Die Arbeiterklasse in Marx’ Frühschriften

(Unveröff. Hausarbeit, SS 1999)

 

Die Arbeiterklasse in Marx’ Frühschriften bis zu den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844. 

Von Florian Wilde.

Inhaltsverzeichnis:

  1. Einleitung S.1
  2. Hauptteil S.4

2.1 Auf dem Wege zum Kommunismus S.4

2.2 Die Hinwendung zur Arbeiterklasse, theoretisch

und praktisch in Paris 1844 S.9

2.2.1 „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie S.9

2.2.2 Der Kontakt zu kommunistischen Arbeitern S.12

2.2.3 Der „Vorwärts!“ und der schlesische Weberaufstand S.14

2.2.4 Die „Ökonomsich-philosophischen Manuskripte S.16

  1. Schluß S.20
  2. Quellen- und Literautverzeichnis S.23

4.1 Quellen S.23

4.2 Literatur S.23

 

1.Einleitung

Der deutsche Sozialismus datiert von lange vor 1848. Er wies anfangs zwei unabhängige Strömungen auf. Einerseits eine reine Arbeiterbewegung, Abzweigung des französischen Arbeiterkommunismus; aus ihr ging, als eine ihrer Entwicklungsstufen, der utopische Kommunismus Weitlings hervor. Dann eine theoretische Bewegung, entsprungen aus dem Verfall der Hegelschen Philosophie; diese Richtung wird gleich von vornherein beherrscht durch den Namen Marx. Das „Kommunistische Manifest“ vom Januar 1848 bezeichnet die Verschmelzung beider Strömungen, eine Verschmelzung, vollendet und besiegelt im Glutofen der Revolution, wo sie alle, Arbeiter wie Ex-Philosophen, ihren Mann redlich gestanden haben.“1 Friedrich Engels in „Der Sozialismus in Deutschland“.

In der vorliegenden Arbeit soll der Beginn dieser Verschmelzung in den Frühschriften von Karl Marx bis einschließlich den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ von 1844 untersucht werden. Die Entwicklung von Marx von einem junghegelianischen Philosophen hin zu einem revolutionären Kommunisten, die für den Yorker Professor Alex Callinicos Ende des Jahres 1844 ihren vorläufigen Abschluss gefunden hatte2 (ich teile diese Einschätzung), soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Untersucht werden soll dabei, wie diese Entwicklung zustande kam, ab wann, in welcher Form und aus welchen Gründen die Arbeiterklasse Einzug in Marx´ Denken erhielt, von der ersten Notiz von der Existenz der „armen Klasse“3, die Marx 1842 nahm, über die zentrale Rolle der Arbeiterklasse in der „Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, hier allerdings noch gedacht in einem Bündnis mit der Philosophie, der in diesem Bündnis die Rolle des „Kopfes“ zukomme, bis hin zur Erkenntnis von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Selbstemanzipation des Proletariats, wie sie sich in den „Kritischen Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform““ und den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ abzeichnet.

Die theoretische Entwicklung ist meines Erachtens nur im Zusammenhang mit verschiedenen konkreten Erfahrungen zu verstehen, die Marx im Laufe dieser Jahre machte. Daher soll im folgenden, wo es notwendig erscheint, die theoretische Entwicklung eingebettet werden in einen biographischen Abriss, der die Aufgabe hat, die Entwicklung von Marx von der junghegelianischen Philosophie zum Kommunismus zu erklären und nachvollziehbar zu machen. Denn Marx theoretische Hinwendung zur Arbeiterklasse ging einher mit einer praktischen Hinwendung, wobei sich beide gegenseitig bedingten, wie im Kapitel 2.2.2 deutlich wird.

Ein äußerst wichtiges Jahr in Marx’ Entwicklung zum revolutionären Kommunismus bildet das Jahr 1844. Es ist das Jahr, in dem seine erste Schrift erscheint, in der die Arbeiterklasse eine zentrale Rolle spielt, in dem er den ersten Kontakt zu kommunistischen Arbeitern hat und in dem Marx sich schließlich zur Notwendigkeit und Möglichkeit der proletarischen Selbstemanzipation bekennt. Diesem so bedeutenden Jahr wird der gesamte zweite Abschnitt des Hauptteils gewidmet. Im ersten Abschnitt hingegen soll Marx Entwicklung aus der junghegelianischen Philosophie hin zur Beschäftigung mit dem Kommunismus und der Arbeiterklasse in den Jahren vor 1844 dargestellt und untersucht werden.

Für die biographischen Angaben verwendete ich vor allem Maximilian Rubels „Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk“4 sowie Oscar Hammens „Die roten 48er. Karl Marx und Friedrich Engels“5. Für biographische Angaben und zur kritischen Einschätzung seiner Arbeiten stützte ich mich außerdem auf Franz Mehrings ausgezeichnete Biographie „Karl Marx. Geschichte seines Lebens“6. Eine sehr gute Arbeit über Marx Tätigkeit beim „Vorwärts!“ und zu seinen „Kritischen Randglossen“ sowie zu deutschen kommunistischen Arbeitern in Paris ist Jaques Grandjoncs „„Vorwärts!“ 1844. Marx und die deutschen Kommunisten in Paris“7. Die Rolle der Arbeiterklasse in Marx´ revolutionstheoretischer Konzeption und seine philosophische Entwicklung vom Junghegelianismus zum Kommunismus wird von Rolf Peter Sieferle in „Die Revolution in der Theorie von Marx“8 eingehend untersucht. Zu einer kritischen Bewertung von Marx Entwicklung und seinem Werk zog ich außerdem Alex Callinicos „Die revolutionären Ideen von Karl Marx“ heran.

Die Arbeiten von Marx selbst entnahm ich den ersten beiden Bänden der MEW, dem MEW-Ergänzungsband 1 und „Marx/Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden“.

  1. Hauptteil

2.1 Auf dem Wege zum Kommunismus

Marx politisierte sich in den späten 1830er Jahren über die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie, die in jenen Jahren eine durchaus politische Angelegenheit war. Der bedeutendste deutsche idealistische Philosoph zu Beginn des 19.Jahrhunderts war Hegel, dessen Ideen bald das Marxsche Denken prägten. Ausgangspunkt Hegels (dessen Ideen hier selbstverständlich nur kurz angerissen werden können) war die Erfahrung der Zerrissenheit der modernen Welt und das Bedürfnis nach ihrer Versöhnung9. Auf der einen Seite steht für Hegel die bürgerliche Gesellschaft, also der Bereich menschlichem Lebens, in dem Bedürfnisse produziert und befriedigt werden, in dem aber gleichzeitig die Privatinteressen kollidieren. Der Staat, in dessen Begriff es liegt, „eine Verwirklichung der vernünftigen Freiheit zu sein“10, hat dagegen die Aufgabe, „die Antagonismen, die in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen, auszugleichen und zu versöhnen“11. Hegel betrachtete den absolutistischen preußischen Staat als „Verkörperung der Vernunft“12.

Für einige seiner Schüler allerdings, die sogenannten Jung- oder Linkshegelianer, mußte der „vernünftige Staat“ noch geschaffen werden. Die Junghegelianer, politisch liberale junge Männer, oftmals Atheisten und Rationalisten, hatten anfangs Hoffnungen in den preußischen Kronprinzen, der die von ihnen als notwendig erachteten demokratischen Reformen herbeiführen sollte13. Nach dem diese Hofnungen mit seiner Thronbesteigung 1840 scheiterten, politisierten und radikalisierten sich die Junghegelianer (z.B. über den „Kölner Kirchenstreit“14) und gerieten schnell in Konflikt mit dem preußischen Staat. Sie begannen sich der Politik zuzuwenden. Einer ihrer Wortführer, Bruno Bauer, schrieb:

Es muß also zur Tat kommen, zur praktischen Opposition und nicht nur nachträglich und auf einem Umwege, sondern geradezu muß ein theoretisches Prinzip Praxis und Tat werden. … Auch im Politischen muß daher die Philosophie wirken und die bestehenden Verhältnisse, wenn sie ihrem Selbstbewustsein wiedersprechen, unumwunden angreifen und erschüttern.“15

Marx selbst begann seine publizistische und politische Tätigkeit im Rahmen eines massiven Vorstoßes der Junghegelianer in den Journalismus und in die Politik, der sogenannten „Bewegung von 1842/43“16. Im Mai 1842 begann Marx seine Mitarbeit an der „Rheinischen Zeitung“ (RZ). Diese am 01.01.1842 in Köln gegründete Tageszeitung wurde von Kölner Bank-, Industrie- und Geschäftskreisen finanziert und sollte nach der Intention ihrer Gründer ein gemäßigt liberales und preußenfreundliches Blatt werden17. Sehr bald geriet sie allerdings unter den Einfluß überwiegend junghegelianischer Redakteure. Am 15.10.1842 wurde Marx Chefredakteur18der RZ.

Marx Tätigkeit bei der RZ ist für diese Hausarbeit unter drei Gesichtspunkten interessant. Einerseits, weil seine Tätigkeit ihn ihn direkten Konflikt mit dem preußischen Staat brachte, der ständig dananch trachtete, die Zeitung zu verbieten (verschiedene Artikel von Marx durften aufgrund der Zensur nicht erscheinen19), andererseits, weil Marx sich erstmals mit der Existenz der „armen Klasse“20 auseinandersetzt. Anlaß hierfür waren die Verhandlungen des rheinischen Landtages über ein Holzdiebstahlsgesetz. Marx kam, wie sein Biograph Franz Mehring später schrieb, hier erstmals „in die Verlegenheit, über materielle Interessen sprechen zu müssen, die in Hegels ideologischem System nicht vorgesehen waren.“21 In diesen Auseinandersetzungen griff Marx eindeutig für die „arme politisch und sozial besitzlose Menge“22Position, allerdings noch nicht aus ökonomischen, sondern rechtlichen Gründen. Marx geht an das Problem noch im Sinne Hegels heran. Aufgabe des zu schaffenden vernünftigen Staates (im Gegensatz zum bestehenden, der sich zum ausführenden Organ der Privatinteressen der Waldbesitzer macht) wäre es, den Armen eine angemessene Stellung zu geben und das Gemeinwohl vor individuellen Privatinteressen zu schützen, ein Staat, dessen Form für Marx die demokratische Republik sein müsse, in der der Volkwille herrscht.23 Die bürgerliche Gesellschaft selbst wird dabei noch nicht angetastet, sind es doch gerade ihre Antagonismen, die den vernünftigen Staat zur Voraussetzung haben. Festzuhalten bleibt:

Marx war erstmals gezwungen, sich mit den Problemen der einfachen Leute zu beschäftigen, wie er es wenig später in seinen Artikeln über das Elend der Bauern an der Mosel erneut tat.

Außerdem mußte sich Marx während seiner Tätigkeit für die RZ erstmals mit dem Kommunismus auseinandersetzen. Grund hierfür war ein Vorwurf der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, die RZ sei ein kommunistisches Blatt. In seinem ersten Artikel, den er als Chefredakteur schrieb, weigerte sich Marx, auf die Bedeutung kommunistischer Theorien nur oberflächlich einzugehen, denn sie können nur „nach lang anhaltenden und tief eingehenden Studien kritisiert werden“24. Er verlieh nur seiner Überzeugung Ausdruck, die wirkliche „Gefahr“ des Kommunismus rühre mehr von kommunistischen Ideen als dem Versuch, sie in die Praxis umzusetzten, her25. Sieferle schreibt daher, Marx sei „1842 noch weit davon entfernt, sich als Vertreter des „Kommunismus“ zu verstehen“26. Allerdings scheinen kommunistische Ideen Marx zu jener Zeit bereits zu faszinieren. So schreibt er an junghegelianische Mitarbeiter der RZ aus Berlin, die sogenannten „Freien“: „Ich erkläre, daß ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja unsittlich halte, und eine ganz andere und gründlichere Besprechung des Kommunismus verlange.“27

Die RZ wurde am 21.01.1843 aufgrund ihrer revolutionär-demokratischen Ausrichtung, die unter Marx unmittelbarer Leitung der Zeitung ein immer deutlicheres Gesicht bekam, mit Wirkung zum 01.04. verboten. Am 17.03.1843 trat Marx aus Protest gegen das Verbot aus der Redaktion der RZ aus. Bereits im Januar hatte er in einem Brief an Arnold Ruge, einem führenden Junghegelianer, der zuerst die „Hallischen Jahrbücher“ und nach ihrem Verbot in Preußen von sächsischem Territorium aus die „Deutschen Jahrbücher“ herausgab, den Wunsch geäußert, Deutschland zu verlassen: „Es ist schlimm, Knechtsdienste selbst für die Freiheit zu verrichten und mit Nadeln statt mit Kolben zu fechten. Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendrehen und Wortklauberei müde gewesen. … In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.“28

Stattdessen wollte er zusammen mit Arnold Ruge vom Ausland aus eine neue, von der preußischen Zensur nicht mehr behelligte Zeitschrift herausgeben, die „Deutsch-französischen Jahrbücher“ (DfJ), die ein Projekt der „intellektuellen Allianz zwischen Deutschland und Frankreich“29 werden sollten.

Marx beendet seine Redaktionstätigkeit bei der RZ als ein revolutionärer, aber immer noch bürgerlicher Demokrat. In der ersten (und letzten) Ausgabe der DfJ, die im Februar 1844 in Paris erschien, begegnet Marx uns bereits als revolutionärer Sozialist. Die Arbeiterklasse, die bisher von Marx nur am Rande wahrgenommen wurde, spielt in den DfJ bereits eine zentale Rolle in seinem Denken. Wann und wie kam diese Entwicklung zustande?

Die Aufklärungskonzeption der Junghegelianer war mit dem Verbot der RZ endgültig an der Repression gescheitert. Wie Sieferle schreibt, kam es nun darauf an, „die Begründung einer Politik neu zu fassen, die sich eine progressive Veränderung der Zustände zum Ziel setzt.“30

Als Träger einer solchen Politik hatte das liberale Bürgertum sich als unfähig weil zu feige erwiesen. Der von den Vertretern einer radikalen Publizistik erwartete Proteststurm des liberalen Bürgertums gegen das Verbot der RZ31 blieb aus. Es lag daher auf der Hand „daß die Philosophie neue Kräfte gewinnen mußte, wenn sie ihre Sendung erfüllen wollte.“32 Dieses Problem stellte sich neben der praktischen (dem Versagen des Bürgertums in der Auseinandersetzung um die RZ) für Marx auch in theoretischer Form, ein Problem, an das er in Kreuznach, wo er sich nach seiner Hochzeit mit Jenny von Westphalen von Juli bis Oktober 1843 aufhielt, mit seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ heranging. Die drei Monate in Kreuznach markierten einen wichtigen Wendepunkt in Marx´Entwicklung. Er setzte sich hier intensiv mit historischen Themen auseinander, die für Rubel entscheidend „die Wendung von Marx zur materialistischen Geschichtsauffassung und zum Kommunismus“ prägten33. Marx scheint hier die von ihm in seinem Brief an die „Freien“ und in seiner Antwort auf die Kritik der „Augsburger Allgemeine“ angemahnte intensive Beschäftigung mit dem Kommunismus aufgenommen zu haben. Auch Hammen meint, alles deute darauf hin, daß Marx während dieser Zeit in Kreuznach Kommunist wurde34. Von Marx selbst liegen hierzu allerdings keine genauen Angaben vor.

In seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ argumentiert er jedenfalls, das Holzdiebstahlsgesetz habe gezeigt, daß die individuellen Privateigentümer auf der Allgemeinheit ihrer Partikularinteressen bestehen und diese und damit die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat hineintragen, der damit als Mittel zur Versöhnung dieser Gegensätze untauglich ist. Marx, der hier mit wesentlichen Elementen der hegelschen Staatsphilosophie bricht, sah sich nun vor einige Probleme gestellt: Er mußte die Notwendigkeit der Aufhebung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft neu begründen, mußte aufzeigen, wie sie aufgehoben werden kann und wer der Träger dieser Aufhebung seien kann.

Daß Marx schließlich das Proletariat als Träger dieser Aufhebung wie auch überhaupt als Träger progressiver Veränderung der bestehenden Zustände entdeckte, ist nicht allzu erstaunlich. Bereits in seinen Artikeln zum Holzdiebstahlsgesetz hatte Marx sich mit der Lage der unteren Klassen beschäftigt, und Friedrich Engels berichtete später, Marx habe ihm immer wieder erzählt, er sei über diese Frage „von der bloßen Politik auf ökonomische Verhältnisse verwiesen worden und von dort zum Sozialismus gekommen“35. Außerdem legte das Klima der Zeit einen solchen Schluß durchaus nahe36. Denn spätestens seit den Aufständen der Lyoner Weber 1831 und 1834, dem blanquistischen Putschversuch 1839 in Frankreich und der seit August 1842 mit Macht zu Tage tretenden Chartistenbewegung in England war, wie Sieferle schreibt, „das Proletariat als Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft ein Gemeinplatz“37 geworden.

2.2 Die Hinwendung zur Arbeiterklasse, theoretisch und praktisch in Paris 1844

2.2.1 „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“

Im Oktober 1843 siedelte Marx mit seiner Familie nach Paris über und zog dort mit Arnold Ruge zusammen. Bis Januar schrieb er an zwei Artikeln, „Zur Judenfrage“ und „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ sowie drei Briefen für die DfJ. Diese Artikel und Briefe markieren den endgültigen Übergang vom Idealismus zum Materialismus und vom revolutionären bürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Im dritten seiner in den DFJ abgedruckten Briefen umreißt Marx, was er als Programm der Zeitschrift auffasst und verwirft zugleich die Meinung der „krassen Sozialisten“, einer philosophischen Schule, die meint, Beschäftigung mit politischen Themen sei unter der Würde von Philosophen:

Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten der Welt nicht mit einem neuem Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß´ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; … Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft.“38

Vor allem in der „Einleitung der hegelschen Rechtsphilosophie“ setzt Marx sich mit der Bedeutung der Arbeiterklasse auseinander. Daher wollen wir uns im Folgenden auf diese Schrift konzentrieren.

Marx schrieb, die Kritik der Religion und des Himmels sei für Deutschland weitgehend abgeschlossen, Aufgabe der Philosophie sei nun die Kritik der irdischen Zustände, „deren geistiges Aroma die Religion ist“39. Die irdischen politischen Zustände in Deutschland allerdings seien kaum mit denen Frankreichs 1789 vergleichbar, schon gar nicht mit den französischen Zuständen des Jahres 1844. Allein die Philosophie befindet sich auf der Höhe der Zeit. Marx stellt die Frage, wie Deutschland zu einer Revolution gelangen kann, die es „nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker seien wird?“40 Dafür dürfe nicht bei einer rein theoretischen Kritik stehengeblieben werden, denn die „materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“41 Die Massen ergreifen kann die Theorie, wenn sie radikal ist.

Eine radikale Revolution allerdings bedarf eines Trägers, eines „passiven Elementes, einer materiellen Grundlage.“42Dieser Träger kann für Marx nicht das Bürgertum sein, denn ein derartiger Träger muß von der Gesellschaft zumindest zeitweilig als ihr „allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt werden“43 und gleichzeitig muß eine andere Klasse die Klasse des „allgemeinen Anstoßes“44 sein, damit die Befreiung von dieser Klasse als „allgemeine Selbstbefreiung erscheint“, so wie in Frankreich 1789 der Adel die Klasse des allgemeinen Anstoßes war, das Bürgertum aber als allgemeiner Repräsentant des Dritten Standes empfunden wurde. Im Deutschland von 1844 könne das Bürgertum diese Rolle nicht mehr spielen, viel zu sehr ist es bereits zur Klasse des allgemeinen Anstoßes für das Proletariat geworden, zu deutlich ist bereits sein engherziges Wesen geworden, bevor es überhaupt sein großmütiges Wesen geltend machen konnte und erlebt so seine Niederlage, bevor es überhaupt seinen Sieg hat erleben können.

Träger einer radikalen Revolution könne nur „eine Klasse mit radikalen Ketten, eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist“ sein, eine Klasse mit universellem Charakter aufgrund ihres „universellen Leiden“, die „kein besonderes Recht in Anspruch nimmt weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird“, welche sich „nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“45Diese Klasse ist für Marx das durch die industrielle Revolution in Deutschland entstehende Proletariat, das in der Philosophie seine geistigen Waffen findet, so wie die Philosophie in ihm ihre materiellen. Marx kommt zu dem Schluß: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariat, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“46

Eindeutig ist in der „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ das Proletariat für Marx der Träger jeder wirklichen Veränderung der bestehenden Verhältnisse, der Träger einer menschlichen Zukunft, da seine Herrschaft keine neue Form der Herrschaft und Unterjochung, sondern das Ende jeglicher Herrschaft und Unterjochung bedeute. Die Emanzipation des Proletariats als Negation der bürgerlichen Gesellschaft läuft so auf die Aufhebung aller Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft hinaus und somit auf die Befreiung der gesamten Menschheit.

Begründet wird die Rolle des Proletariats materialistisch aus seiner Stellung in der Gesellschaft heraus, nicht aber, wie in späteren Schriften, aus ihrer Rolle in der Warenproduktion und ihrer daher rührenden Macht, sondern aus ihrem Elend und dem daraus folgendem Gegensatz zur Bourgeoisie heraus.

Die Rolle des Proletariats wird als die eines „passiven Elements“ aufgefasst, das zu seiner Aufhebung als Klasse (also zu seiner Befreiung) ein Bündnis mit der Philosophie benötigt, die in diesem Bündnis die Rolle des Kopfes übernimmt, während das Proletariat das Herz bildet. Unerlässliche Bedingung der Befreiung des Proletariats ist also seine Aneignung eines von außen an es herangetragenen, von der Philosophie vorformulierten Bewußtseins.

Daß das Proletariat zu seiner Befreiung notwendig eines Bündnisses mit der Philosophie bedarf, ist ein Gedanke, der sich in den späteren Schriften von Marx und Engels nicht mehr findet. Bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 ist hiervon keine Rede mehr, das Proletariat wird hier zum alleinigen Subjekt seiner Emanzipation. Später fassen Marx und Engels ihre Ansicht zu diesem Thema immer wieder in dem Satz zusammen: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein.“47

Im folgenden soll aufgezeigt werden, daß Marx noch im Laufe des Jahres 1844 seine Haltung grundlegend änderte.

Zwei Gründe erscheinen mir hierfür zentral und sollen der Reihe nach untersucht werden. Einerseits wesentlich für die Veränderung von Marx’ Haltung war der direkte Kontakt mit organisierten kommunistischen Arbeitern in Paris sowie die Erfahrung des Schlesischen Weberaufstandes, andererseits war es das intensive Studium der Nationalökonomie, welches Marx im Sommer 1844 in Paris betrieb und ihn die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse aus ihrer Rolle in der Warenproduktion erklären ließ, eine Erklärung, die sich in den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ von 1844 niederschlug.

2.2.2 Der Kontakt zu kommunistischen Arbeitern

Paris war 1844 die fortschrittlichste Stadt Europas, die Zensur war im Vergleich mit den deutschen Verhältnissen wesentlich lockerer, überall blühten Debatten über progressive Ideen. In der französische Arbeiterklasse, die ungleich größer und politisierter als die deutsche war, fanden sozialistische Gedanken immer mehr Anhänger. „Ein Schwarm sozialistischer und kommunistischer Sekten – einige davon mit Massenanhang – existierte in Paris nebeneinander und zankte sich.“48 Dominierend waren die Ideen der utopischen Sozialisten Fourier, Saint-Simon, Cabet und Proudhon, daneben gab es auch revolutionäre Kommunisten in der Tradition Babeufs, deren wichtigster zeitgenössischer Vertreter Blanqui war. Etwa 40.000 Deutsche (nach anderen Angaben sogar bis zu 100.00049) lebten 1844 in Paris, die meisten von ihnen sich proletarisierende Handwerker und Handelsangestellte50. Auch sie politisierten sich unter dem Eindruck der im Vergleich zum reaktionären Deutschland wesentlich freieren französischen Verhältnissen und einer sich politisierenden französischen Arbeiterklasse. Einige Deutsche hatten sich in sozialistischen Geheimorganisationen zusammengeschlossen, deren bedeutendste der 1836 gegründete „Bund der Gerechten“ (BdG) war. Da viele seiner Mitglieder wandernde Handwerker waren, trugen sie die Ideen des Bundes durch ganz Europa, so daß sich Sektionen des Bundes unter deutschen Emigranten (sowohl politischen wie auch Arbeitsemigranten) in der Schweiz und in England bildeten. Auch in Deutschland selbst wurden die Ideen des Bundes von wandernden Handwerkern verbreitet. Der Bund der Gerechten war keine ideologisch homogene Organisation, seine Mitglieder waren teilweise vom Neo-Babeufismus, teilweise vom Cabetismus und zusehend vom Junghegelianismus, in England vor allem vom Chartismus beeinflußt51. Großen Einfluß auf die Mitglieder des Bundes hatte das 1842 von Weitling, einem Schneider, geschriebene Buch „Garantien der Harmonie und der Freiheit“.

Die führenden Mitglieder des BdG nahmen bald nach Marx´ Ankunft in Paris Verbindung mit ihm auf52 und Marx nahm an so zahlreichen Versammlungen kommunistischer Arbeiter Teil, daß Ruge im Juli 1844 nach Deutschland schrieb: „Marx hat sich in den deutschen hiesigen Kommunismus gestürzt.“53 Die Wirkung dieser Erfahrung auf Marxens Entwicklung kann kaum unterschätzt werden, wie z.B. auch Callinicos und Sieferle betonen54.

Marx selbst notierte: „Wenn sich die kommunistischen Handwerker sich vereinen, gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich ein neues Bedürfnis, das Bedürfnis der Gesellschaft an … die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wirklichkeit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus ihren von der Arbeit verhärteten Gesichtern entgegen.“55

Und in einem Brief an Feuerbach schrieb er:

Sie müßten einer der Versammlungen der französischen ouvriers beigewohnt haben, um an die jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht, glauben zu können. … Jedenfalls aber bereitet die Geschichte unter diesen „Barbaren“ das praktische Element zur Emanzipation des Menschen vor.“56

Schon hier sind die Arbeiter nicht mehr „passives“, sondern bereits „praktisches Element“ ihrer Befreiung, und das „Bedürfnis der Gesellschaft“ eignen sie sich aus sich selbst heraus, ohne die Philosophen, an.

2.2.3 Der „Vorwärts!“ und der Schlesische Weberaufstand

Nachdem sich abzeichnete, daß das Ende der DfJ schon nach ihrer ersten Ausgabe gekommen war (es fanden sich keine Franzosen bereit, an der Zeitschrift mitzuarbeiten, es fanden sich zu wenig Käufer, darüber hinaus zerstritten sich ihre Herausgeber Marx und Ruge) trat ab Mai 1844 die Redaktion der DfJ, unter ihnen Marx, Ruge, Heinrich Heine und Carl Ludwig Bernays, in die Redaktion des „Vorwärts!“, ein. Der Vorwärts! war ein ab anfang 1844 zweimal pro Woche in Paris erscheinendes, deutschsprachiges Emigrantenblatt. Anfangs war es eher gemäßigt-konstitutionalistisch ausgerichtet, radikalisierte sich aber bald und trat ab Mai 1844 (bis zum Verbot des Vorwärts! Ende 1844) an die Stelle der DfJ, so daß Friedrich Engels, der selbst mehrere Artikel im Vorwärts veröffentlichte, im September 1844 schreiben konnte: „Wir haben in Paris ein deutsches kommunistisches Blatt, den Vorwärts!.“57 Verstärkt wurde diese Tendenz noch durch die Mitarbeit führender Mitglieder des BdG an der Redaktion des Vorwärts!58.

Marx beschäftigte sich in dieser Zeit vor allem mit dem Studium der Nationalökonomie und der französischen Revolution und hatte zeitweilig jede ausgesprochen journalistische Tätigkeit aufgegeben. Dennoch nahm er auf verschiedene Weise Einfluß auf die politische Ausrichtung des Vorwärts!, an dessen wöchentlichen Redaktionssitzungen er teilnahm59.

Von Marx selbst sind nur zwei Artikel im Vorwärts! erschienen. Einer, „Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen.““, verdient es, hier näher betrachtet zu werden, verdeutlicht er doch einen starken Wandel in Marx´Haltung zur Arbeiterklasse. Der Artikel war eine Antwort auf einem von Arnold Ruge unter dem Synonym „Ein Preuße“ veröffentlichten Artikel zum schlesischen Weberaufstand vom Juni 1844. Marx begrüßte enthusiastisch diesen ersten großen Aufstand des deutschen Proletariats und verteidigte ihn gegenüber Arnold Ruge, der ihm keine besondere Bedeutung zumißt und die deutschen Arbeiter und somit die schlesischen Weber als unpolitisch kritisiert: „…sie sehen nirgends über ihren Herd, ihre Fabrik, ihren Distrikt hinaus: die ganze Frage ist von der alles durchdringenden politischen Seele bis jetzt noch verlassen.“60

Marx hingegen feiert die schlesischen Weber, die nicht nur Maschinen, sondern auch Kaufmannsbücher zerstört hätten und nicht nur den Industriellen, sondern auch den Bankier als ihren Feind erkannten. Für Marx hatte kein Arbeiteraufstand in England oder Frankreich bisher „einen so theoretischen und bewußten Charakter“61 gehabt wie der schlesische. Er fährt fort: „Man muß gestehen, daß das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen Proletariats, wie das englische Proletariat sein Nationalökonom und das französische sein Politiker ist.62 Hatte Marx noch in der „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ konstatiert, in Deutschland wäre nur die Philosophie auf der Höhe der Zeit, ist für ihn mit dem Weberaufstand auch die soziale Bewegung zur Reife gekommen. Eigentlich eine Bestätigung für das in der „Einleitung“ behauptete Entsprechungsverhältnis von (hegelkritischer) Philosophie und Proletariat. Dennoch bricht Marx jetzt (knapp ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“) radikal mit der von ihm propagierten zentralen Bedeutung eines Bündnisses von Philosophie und Proletariat mit der Philosophie in der Rolle des Kopfes. Denn der Weberaufstand zeigte für Marx: Das Proletariat findet auch ohne die Philosophie seine geistigen Waffen, seine revolutionäre Theorie – und Praxis! Und so schreibt er: „Wo hätte die Bourgeoisie – ihre Philosophen … eingerechnet – ein ähnliches Werk wie Weitlings [deutscher kommunistischer Arbeiter, Anm.d.Verf.] „Garantien der Harmonie und der Freiheit“ in bezug auf die … politische Emanzipation aufzuweisen?“63 Aus seinen eigenen Reihen heraus kommt das deutsche Proletariat zu einer sozialistischen Theorie, wird zum „Theoretiker des europäischen Proletariats“. Die Aufgabe der Philosophie sei nicht das Schulmeistern von Arbeiteraufständen, sondern das Studium ihres jeweiligen spezifischen Charakters. Mit anderen Worten: nicht die Arbeiter haben von den Philosophen, sondern die Philosophen von den Arbeitern zu lernen.

2.2.4 Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte

Neben der Erfahrung von kommunistischen Arbeitern in Paris und von Arbeiteraufständen in Deutschland war das intensive Studium der Nationalökonomie und die sich daraus ergebende Neubewertung der Stellung des Proletariats in der bürgerlichen Gesellschaft zentral für Marx Abschied von der Konzeption eines Bündnisses Philosophie-Proletariat und sein Vertrauen in die Fähigkeit des Proletariats zur Selbstemanzipation.

Die Ergebnisse seiner Studien schrieb Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ zwischen April und August 1844 nieder. Einen wichtigen Anstoß zur Beschäftigung mit der Nationalökonomie hatte sicherlich Friedrich Engels Artikel „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ in den DfJ geliefert.

In den Manuskripten beginnt Marx seine Untersuchungen über die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“, die erst im „Kapital“ ihren Abschluß finden sollten. Marx versuchte, die realen, materiellen Grundlagen des Klassenkampfes zu ergründen und beginnt die Manuskripte daher mit einer Untersuchung der drei Einnahmequellen der damaligen Hauptklassen Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter, also Grundrente, Profit des Kapitals und Arbeitslohn. Dabei werden diese Einnahmequellen unter dem Gesichtspunkt der Klassenbeziehungen betrachtet: „Arbeitslohn wird bestimmt durch den feindlichen Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter“64 und „Die Grundrente wird festgesetzt durch den Kampf zwischen Pächter und Grundeigentümer.“65

Interessant für das hier zu behandelnde Thema ist vor allem der Abschnitt über den Arbeitslohn, da er Marxens erste intensive Untersuchung der Stellung des Arbeiters in der bürgerlichen Gesellschaft und die Ursachen seines Elends ist. Das kapitalistische System (diesen Begriff verwendet Marx so allerdings nicht in den Manuskripten) bedeute eine Vielzahl schlimmer Nachteile für die Arbeiter:

Im Kampf mit den Kapitalisten ziehen die Arbeiter tendenziell den Kürzeren, denn „der Kapitalist kann länger ohne den Arbeiter leben als dieser ohne jenen“66, da der Kapitalist über Rücklagen und andere Einnahmequellen verfügt, während der Arbeiter auf seinen Lohn zum Überleben angewiesen ist. Der Kapitalist versucht den Arbeitslohn auf das für das Überleben des Arbeiters und seiner Familie notwendige Minimum zu drücken.

Der Arbeiter selbst „ist zu einer Ware geworden“67, sein Lohn und damit sein Überleben und das seiner Nachkommen hängt von der Nachfrage nach Arbeitskräften ab. Auch die Konkurenz unter den Kapitalisten wirkt sich für den Arbeiter negativ aus: „Der Arbeiter braucht nicht notwendig zu gewinnen mit dem Gewinn des Kapitalisten, aber er verliert notwendig mit ihm.“68 Außerdem wird die Situation des Arbeiters empfindlich durch das Schwanken der Lebensmittelpreise beeinflußt.

Marx erklärt hier den Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht mehr (wie noch zu Beginn des Jahres) aus der elenden Situation der Arbeiterklasse, sondern aus dem Antagonismus von Bürgertum und Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion heraus.

Neben dieser materialistischen Untersuchung über die Stellung des Arbeiters in der bürgerlichen Gesellschaft anhand der Frage des Arbeitslohnes ist für die vorliegende Arbeit der Abschnitt über „die entfremdete Arbeit“ von Bedeutung. Dabei geht Marx „von einem nationalökonomischen Faktum aus. Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert … Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. … Dies Faktum drückt nichts weiter aus als: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von den Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“69 Das Verhältnis des Arbeiters zu seinem Produkt als etwas Fremden ist für Marx aber nur eine Seite der Entfremdung, eine andere und damit verbundene die Entfremdung des Arbeiters von sich selbst: „daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in der Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt … Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und bei der Arbeit außer sich.“70 Damit einhergehend entfremdet der Mensch sich von seinem auf der Arbeit beruhenden Gattungswesen, denn für Marx unterscheidet erst die Arbeit den Menschen von Tier. So schreibt er: „Es kömmt daher zu dem Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen Essen, Trinken und Zeugen … sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen [also der Arbeit, Anm.d.Verf.] als Tier.“71 Aus der Entfremdung des Menschen von seinem Produkt, von sich selbst im Akt der Produktion und von sich als Gattungswesen folgt für Marx, „daß ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist.“72

Das Privateigentum ist „das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit“73, weil, wenn das Produkt der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, muß es einem anderem Menschen, dem Privateigentümer, gehören74. Marx fasst zusammen: „Arbeitslohn ist die unmittelbare Folge der entfremdeten Arbeit, und die entfremdete Arbeit ist die unmittelbare Ursache des Privateigentums. Mit der einen muß auch die andere Seite fallen. Aus dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit zum Privateigentum folgt ferner, daß die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht, nicht als wenn es sich nur um ihre Emanzipation handelte, sondern weil in ihrer Emanzipation die allgemein menschliche enthalten ist, … weil die ganze menschliche Knechtschaft in das Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist.“75

Wie bereits in der „Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ findet sich auch hier der Gedanke, die Emanzipation des Proletariats bedeute Emanzipation „aller übrigen Spären der Gesellschaft“76. Zu dieser Emanzipation bedarf es allerdings nicht mehr des Bündnisses mit der Philosophie.

  1. Schluß

Die „Idee der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse steht … im Zentrum von Marxens Denken“77, schreibt Alex Callinicos. Dort Einzug gehalten hat sie über die oben dargestellte und untersuchte Entwicklung des Marxschen Denkens im Laufe des Jahres 1844 unter dem Eindruck kommunistischer Arbeiter in Paris, des schlesischen Weberaufstandes und der Beschäftigung mit der Nationalökonomie. Explizit ausgesprochen wird der Gedanke der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse in den „Kritischen Randglossen“ und den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ noch nicht. Implizit enthalten ist er aber in beiden Aufsätzen, spricht Marx in ihnen doch von der Arbeiteremanzipation ohne die Notwendigkeit eines Bündnisses mit der Philosophie zu erwähnen, und von dem deutschen Proletariat, daß auch ohne die Hilfe der Philosophie bereits zum „Theoretiker des europäischen Proletariats“ geworden ist. Bereits in der 1845 erschienenen Schrift „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ heißt es dann eindeutig:

Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefasst sind, weil der Mensch sich in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende Not … zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien.78

(Für die Philosophie hat Marx zur gleichen Zeit nur noch bitteren Spott übrig:„Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete Hegelsche Philosophie, die ihren zur wiederlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umherschielt.“79 Dies ist sicherlich auch als Selbstkritik an dem von Marx Anfang 1844 vertretenen Bündnis Philosophie-Proletariat zu verstehen.)

Für diese Entwicklung hin zum Gedanken der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse war, um es noch einmal zu betonen, die konkrete Erfahrung organisierter kommunistischer Arbeiter und des schlesischen Weberaufstandes absolut entscheidend. Marx’ eigene Entwicklung kann somit auch als Bestätigung für den von ihm stammenden Ausspruch: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“80 gelten.

Daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, ist meines Erachtens die Kernthese des Marxismus. Jede politische Strömung, die für sich beansprucht, eine authentische marxistische Tradition zu repräsentieren, muß auf ihre Haltung zu dieser Frage hin untersucht werden. Weder ein am Ostblock, China oder Kuba orientierter Sozialismus, für den die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk stalinistischer Parteien, der Roten Armee (wie im Ostblock) oder von Guerilla-Armeen (wie in China oder Kuba) ist, noch der Sozialismus sozialdemokratischer und poststalinistischer Parteien, für den der Weg der Befreiung der Arbeiterklasse der Weg des Parlamentarismus ist, kann daher in irgendeiner Form für sich in Anspruch nehmen, in einer derartigen Tradition zu stehen. Ein Sozialismus marxscher Prägung kann kein Sozialismus „von oben“ sein (wie es der Stalinismus und auch der sozialdemokratische bzw. poststalinistische Sozialismus ist), sondern ist nur als Ergebnis der Selbstaktivität und der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse, als „selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“81denkbar. Der Wiederaufbau einer authentischen marxistischen Tradition ist meines Erachtens in Anbetracht des alltäglichen kapitalistischen Horrors (Kriege, Umweltzerstörung, Hunger und Wirtschaftskrisen) und in Anbetracht des völligen Versagens der Sozialdemokratie, diesem Horror irgendetwas entgegensetzen zu können, zur Notwendigkeit geworden. Einen Beitrag zum Wiederaufbau einer derartigen Tradition kann die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Marx selbst zu der Einsicht in die Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse kam, leisten. Allerdings darf bei dieser Auseinandersetzung nicht stehengeblieben werden. So wie Marx selbst zur Selbstbefreiung des Proletariats durch sein Studium der Nationalökonomie und dem Eingreifen in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit kam, so muß ein Wiederaufbau einer authentischen marxistischen Tradition sowohl eine kritische Analyse der bestehenden Verhältnisse (und der marxschen Theorie) als auch das bewußte Eingreifen in die bestehenden Verhältnisse mit dem Ziel ihrer revolutionären Veränderung beinhalten.

1 Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, Berlin 1985 (ME-AW 1), S.384

2 Callinicos, Alex: Die revolutionären Ideen von Karl Marx, Frankfurt(M) 1998, S.31

3 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 1, Berlin 1983 (MEW 1), S.119

4 Rubel, Maximilian: Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk , München 1968

5 Hammen, Oscar: Die roten 48er. Karl Marx und Friedrich Engels, Frankfurt(M) 1972

6 Mehring, Franz: Karl Marx. Geschichte seines Lebens, Leipzig 1918

7 Grandjonc, Jaques: „Vorwärts!“ 1844. Karl Marx und die deutschen Kommunisten in Paris, Berlin/Bonn 1974

8 Sieferle, Rolf Peter: Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Frankfurt(M)/Berlin/Wien 1979

9 Sieferle S.14

10 Zit. nach Sieferle S.20

11 Sieferle S.21

12 Callinicos S.24

13 Callinicos S.25

14 Sieferle S.17

15 Zit. nach Sieferle S.17

16 Hammen S.50

17 Hammen S.53

18 Rubel S.14

19 Rubel S.14

20 MEW 1 S.119

21 Mehring S.43

22 Zit. nach Mehring S.44

23 Sieferle S.21f

24 MEW 1 S.108

25 MEW 1 S.108

26 Sieferle S.20

27 Zit. nach Mehring S.48

28 Mehring S.53

29 Marx und Ruge in: Karl Marx/Fiederich Engels: Ergänzungsband. Schriften. Manuskripte. Briefe bis 1844, Erster Teil, Berlin 1968 (MEW-E), S.437

30 Sieferle S.23

31 Sieferle S.23

32 Hammen S.80

33 Rubel S. 17f

34 Hammen S.79

35 MEW 39, S.466

36 Hammen S.80

37 Sieferle S.27

38 MEW 1 S.345

39 Marx, Karl: Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: ME-AW 1, S. 10

40 ebenda S.17

41 Ebenda S.18

42 Ebenda S.19

43 Ebenda S.21

44 Ebenda S.21

45 Ebenda S.24

46 Ebenda S.25

47 Zit. nach Callinicos S. 200, siehe auch Engels, Friedrich: Vorrede zur englischen Ausgabe von 1888 des Kommunistischen Manifests, in: Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1987, S.16

48 Callinicos S.29

49 Hammen S.85

50 Grandjonc S.5f

51 Grandjonc S.7

52 Grandjonc S.8

53 Mehring S.81

54 Callinicos S.29, Sieferle S.27

55 MEW-E S.553f

56 Zitiert nach Sieferle, S.45

57 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 2, Berlin 1980 (MEW 2), S.507

58 Grandjoc S.30

59 Grandjoc S.65f. Marx nimmt neben seiner Teilnahme an Redaktionssitzungen durch das Abdrucken von ihm als interessant erscheinenden Büchern, durch eigene sowie durch die stark von ihm beeinflußten Artikel G.Webers Einfluß auf den Vorwärts!.

60 Zitiert nach ME-AW 1 S.26

61 ME-AW 1 S.26

62 Ebenda S.27

63 Ebenda S.27

64 MEW-E S.471

65 Ebenda S.499

66 Ebenda S.471

67 Ebenda S.471

68 Ebenda S.472

69 MEW-E S.511

70 Ebenda S.514

71 Ebenda S.514f

72 Ebenda S.518

73 Ebenda S.520

74 Marx erklärt daß Privateigentum zur Folge der entfremdeten Arbeit, um anders als die bürgerlichen Ökonomen, nicht vom Privateigentum als einem Faktum auszugehen, sondern es in seiner Entstehung zu erklären. Er fährt aber fort: „Aber es zeigt sich bei der Analyse dieses Begriffes, daß, wenn das Privateigentum … als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist … Später schlägt dies Verhältnis in Wechselwirkung um.“ Ebenda S.520

75 MEW-E S.521, Hervorhebung von Marx

76 ME-AW S.24

77 Callinicos S.200

78 MEW 2 S.38, Hervorhebung von mir, FW

79 MEW 2 S.20

80 Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 3, Berlin 1983 (MEW 3) S.27

81 Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1987, S.43

 

  1. Quellen- und Literaturverzeichnis

4.1 Quellen

Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, Berlin 1985 (ME-AW 1).

Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1977 (ME-AW 2).

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 1, Berlin 1983 (MEW 1).

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 2, Berlin 1980 (MEW 2).

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 3, Berlin 1983 (MEW 3).

Karl Marx/Fiederich Engels: Ergänzungsband. Schriften. Manuskripte. Briefe bis 1844, Erster Teil, Berlin 1968 (MEW-E).

Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1987.

4.2 Literatur

Callinicos, Alex: Die revolutionären Ideen von Karl Marx, Frankfurt(M) 1998.

Grandjonc, Jaques: „Vorwärts!“ 1844. Karl Marx und die deutschen Kommunisten in Paris, Berlin/Bonn 1974.

Hammen, Oscar: Die roten 48er. Karl Marx und Friedrich Engels, Frankfurt(M) 1972.

Mehring, Franz: Karl Marx. Geschichte seines Lebens, Leipzig 1918.

Rubel, Maximilian: Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk , München 1968.

Sieferle, Rolf Peter: Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Frankfurt(M)/Berlin/Wien 1979.