für sie Befreiung zu erreichen. Das 20. Jahrhundert ist gepflastert mit gescheiterten Versuchen sich sozialistisch nennender Organisationen, auf den verschiedensten Wegen die Selbstaktivität der Massen zu ersetzen und den Sozialismus „von oben“ her einzuführen. Für dieses Scheitern steht die Sozialdemokratie des Westens, die stalinistischen „kommunistischen“ Parteien und die nationalen Befreiungsbewegungen der 3.Welt.
Genau so verkehrt wie das Festhalten an diesen gescheiterten Strategien wäre aber, aus ihrem Scheitern die Lehre zu ziehen, Organisierung generell abzulehnen.
Denn so lange die „dominierenden Ideen einer Gesellschaft die Ideen der herrschenden Klasse“ sind (Marx), wird es keine rein spontane Selbstemanzipation der Massen geben. Ihre Vorstellungen sind durchtränkt von Ideen und alltäglichen Erfahrungen in unserer Gesellschaft, die sie lehren, passiv zu sein, sich vereinzelt und damit ohnmächtig zu fühlen. Deshalb braucht es organisierte SozialistInnen, die den herrschenden Ideen sozialistische Vorstellungen entgegenstellen und vor allem durch das Forcieren von sozialen Konflikten die Erfahrung von kollektiver Stärke und Selbstorganisierung – perspektivisch auf Massenbasis – ermöglichen.
Zwei Voraussetzungen sind dafür essentiell: Sozialistische Organisationen müssen in sich selbst demokratisch sein und sie müssen eine politische Strategie verfolgen, die auf Selbstermächtigung und Selbstaktivität abzielt.

Im Folgenden sollen – ausgehend von diesem Verständnis – zwei Fragen diskutiert werden, vor denen organisierte SozialistInnen heute stehen: Einerseits sich in ein auf die Reetablierung von Klassenbewusstsein ausgerichtetes Verhältnis zur Klasse zu setzen und andererseits einen politischen Umgang mit der Linkspartei als relevantesten linken Formation zu finden.

Klasse …
Auch wer Marx zustimmt, dass die Arbeiterklasse sich nur selbst befreien kann, ist mit dem Problem konfrontiert, dass diese Klasse heute als solche kaum in Erscheinung tritt. Marx unterschied zwischen der Klasse „an sich“ als objektiv vorhandener gesellschaftlicher Größe, und der Klasse „für sich“ als einem sich seiner selbst bewusstem kollektiven Akteur. „An sich“ ist die Klasse heute vorhanden wie eh und je und umfasst große Teile der Bevölkerung. Dem heutigen Proletariat sind industrielle Kernbelegschaften, prekäre Wissenschaftlerinnen, Putzkräfte, Migrantinnen, Arbeitslose, LehrerInnen, Angestellte, Selbstausbeuter etc. zuzurechnen – alle die, die keinen Besitz an oder Kontrolle über die Produktionsmittel unserer Gesellschaft haben und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. „Für sich“ tritt dieses heutige Proletariat aber kaum in Erscheinung. Dies hat viel mit den neoliberalen Umstrukturierungen und der „postfordistische Wende“ in der Produktion seit den 70er Jahren zu tun, in deren Folge vieles von der alten Art und Weise, wie sich Klassenbewusstsein zusammensetzte, wegbrach. Die Arbeiterklasse des Fordismus war relativ homogen, lebte unter sozial oft ähnlichen Verhältnissen, war geographisch konzentriert, häufig arbeitete man zusammen mit Tausenden in großen Fabriken. Bedingungen, unter denen kollektives Klassenbewusstsein leichter entstehen konnte.
Das ist heute anders. Das heutige Proletariat entwickelt aufgrund seiner tendenziell atomisierten Arbeitsverhältnisse und seiner großen Unterschiede in den Lebensstilen weniger als in früheren Zeiten spontanes Klassenbewusstsein.
Eine wesentliche Aufgabe organisierter SozialistInnen ist daher, Wege der Intervention in soziale Konflikte zu finden, die Bedingungen ermöglichen, unter denen wieder „kollektive Subjektivität“ und Klassenbewusstsein entstehen können. Denn Klassenbewusstsein setzt sich auch heute am ehesten in der Erfahrung von Kampf und Konflikt zusammen:
Es entsteht aus der Erfahrung kollektiver Stärke in Streiks, aus Konfrontationen mit der Staatsmacht auf Demonstrationen, aus der Erfahrung der Möglichkeit anderer Formen des Lebens bei Hausbesetzungen und in autonomen Zentren, etc.
Wesentliche Aufgabe einer sozialistischen Organisierung ist daher das Anzetteln von und Intervenieren in soziale Kämpfe. Es muss ihr darum gehen, wo möglich einen Rahmen zu schaffen, in dem Erfahrungen von kollektiver Stärke und Solidarität gemacht werden können, bspw. durch das Organisieren einer Kampagne wie Block-G8. Gleichermaßen muss es ihr darum gehen, in vorhandene Kämpfe zu intervenieren, um diese voranzutreiben, auszuweiten und zu radikalisieren und dabei zu helfen, Strategien zu entwickeln, wie solche Kämpfe gewonnen werden können. Dies gilt für gewerkschaftliche Kämpfe ebenso wie für Hausbesetzungen, die Bewegung gegen Studiengebühren oder antifaschistische Bewegungen.
Parallel zu der konkreten Perspektive einer Ausweitung und Verallgemeinerung von Konflikten ist es die Aufgabe organisierter SozialistInnen, in Bewegungen und Kämpfen antikapitalistische und sozialistische Ideen stark zu machen und Leute um solche Ideen herum zu organisieren.
Langfristiges Ziel organisierter SozialistInnen muss sein, einen Beitrag zur Entwicklung kollektiver Antworten auf die neoliberale Vereinzelung zu leisten, um zu einer Neukonstituierung von Klassenbewusstsein unter heutigen Bedingungen zu gelangen.

… und Linkspartei
Bei der Frage nach sozialistischer Organisierung im Jahre 2008 kann die Existenz der Linkspartei nicht ausgeblendet werden. Zwar vertritt sie als Ganzes heute keine auf Selbstemanzipation ausgerichtete Strategie. In ihr dominieren Vorstellungen stellvertreterischer parlamentarischer Politik, die auf eine Reformierung des Kapitalismus, nicht auf seine Abschaffung ausgerichtet sind.
Und dennoch bedeutet ihre Formation einen historischen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, ein Ereignis, auf das SozialistInnen seit 50 Jahren hoffen: eine signifikante Abspaltung von der SPD und die Perspektive auf die Entstehung einer sozialistischen Strömung auf Massenbasis in der Gesellschaft. Die Entstehung der Linkspartei beinhaltet die Chance, die jahrzehntelange Dominanz des staatstragenden sozialdemokratischen Reformismus in der Arbeiterbewegung und namentlich in den Gewerkschaften zu brechen. Jahrzehntelang verhinderte die über ihr Parteibuch eng mit der SPD verflochtene Gewerkschaftsbürokratie eine Radikalisierung und klassenkämpferische Zuspitzung von Auseinandersetzungen. Spätestens seit dem der Klassenkompromiss einseitig – von oben – aufgekündigt wurde, versagen ihre sozialpartnerschaftlichen Konzepte, ständige Niederlagen sind die Folge. Dringend notwendig ist daher eine Wendung der Gewerkschaften zu einer eindeutig klassenkämpferischen Ausrichtung. Nur so werden sich wieder Erfolge gegen das Kapital erzielen lassen, und nur so kann sich Klassenbewusstsein auf breiter Basis wieder neu zusammensetzen. Die Bedingungen dafür haben sich durch die mit dem Auftauchen der Linkspartei entstehenden Risse im Gewerkschaftsapparat und die damit einhergehende Linksentwicklung deutlich verbessert, die Spielräume für organisierte SozialistInnen wachsen in diesem wichtigen Feld des Klassenkampfes.
Auf ideologischer Ebene konnte die Linkspartei bereits viel zur Krise der neoliberalen Hegemonie beitragen, linke Mehrheiten in zentralen gesellschaftlichen Fragen wie Mindestlöhnen, Rente mit 67, Afghanistan, Privatisierungen und Studiengebühren wären ohne sie so nicht zu haben gewesen. Auf dieser Ebene ist sie bisher sehr erfolgreich und fördert die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit auch radikaler sozialistischer Vorstellungen.
Die weitere Entwicklung der Linkspartei ist noch relativ offen und ein umkämpftes Feld, in das es sich zu intervenieren lohnt. Ob sie sich über Regierungsposten politisch integrieren und kaufen lässt oder ob sich in ihr eine auf Bewegungen und außerparlamentarischen Kämpfen als den zentralen Hebeln emanzipatorischer Veränderung orientierende Perspektive zumindest eine wichtige Rolle spielen wird, ist nicht endgültig geklärt. Gerade im Westen gibt es noch keinen bürokratischen Apparat, der jede radikale Initiative abwürgen könnte, und wo es ihn gibt, will er es oft nicht.
Jede sich selbst ernst nehmende sozialistische Organisierung muss sich zur Linkspartei in ein strategisch bestimmtes Verhältnis setzen. Ihre Entstehung ist sowohl Ausdruck wie Triebkraft einer politischen Neuorientierung breiter proletarischer Bevölkerungsteile. Millionen orientieren sich politisch an ihr und haben in den letzten Jahren – auch bedingt durch ihr Auftreten – eine Entwicklung nach links durchgemacht. Diese Menschen politisch „rechts liegen zu lassen“, etwa weil ein Lafontaine mal von „Fremdarbeitern“ sprach oder weil einen der style der Partei nervt oder sie einem nicht radikal genug ist, ist aus sozialistischer Perspektive unverantwortlich.
Damit möchte ich kein Plädoyer halten, sich als SozialistIn unbedingt dieser Partei anzuschließen. Es gibt ohne Frage berechtigte Gründe, sich unabhängig von ihr zu organisieren, wie es z.B. die Interventionistische Linke (ein bundesweiter Organisierungsansatz linksradikaler Gruppen und Einzelpersonen), autonome, kommunistische und trotzkistische Gruppen versuchen, ebenso wie es gute Gründe gibt, als sozialistische Strömung in der Linkspartei zu wirken. Dringend gefordert ist aber ein strategischer Umgang mit ihr, der die Hoffnungen ihrer Mitglieder und WählerInnen ernst nimmt und als Ausgangspunkt einer radikalisierenden Strategie begreift. Dies impliziert, sich mit aller Macht gegen Regierungsbeteiligungen und weitere Verbürgerlichungstendenzen der Partei zu stellen.
Ob von innen oder von außen: Ziel sozialistischer Organisierung in Hinblick auf die Linkspartei muss sein, zumindest Teile ihrer Basis für eine auf Selbstaktivität und Selbstbefreiung ausgerichtete politische Strategie zu gewinnen und eine damit korrespondierende gemeinsame radikale Praxis zu entwickeln.

Dieser Text ist eine vollständig überarbeitete Fassung eines Referates im Rahmen einer Veranstaltung mit Franziska Drohsel (Jusos) und Thomas Seibert (IL) auf dem Kongress „40 Jahre 1968 – die letzte Schlacht gewinnen wir“, veranstaltet von dielinke.SDS und linksjugend.[solid] in Berlin anfang Mai 2008.

Intervention ist gerechtfertigt! Beitrag zur Organisationsfrage 2008: Sozialistische Organisierung, Klasse und Linkspartei
von Florian Wilde. Veröffentlicht in: Elmar Altvater / Nele Hirsch / Gisela Notz / Thomas Seibert u.a.: „Die letzte Schlacht gewinnen wir!“ 40 Jahre 1968 – Bilanz und Perspektiven, Hamburg (VSA-Verlag) 2008.