Ursprüngliche und spätere Kritische Theorie Max Horkheimers

(unveröff. Hausarbeit, WS 2000)

Ursprüngliche und spätere Kritische Theorie Max Horkheimers’.

Von Florian Wilde.

Inhaltsverzeichnis:

  1. Einleitung 1
  2. Horkheimer 1937: Die ursprüngliche Kritische Theorie 3

2.1 „Traditionelle und Kritische Theorie“:

Zusammenfassende Darstellung 3

2.2 Bewertung 5

  1. Horkheimers Kritische Theorie in den 50er und 60er Jahren 8
  2. Schluß 19
  3. Quellen- und Literaturverzeichnis 21

4.1 Quellen 21

4.2 Darstellungen 21

 

1.Einleitung:

1970 hielt Max Horkheimer vor Frankfurter Studenten einen Vortrag unter dem Titel „Kritische Theorie gestern und heute“. Sein Thema: Die Veränderungen, die in der Kritischen Theorie seit den 1930er Jahren vor sich gegeangen sind.

Diese Veränderungen sind auch das Thema der hier vorliegenden Arbeit. Um sie deutlich zu machen, sollen zwei spätere Texte Horkheimers aus den Jahren 1958 und 1970 dem ebenfalls von Horkheimer stammenden Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“1 von 1937 gegenüber gestellt werden. Letzterer kann als programmatischer Text der frühen oder ursprünglichen2 Kritischen Theorie betrachtet werden. In ihm erklärt Horkheimer die Funktionsweise der Kritischen Theorie im Gegensatz zur traditionellen Theorie der Fachwissenschaften.

Dieser Aufsatz soll, um Horkheimers Vorstellungen in den 30er Jahren deutlich zu machen, zusammenfassend dargestellt, anschliessend aber auch kritisch bewertet werden.

Bei den beiden späteren Texten, einem Brief Horkheimers an Adorno aus dem Jahre 19583 und dem oben bereits erwähnten, aus einer Vorlesung hervorgegangenen Text „Kritische Theorie gestern und heute“ 4 steht die kritische Auseinandersetzung mit den Texten im Vordergrund. Die Gründe, die von Horkheimer für den Abschied von der ursprünglichen Kritischen Theorie und den Angriff auf sie ins Feld geführt werden, sollen vom Standpunkt der ursprünglichen Kritischen Theorie aus hinterfragt werden.

Da ich mich im wesentlichen auf drei Texte Horkheimers stütze, kann es sich hierbei nur um Momentaufnahmen einer Entwicklung, keinesfalls aber um ihre wirklich umfassende Darstellung handeln.

Die Haltung des Verfasser dieses Referats ist dabei nicht die eines neutralen und unparteiischen Beobachters, sondern die von jemanden, der der ursprünglichen Kritischen Theorie mit tiefer Sympathie gegenübersteht und ihre spätere Entwicklung im wesentlichen als Degeneration betrachtet.

Der häufig polemische Stil der Auseinandersetzung in diesem schriftlichen Referat ist der Tatsache geschuldet, dass sie aus verschiedenen, für ein Seminar geschriebenen Essays hervorgegangen ist und hervorgehen sollte. Darunter leidet u.U. gelegentlich auch die innere Struktur dieser Arbeit.

Neben den drei Horkheimer-Texten verwendete ich zur Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie v.a. das große Werk von Rolf Wiggershaus „Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung“5sowie (wenn auch in weit geringerem Maße) das von Clemens Albrecht herausgegebene Sammelwerk „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule.“6

Zur Auseinandersetzung mit dem Marxismus, der ja – das eine Mal durch Zustimmung und Übernahme, das andere Mal durch Kritik und Abgrenzung – zentral für die Konstituierung der frühen wie der späten Kritischen Theorie Horkheimers war, verwendete ich vor allem Alex Callinicos’ „Die revolutionären Ideen von Karl Marx.“7

  1. Horkheimer 1937: Die ursprüngliche Kritische Theorie

2.1 „Traditionelle und Kritische Theorie“: Zusammenfassende Darstellung

Horkheimer liefert in dem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 eine materialistische Analyse der Funktion der traditionellen Wissenschaft in der Gesellschaft im Gegensatz zur kritischer Theorie, die auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaft abzielt. Der Begriff „kritische Theorie“ wird von Horkheimer an Stelle des alten Begriffes „materialistische Theorie“ verwand, da er weniger auf die Nähe Horkheimers zum Marxismus verweist8 – eine Nähe, die dem Horkheimerkreis in den USA ständig Probleme zu verursachen drohte.

Immer wieder stellt Horkheimer in dem Aufsatz zwei Arten von Theorie einander gegenüber: Die kritische und die traditionelle Theorie. Die traditionelle Theorie fasst für Horkheimer Beobachtungen innerhalb dieser Gesellschaft in feste Begriffssysteme, in möglichst mathematische Formeln. Dieses gelte für die Natur- wie die Geisteswissenschaften. Traditionelle Theorie sei abhängig von den Strukturen der bestehenden Gesellschaft. Ihr Ziel sei tendenziell die Opimierung und Effektivisierung dieser Strukturen. Sie ziele also auf die verbesserte Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft ab. Dabei betrachte sie einzelne Phänomene, Probleme, Sachverhalte getrennt vom Ganzen und versucht sie, isoliert zu lösen.

Im Gegensatz dazu strebe die kritische Theorie die radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse zugunsten eines zukünftigen vernünftigen Zustandes an. Die gegenwärtige Gesellschaft, die sich auf die Anarchie der Marktkräfte und die Verfügungsgewalt der Bourgeoisie über die Produktionsmittel stütze, wird als unvernünftig begriffen.

Die kritische Theorie zielt daher auf die Errichtung einer Gesellschaft ab, in der die Angelegenheiten der Menschen einer bewussten, rationalen Planung durch die Menschen unterliegen, also einer im marxschen Sinne sozialistischen Gesellschaft.

Die kritische Theorie betrachte nicht vom Ganzen isolierte Einzelphänomene, sondern will Gesellschaft als ganzes mit dem Ziel ihrer Veränderung begreifen.

Dabei wird Wissenschaft von Horkheimer nicht als losgelösst von den realen Verhältnissen betrachtet. Der Stand der Wissenschaft hänge ab von den materiellen Voraussetzungen der Gesellschaft, in der sie betrieben wird, und das Forschungsinteresse des Wissenschaftlers sei kein suprahistorisches, sondern von Interessen gelenkt. (Im Falle der traditionellen Theorie von den Interessen des Kapitals, im Falle der kritischen Theorie von den Notwendigkeiten des Kampfes um Befreiung.) Traditionelle Theorie verselbständige den Begriff der Theorie, als ob er „als ob er aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei“ und verwandele ihn so in eine „verdinglichte, ideologische Kategorie9.

Der Charakter des wahrnehmenden Subjektes wie des wahrgenommenen Objektes seien historisch bestimmt.

In ihrem Bestreben nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse will die kritische Theorie diesen auf den Grund gehen, daher die Beschäftigung mit der politischen Ökonomie als der realen Basis der auf Warenaustausch beruhenden kapitalistischen Gesellschaft.

Zu den Aufgabe des kritischen Theoretikers zählt Horkheimer, Position zu beziehen. Gerade Gesellschaftswissenschaft könne nicht neutral seien. Dabei fordert Horkheimer nicht nur die Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft mit allen ihren Widersprüchen, sondern jede Darstellung dieser Gesellschaft muss als Stimulation zu ihrer Veränderung begriffen werden.

Horkheimer beschreibt die Gesellschaft als eine von Unterdrückung und Elend geprägte. Dieses müsse nicht sein, der Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte mache beides eigentlich unnötig. Das beides noch fröhliche Urstände feiere, läge in der unvernünftigen Ordnung der Gesellschaft. Einer vernünftigen Gesellschaftsordnung stehe die Herrschaft des Bürgertums im Wege. Die Klasse, die diese Herrschaft auf revolutionärem Wege beseitigen kann, sei das Proletariat. Zum Verhältnis des Theoretikers zum Proletariat schreibt Horkheimer über den Unterschied zwischen der subjektiven und objektiven Lage der Arbeiterklasse. Dieses rühre von den bürgerliche Ideen her, die einen gewaltigen Einfluss auf die Köpfe der Arbeiter hätten, sowie auf den sozialen Unterschieden innerhalb des Proletariats, die von der bürgerlichen Ideologie immer wieder zur Spaltung der Klasse benützt würden.

Daher sei Klassenbewusstsein nicht zwangsweise vorhanden: Herrschende Ideologie und gewisse materielle Unterschiede trennten persönliche von Klasseninteressen.

Die Richtigkeit einer Lehre sei nicht abhängig von ihrer Verbreitung in der Klasse. Die Notwendigkeit der Theorie leite sich gerade daraus ab, dass die Arbeiterklasse nicht von sich aus eine kritische Theorie der Gesellschaft betreibe (und meist auch gar nicht betreiben kann.)

2.2 Bewertung

Horkheimer weist überzeugend die gesellschaftliche Abhängigkeit von Theorien nach. Wissenschaft ist nichts freischwebendes und völlig eigenständiges, nur der Wahrheitsfindung dienendes, wie sie uns häufig dargestellt wird. Sondern Wissenschaft ist immer Interessengeleitet. Für Horkheimer ergibt sich der Schein wissenschaftlicher Unabhängigkeit aus der kapitalistischen Arbeitsteilung mit ihrer scheinbaren Selbstständigkeit von Arbeitsprozessen. In Wahrheit aber ist der gesamte wissenschaftliche Apperat ausgerichtet an den Reproduktions– und technischen Entwicklungsbedürfnissen „der Industrie“, „der Wirtschaft“ – oder kurz: der ökonomisch und damit auch politisch herrschenden Klasse.

Horkheimer liefert eine großartige Kritik der Beschränktheit und Abgehobenheit bürgerlicher Wissenschaft, wie sie uns auch heute noch in den Unis auf Schritt und Tritt begegnet. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist gerade in Zeiten, in denen Hochschulsponsoring durch Konzerne, Firmenkontaktmessen, Umwandlung der Unis in private Stiftungen etc. diskutiert werden, hochaktuell. Das Ziel dieser Maßnahmen ist, den Wissenschaftsbetrieb noch stärker und unmittelbarer an den Erfordernissen der großen Konzerne auszurichten. Ökonomisch weniger direkt verwertbare und potenziell kritische Wissenschaften (Soziologie, Politologie, Geschichte u.a.) sind von ständigen Einsparungen betroffen. In Horkheimers Worten: „Es werden weniger Energien darauf verwendet, die Denkfähigkeit, unabhängig von der (ökonomisch verwertbaren, d.Verf.) Anwendungsart, auszubilden und weiterzuführen.10

Wegen der zunehmend auch direkten Einflussnahme der Konzerne auf die Universitäten ist es wichtig, auf die Abhängigkeit der Wissenschaft von den Interesssen des Kapitals zu verweisen und gleichzeitig für eine kapitalismuskritische, von den Interessen des Kapitals unabhängige und auf Überwindung der bestehenden Gesellschafts(un)ordnung ausgerichtete Wissenschaft zu streiten. Horkheimer liefert uns für diese Auseinandersetzungen hervoragende ideologische Munition.

An einem Punkt möchte ich Horkheimer aber kritisieren. Seine Ideen bleiben merkwürdig in der Luft schweben. Eine konkrete Perspektive zur Umsetzung seiner Ideen zeigt er nicht auf. Die Frage „Was tun?“ wird nicht konkret gestellt – und schon gar nicht beantwortet. Gleichzeitig erscheint mir das von Horkheimer skizzierte Verhältniss des Wissenschaftlers zur Klasse ein elitäres. Es wirkt so, als ob die Klasse arbeite und nur darauf warte, dass der Wissenschaftler ihr die Erkenntnis herunterreicht. Das Element des Lernens von den Kämpfen der Klasse und des verallgemeinerns ihrer konkreter Erfahrungen fehlt leider völlig. Dieses aber ist meines Erachtens die zentrale Aufgabe revolutionärer Theoretiker. Marx Ideen vom Staat waren entscheidend geprägt von den Kämpfen der Pariser Kommune, und die Idee der Räte stammt nicht von Lenin, sondern war das Ergebnis der Klassenkämpfe in Russland 1905. Lenin griff diese Idee bloß auf, verallgemeinerte sie und machte sie 1917 in „Staat und Revolution“ zur Grundlage seiner Staatstheorie. Die Selbstaktivität der Arbeiterklasse, zentral in der Theorie von Marx11, spielt für Horkheimer keine Rolle: „Die kühneen Konstruktionen von Marx und Lukács, deren Ansicht, daß die proletarische Klasse von der historischen Entwicklung dazu gedrängt werde, zur Klasse für sich zu werden und mit Selbstbewußtsein und in eigener Regie zu tun, was sie in entfremdeter Form sowieso schon tat: die Reproduktion der Gesellschaft zu betreiben, fehlten bei Horkheimer12, so Rolf Wiggershaus.

Auch die Veränderung des Bewustseins im konkreten Klassenkampf fehlt bei ihm. Wiggershaus schreibt dazu: „… von kollektiven Lernprozessen des Proletariats … war bei Horkheimer keine Rede.13 Diese Frage ist aber entscheident, sehen sich doch revolutionäre Sozialisten in nichtrevolutionären Zeiten ständig mit dem Problem konfrotiert, das die Klasse, die objektiv der Träger revolutionärer Veränderung sein muss, kein Beweustsein von dieser Mission hat. Auch die allerbeste Theorie wird dieses Nicht-Bewustsein nicht knacken. Dieses können ausschliesslich die konkreten Erfahrungen der eigenen Macht, der Notwendigkeit von Solidarität, der Notwendigkeit, weitere Sektionen der Arbeiterklasse in Kämpfe einzubeziehen, die Arbeiter in Klassenauseinandersetzungen wie beispielsweise Streiks machen.

Letztlich bleibt Horkheimer bei einer radikalen Kritik der bürgerlichen Verhältnisse stehen. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift14, so Marx in seiner Einleitung „zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“.

Den notwendigen nächsten Schritt, den Aufbau einer revolutionären Partei, die den Austausch der Erfahrungen zwischen Theoretiker und Klasse organisiert, die als organisches Bindeglied zwischen Theoretiker und Klasse funktioniert, die um die Verbreiterung der Theorie in den Massen kämpft und gleichzeitig die kämpferischsten Arbeiter organisiert, diesen Schritt geht Horkheimer nicht. Statt dessen versuchte er Zeit seines Lebens systematisch, jede direkte Verbindung des „Instituts für Sozialforschung“ mit der organisierten Arbeiterbewegung zu verhindern und stellte das Institut immer als eine rein akademische Unternehmung dar. Diese Intention stellte eine einschneidende Wendung im Verhältnis von marxistischen Intellektuellen zur Arbeiterbewegung dar. Bisher waren fast alle wichtigen marxistischen Intellektuellen gleichzeitig auch führend in der Arbeiterbewegung tätig. Dieses gilt für Marx und Engels wie für Lenin, Trotzki, Kautsky, Luxemburg, Mehring, Lukacs und Gramsci. Das lag sicher zum Teil daran, dass die Universitäten oft marxistischen Intellektuellen versprerrt waren. Vor allem aber reflektierte es Marx´ grundlegende Ablehnung einer Trennung von revolutionärer Theorie und Praxis. Bereits in diesem frühen Werk Horkheimers zeichnet sich die Entwicklung marxistischer Intellektueller hin zum „westlichen“ oder „akademischen Marxismus“, getrennt von der organisierten Arbeiterbewegung und beschränkt auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen innerhalb der Universitäten.

Dieses aufkommende Phänomen ist in meinen Augen eng verknüpft mit dem Niedergang der revolutionären Arbeiterbewegung, bedingt durch den Stalinismus. Der intellektuell verkrüppelte, schematische Marxismus stalinistischer Prägung konnte nur bedingt eine theoretische Anziehungskraft auf revolutionäre Intellektuelle entwickeln, ebenso wie die zu reinen Ausführungsorganen Moskauer Interessen degenerierten Kommunistischen Parteien nur noch begrenzt eine praktische Anziehungskraft entwickeln konnten.

Dass Horkheimer sich allerdings nicht nur nicht an der organisierten Arbeiterbewegung beteiligte, sondern die Rolle einer revolutionären Partei nicht einmal theoretisch aufarbeitete, erscheint mir als die wesentliche Schwäche der frühen kritischen Theorie.

  1. Horkheimers Kritische Theorie in den 50er und 60er Jahren

In dem Text „Kritische Theorie gestern und heute“, hervorgegangen aus zwei Vorlesungen 1970, setzt sich Horkheimer mit den Veränderungen in der von ihm vertretenen KT zwischen den 20er Jahren und 1970 auseinander.

Grundgedanke der KT der 20er Jahre (der „ursprünglichen kritischen Theorie15, sei die Hoffnung auf die Errichtung einer besseren Gesellschaft vermittels einer Revolution gewesen16.

Die „neuere Kritische Theorie“ hingegen trete nicht mehr für die Revolution ein17. Ihr gehe es vielmehr darum, das in der bestehenden Gesellschaft Positive zu bewahren, ohne den Fortschritt der Menschheit aufzuhalten, „nämlich die Autonomie des einzelnen.“18 An die Stelle des Ziels der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft sind kleine Verbesserungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft getreten. Was der einzelne heute noch tun könne, sei, so Horkheimer, um kleine Reformen zu kämpfen19.

Zu diesen Veränderungen der kritischen Theorie sei es vor allem auf Grund der Einsicht gekommen, dass „Marx in vielen Punkten Unrecht20 gehabt hätte. Drei Punkte führt Horkheimer auf:

  1. Marx habe behauptet, „die Revolution werde ein Resultat der immer mehr sich verschärfenden ökonomischen Krisen sein, verbunden mit der fortschreitenden Verelendung der Arbeiterklasse in allen kapitalistischen Ländern. Das würde das Proletariat schliesslich dazu bringen, diesem Zustand ein Ende zu setzen und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.“ Das habe sich aber als falsch erwiesen: „Denn es geht der Arbeiterklasse weitgehend bessser als zur Zeit von Marx.“ Viele Arbeiter würden zu „Angestellten mit … besserer Lebenshaltung“. Gleichzeitig wachse die „Zahl der Angestellten gegenüber den Arbeitern fortwährend“.
  2. Es sei „offensichtlich, dass schwere Wirtschaftskrisen seltener werden. Sie lassen sich durch wirtschaftliche Eingriffe weitgehend verhindern.
  3. Die Annahmen von Marx über eine richtige Gesellschaft seien schon deshalb falsch, weil „Freiheit und Gerechtigkeit ebenso verbunden sind, wie sie Gegensätze sind; je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit.“ Gerechtigkeit würde bedeuten, so Horkheimer, den Menschen sehr viel zu verbieten, z.B. sich über andere hinaufzuschwingen. Je mehr Freiheit es aber geben würde, um so mehr würden einzelne sich über andere hinaufschwingen und somit würde es weniger Gerechtigkeit geben.21

Horkheimer will nicht, dass man seine Theorien einfach akzeptiert, sondern, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt22. Daher möchte ich mich im Folgenden mit den von Horkheimer angeführten drei Gründen für den Abschied von der ursprünglichen Kritischen Theorie auseinandersetzen. War es wirklich so, dass Marx in diesen Punkten derart Unrecht hatte, dass die ursprüngliche Kritische Theorie, die sich ja auf ihn stützte, so grundlegend revidiert werden musste? Oder irrte sich vielleicht Horkheimer?

Als Argument Nr.2 hatte Horkheimer angeführt, Marx habe sich geirrt, wie Wirtschaftskrisen offensichtlich seltener werden würden und durch regulierende Eingriffe weitestgehend verhindert werden könnten. Dies war eine schöne Illusion jener Zeit – und bei einer oberflächlichen Betrachtung der Dinge konnte man 1970 zu dieser Annahme kommen, schliesslich war die letzte Krise über 20 Jahre her – aber diese Illusion ist gründlich geplatzt, der Marx widerlegende Horkheimer vom Lauf der Geschichte gründlich widerlegt worden. Drei tiefe Rezzessionen erlebte die Weltwirtschaft seit 1970 (1973/74, 1982 und 1991/92), die den klassischen Marxschen Prognosen erstaunlich recht gegeben haben. Jede von ihnen war tiefer als die vorherige, die auf sie folgenden Aufschwünge flacher23, die Zahl der Arbeitslosen jedesmal höher. Das Wettrüsten ermöglichte dem Kapitalismus der 50er und 60er einige Jahre ungeahnten Wachstums – die ihm zugrundeliegende Krisendynamik holte ihn trotzdem bald wieder ein. Es gab durchaus marxistische Analytiker, die auch 1970 und in den Jahren zuvor erklären konnten, warum es vorübergehend keine Krisen gab, ohne deswegen ihren „Abschied vom Marxismus“ zu nehmen24, wie Horkheimer es tut.

Offensichtlich war es in diesem Punkt nicht Marx, der Unrecht hatte.

Kommen wir nun zum nächten Punkt: Der Arbeiterklasse gehe es doch viel besser als zu Marx Zeiten. Hierzu ist zu sagen, dass lange Boom-Phasen in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder zu einem Anstieg des Lebensstandartes der Arbeiter geführt haben, so auch der extreme Boom der 50er und 60er Jahre. War Marx wirlich davon ausgegangen, dass der absolute Lebensstandart der Arbeiter immer fallen müsse? Zumindest in seinen späteren Schriften nicht. So schrieb er im Kapital: „Es folgt nicht daraus, das der Anteil, woraus die Arbeiter ihr Einkommen ziehn, absolut vermindert wird; sondern nur relativ im Verhältnis zum totalen Gesamtergebnis ihrer Produktion.25 In den letzten Jahren ist diese Tendenz wieder ganz klar zu Tage getreten. Zahllose gewerkschaftliche Studien belegen, dass der Anteil der Arbeitereinkommen am Volkseinkommen seit 1982 kontinuierlich gefallen ist, obwohl viele Arbeiter heute etwa Videogeräte und Handys besitzen. Die ständig sinkenden Werte von Konsumgütern ermöglichen es vielen Arbeitern heute, Autos und Häuser zu besitzen, obwohl sie sogar noch stärker als früher ausgebeutet werden, obwohl also die Mehrwertrate gestiegen ist.

Ist Marx denn durch den rasanten Anstieg der Zahl der Angestellten im Verhältnis zu den Industriearbeitern wiederlegt?

Für Marx war Klasse keine beschreibende Kategorie, sondern ein theoretisches Konzept. Mit anderen Worten: Es ging ihm nicht um äußere Erscheinungen (Industriearbeiter/Verkäuferin), sondern um die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Realitäten. Die aber sind die gleichen geblieben: Immer noch stehen auf der einen Seite diejenigen, die die Produktionsmittel besitzen, und auf der anderen Seite die, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Ob sie dies nun als Bergarbeiter, Verkäufer oder im Call-Center tun, ändert am Kern der Sache wenig. Marx schrieb: „Jeder produktive Arbeiter ist Lohnarbeiter, aber … nicht jeder Lohnarbeiter produktiver Arbeiter.26 Die Arbeiterklasse umfasst also auch viele, die nicht direkt produktiv arbeiten, aber für die Kapitalisten zur Realisierung des Mehrwertes entscheident sind (Büroangestellte, Transportarbeiter). Wie hatte Marx im Kommunistischen Manifest geschrieben? „Die Bougreoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.27 Diese fortwährende Revolutionierung der Produktionsinstrumente führt natürlich zu ständigen Veränderungen der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, im 20.Jhr. bedeutete dies einen ständigen Anstieg der Zahl der Angetellten, die aber aufgrund ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln eindeutig Teil der Arbeiterklasse sind. Seit den 70er Jahren ist dieses noch deutlicher geworden, weil Löhne und Gehälter sich immer mehr anglichen und die Arbeitsbedingungen der Angestellten sich zusehends verschlechterten. Die Angestellten des öffentlichen Dienstes gehören heute in vielen Ländern des Westens zu den kämpferischsten Arbeitern, man denke nur an den ÖTV-Streik von 1992 oder den Generalstreik im öffentlichen Dienst in Frankreich 1995.

Selbst in der „New Economy“ nehmen Streiks und Kämpfe für die Einsetzung von Betriebsräten zu.

Auch wenn diese Tendenzen heute offensichtlicher sind als 1970 – ein nicht nur oberflächlich an das Problem herangehender Beobachter hätte sie auch damals erkennen können, und viele Marxisten haben dies getan. Horkheimer tut der Marxschen Klassenanalyse schwer Unrecht, wenn er schreibt, Marx habe hier Unrecht gehabt.

Sehr eigenartig erscheint mir Horkheimers Marxverständnis auch, wenn er schreibt, die Revolution sei das Resultat der ökonomischen Krisen, die das Proletariat dazu bringen würden, eine gerechte Gesellschaft herbeizuführen. Marx war nicht von einem Automatismus von Krise und Revolution ausgegangen. Er schrieb: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte28 (mit der Einschränkung, dass sie sich die Bedingungen, unter denen sie Geschichte machen, natürlich nicht aussuchen können). Wäre Marx von einem derartigen Automatismus oder Determinismus ausgegangen, er hätte sich kaum die Mühe gemacht, den Bund der Kommunisten in den 1840er Jahren und die 1.Internationale in den 1860er Jahren mit aufzubauen. Aber auch der junge Horkheimer hatte ein ganz anderes Verständnis vom Zusammenbruch des Kapitalismus als der alte: „Die sozialistsiche Gesellschaftsordnung … ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von an der Theorie geschulten, zum Besseren entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.29

Der dritte Punkt, den Horkheimer für seinen Abschied von der älteren Kritischen Theorie ins Felde führt (Freiheit und Gerechtigkeit als teilweiser Gegensatz in einer besseren Gesellschaft), ist schwer zu knacken, weil er spekulativ ist. Nur soviel sei dazu gesagt: Marx ging davon aus, dass menschliche Bedürfnisse ausserhalb der Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen etc.) gesellschaftlich bedingt sind („Nicht das Bewustsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewustsein.“30). Das Bedürfnis, sich etwa über andere zu deren Nachteil hinauszuschwingen, erscheint doch sehr das Produkt einer Gesellschaft zu sein, die derartiges Verhalten ständig durch Vorteile belohnt. In einer klassenlosen Gesellschaft, in der es heisst: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!31, erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass das Bedürfnis, sich über andere hinauszuschwingen, noch vorhanden ist, und daher unterdrückt werden muss. Auf dem Wege zu einer solchen Gesellschaft wird es dieses Problem sicherlich geben, aber das ist von Marx ja auch gesehen worden, deshalb geht er ja auch von der Notwendigkeit eines Arbeiterstaates für eine gewisse Übergangszeit aus. Ob man aber, wie Horkheimer es tut, bloß um nicht für eine gewisse Zeit die „Freiheit“, sich über andere hinauszuschwingen, einschränken zu müssen, darauf verzichtet, eine Welt radikal zu verändern, in der der Mehrheit der Menschheit die Möglichkeit auf ein Leben in Würde tagtäglich verweigert wird, in der frei zu sein von Elend, Ausbeutung und Unterdrückung oft ausserhalb jeder Vorstellung liegt, erscheint mir sehr fragwürdig.

Horkheimer macht angebliche Fehler in der Marxschen Theorie verantwortlich für die Revision der ursprünglichen Kritischen Theorie. Warscheinlich hätte er gut daran getan, die Fehler nicht bei Marx, sondern in seinem eigenen Marxismus-Verständnis zu suchen. Ich jedenfalls hätte schon mit einer etwas intelligenteren Begründung für seinen Abschied vom Marxismus gerechnet. Horkheimer ist voll und ganz zuzustimmen, dass das, was er zu sagen hat, „nicht allzu geistreich ist32. Zu verzeihen (worum er bittet) ist ihm dies in meinen Augen nicht, trägt er doch nach Kräften dazu bei, eine Generation von ihrer radikal-emanzipatorischen und marxistischen Ausrichtung abzuhalten.

1937 hatte Horkheimer die „Emanzipation des Menschen aus versklavten Verhältnissen33 als Ziel der Kritischen Theorie formuliert. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass das Ziel der „heutigen“ Kritischen Theorie in Horkheimers Augen die Aufrechterhaltung eben dieser Verhältnisse ist (zu deren Stabilisierung er allerdings einige Verbesserungen für notwendig hält).

Denn die zeitgenössischen Emanzipationsbewegungen der Studenten, der Frauen und der Schwarzen in den USA werden von Horkheimer im Namen der heutigen Kritischen Theorie scharf angegriffen.

Beispiel Studentenbewegung: Horkheimer stellt sich nicht etwa auf die Seite dieser Bewegung, die Nazi-Vergangenheit vieler Hochschulprofessoren thematisiert, sich gegen den Krieg in Vietnam stellt und die Entwicklung Richtung autoritären Staat (Notstandsgesetze) bekämpft und daher eine eindeutige Emanzipationsbewegung im Sinne der ursprünglichen Kritischen Theorie ist. Statt dessen wirft er ihr Demagogie vor34 und meint, es wäre besser, auf die Mitwirkung ihrer Aktivisten im Kampf für Reformen zu verzichten. Auf wen, wenn nicht auf die studentischen Aktivisten, will er aber dann setzen, wenn er noch etwas in dieser Gesellschaft ändern will? In Horkheimers Vorlesung folgt auf die Angriffe gegen studentische Demagogen das Loblied auf die Konservativen…

Auch die Proteste der Studenten gegen den Besuch des Shahs von Persien werden von Horkheimer kritisiert, nicht aber etwa die Ermordung des friedlich gegen den Shah demonstrierenden Studenten Benno Ohnesorg. Was für ein Kontrast zur Haltung Herbert Marcuses, der sich mit den an seiner Universität protestierenden Studenten klar solidarisierte, Referate auf Studenten-Kongressen in den USA und Deutschlands hielt und die Studentenbewegung als Emanzipationsbewegung begriff.

Auch die Bewegung der Schwarzen in den USA gegen Rassismus und Unterdrückung wird von Horkheimer erwähnt. Nicht aber, dass er sie als ein inspirierendes Beispiel einer modernen Emanzipationsbewegung betrachtet. Sondern er regt sich ausschliesslich über den angeblichen „Terror“35 (S.174) schwarzer Aktivisten (Neger, in seinen Worten) gegen andere Schwarze auf. Selbst wenn es diesen Terror gegeben haben sollte, Horkheimer versucht nicht mit einer Silbe, ihn aus den den Schwarzen gegenüber terroristischen Verhältnissen in den USA zu erklären.

Ebenso feindselig steht er der Emanzipation der Frauen gegenüber. Wegen ihrer Emanzipation wären den Frauen „ihr Heim und ihre Kinder nicht mehr alles für sie“. Dieses sei ein weiteres Beispiel dafür, „dass jeder Fortschritt bezahlt werden muss36.

Die Studenten hält Horkheimer für gefährliche Demagogen, die Schwarzen für terroristisch, die Frauen würde er lieber wieder hinter dem Herd sehen. Sein Lob finden nur die Konservativen.

Meines Erachtens ist Horkheimer 1970 nur noch als konservativ zu bezeichnen. Diese konservative Haltung zeigt sich auch bei seinem Bedauern des Bedeutungsverlustes der Religion – ein Bedeutungsverlust, der lange unter den Erfolgen von Vernunft und Aufklärung verbucht wurde. Hierbei versteigt er sich sogar zu der Behauptung: „Solange noch weitaus die Mehrzahl der Menschen gläubig war, taten sie die schlechten Dinge nicht, weil es eine höhere Gerechtigkeit gab.37. Nun war es doch aber so, dass viele der „schlechten Dinge“ gerade auch wegen der Religion getan wurden, wie z.B. die Glaubenskriege, die Inquisition, die Zwangsmissionierung indigener Völker und die Hexenverbrennungen. Ob in Ländern, in denen die Mehrzahl der Menschen heute noch gläubig sind, wie Iran, der Sudan oder Lybien, weniger schlechte Dinge getan werden als in anderen Ländern, möchte ich doch stark anzweifeln.

Horkheimers konservative Haltung zeigt sich auch darin, daß er als eine der notwendigen Kosten des Fortschritts die Entstehung einer total verwalteten Welt betrachtet, in der „das einzelne Individuum zwar ohne materielle Sorgen leben kann, aber keine Bedeutung mehr besitzt38. Diese Entwicklung ist für ihn auswegslos, sie könne keinesfalls durch Revolutionen aufgehalten werden, denn Revolutionen können in den Ländern des Westens nur zu „einem neuen Terrorismus, einem neuen furchtbaren Zustand führen39 (S.166). Mit dieser Behauptung will er die revolutionären Studenten von einer radikalen Kritik des Bestehenden in der Tradition der ursprünglichen Kritischen Theorie abhalten. Nur soviel sei zu seiner Behauptung, die er nicht einmal zu begründen versucht, gesagt: Der Ausgang der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 spricht eine eindeutig andere Sprache. Die einzige Revolution im Westen seit 1970 führte nicht zu diktatorischen oder terroristischen Verhältnissen.

Seine eigene revolutionäre Vergangenheit versucht er den Studenten gegenüber mit dem Nationalsozialismus zu rechtfertigen („Deshalb setzten wir zu jener Zeit unsere Hoffnung auf die Revolution, denn schlimmer als im Nationalsozialismus konnte es … nicht werden.40) und verschweigt ihnen dabei, dass er auch vor 1933 bereits für den Sozialismus und die Revolution eingetreten war41

Die von Horkheimer 1970 vertretene Kritische Theorie hat auch alles Antiautoritäre ihrer Ursprünge verloren. Der Verlust der Autorität des Vaters wird von Horkheimer beklagt42, an der Macht der Professoren an den Unis wird vor allem das angeblich Gute betont43.

Horkheimer vollzog seinen Abschied vom Marxismus (und der ursprünglichen Kritischen Theorie) allerdings schon lange vor 1970. Sein Brief an Adorno vom 27.09.1958 ist eine scharfe Verurteilung Habermas’, der im Geiste der ursprünglichen Kritischen Theorie in dem Artikel „Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus“ sich mit Marx’ Frühschriften auseinandersetzt. Diese Verurteilung kommt in der Gestalt einer Auseinandersetzung mit einem Herrn „H.“ daher. Würde man nicht wissen, dass Jürgen Habermas gemeint ist, man würde denken, „H.“ wäre der Horkheimer der früheren Kritischen Theorie.

Horkheimer schreibt ganz klar, was ihn an dem Artikel von Habermas so erboßt: „Worum es H. geht, ist die Marx´sche Theorie und Praxis44. Damit würde Habermas aber „nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten, … oder den potentiellen Faschisten im Inneren in die Hand spielen.45 Er wettert gegen die von Habermas verwendete (und von Marx übernommene) „Klausel“ von der „Selbstaufhebung der Philosophie und ihrer Verwirklichung durch die Praxis46oder gegen Habermas´ widerholtes Bekenntnis zur Revolution. An die Möglichkeit einer Revolution habe er, Horkheimer, und auch Adorno nie geglaubt: „Selbst in den Jahren, während der Nationalsozialismus heraufzog, während des Dritten Reiches, wußten wir um die Vergeblichkeit des Gedankens an Rettung durch Revolution.47 Diese Aussage steht im klaren Widerspruch zu dem, was er 1970 seinen Studenten erzählte: „Deshalb setzten wir zu jener Zeit (gemeint: der Nationalsozialismus, d.Verf.) unsere Hoffnung auf die Revolution48. Horkheimer polemisiert einerseits auch persönlich gegen Habermas, dem er „mit Geist gekoppelte Blindheit49 oder auch „ohne mit Verstand über die Gegenwart nachzudenken50 vorwirft. Andererseits versucht er, seine Positionen ins lächerliche zu ziehen, etwa wenn Habermas schreibt, die Voraussetzungen einer proletarischen Revolution seien in der Gegenwart sogar besser als zu Marx Zeiten und Horkheimer dagegen spottet: „Was für ein Kenner der Gegenwart, welch imponierende Zuversicht51 und auf die Massen in Frankreich verweist, die, obwohl es ihnen schlechter gehe als in Deutschland, gerade de Gaulle gewählt hätten. Der Spott über Habermas Kenntnis der Gegenwart fällt aber zumindest im historischen Rückblick auf den Spötter selbst zurück. Nur zehn Jahre später erschütterte der bisher größte Generalstreik der europäischen Geschichte Frankreich und machte für zwei Wochen die proletarische Revolution zu einer realen Möglichkeit.

Auch Horkheimer meint, man müsse für Veränderungen eintreten und könne weniges, kaum spürbares gegen einzelne Erscheinungen wie den Hunger oder das Elend in den Gefängnissen tun. 1937 hatte er allerdings noch geschrieben: „Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft.52 Die Perspektive auf eine Veränderung der gesamten Gesellschaft ist bei Horkheimer umgeschlagen zur Verteidigung der bestehenden Gesellschaft, die er verbessern, nicht aber grundlegend in Frage stellen will.

Kritische Theorie muss immer auch kritisch gegen sich selbst, gegen ihren eigenen Träger sein, habe ich bei ihren Theoretikern gelernt. Ebenso, dass es bei Wissenschaften auch immer um die Frage nach dem Interesse an bestimmten Theorien gehen muss. Horkheimer ist in seinem Brief an Adorno sehr ehrlich, was sein Interesse angeht. Über die Position Habermas im Geiste der ursprünglichen Kritischen Theorie äußert er: „Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, dass aus öffentlichen Mitteln dieser fesselnden Gesellschaft lebt, sind unmöglich.“ „Wir dürfen [Habermas] … dieses Institut nicht ruinieren lassen. 53

Auf dem schnöden Altar eines gutbezahlten Postens opfert Horkheimer hier alles, wofür er selbst einmal gestanden. Das Phänomen des rechts gewendeten Alt-68ers ist also offensichtlich kein neues. Und so wie viele 1968 auf den Horkheimer der Kritischen Theorie der 30er Jahre blickten, so können alle aus dieser Generation, die heute in Ministersesseln sitzen und Kriege führen, auf den alten Horkheimer gucken: als ein Vorbild für den billigen Ausverkauf linker Prinzipien. Bitter ist, dass genauso wie Joschka Fischer seinen Krieg rhetorisch links begründet, auch der Horkheimersche Antikommunismus noch versucht, im kritischen Gewande daher zu kommen.

  1. Schluss

Mit diesem schriftlichen Referat sollte verdeutlicht werden, wie groß die Unterschiede zwischen Horkheimers Kritischen Theorie der 30er Jahre und den unter dem gleichen Namen von ihm vertretenen Theorien in den 50er und 60er Jahren sind. War die Kritische Theorie Horkheimers in den 30ern noch eine spannende Version eines – wenn auch sehr akademisch ausgerichteten – zeitgenössischen Marxismus, so wurde aus ihr in den 50ern die „kritische Zierde einer restaurativen Gesellschaft54, die bei aller Kritik an dieser Gesellschaft und aller Orientierung auf kleinere Reformen letztlich auf die Erhaltung dieser Gesellschaft ausgerichtet war. Besonders deutlich wurde die gewandelte Haltung Horkheimers in dem Moment, in dem die restaurative Nachkriegsgesellschaft wenigstens ein Stück weit durch die 68er-Bewegung in Frage gestellt wurde und Horkheimer zu einem prominenten Verteidiger dieser Gesellschaft gegen die sich auf seine früheren Schriften berufenden Studenten wurde. In dieser Situation sah sich Horkheimer gezwungen, explizit gegen vieles früher von ihm selbst vertretene Stellung zu beziehen. An der Haltung Horkheimers zu den Studenten um 1968 lassen sich daher die Veränderungen in seiner Theorie besonders verdeutlichen. So groß sind die Veränderungen in der Theorie, so affirmativ gegenüber der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ist Horkheimers Haltung geworden, dass zu Fragen bleibt, in wie weit die Ideen Horkheimers in den späteren Jahren noch als kritische Theorie zu bezeichnen sind. Gemeinsamkeiten sind – anhand der verwendeten Texte – meines Erachtens nur schwer erkennbar. Wenn Wiggershaus zur Definition des Begriffes Kritische Theorie vorschlägt, mit Kritischer Theorie sei „ein Denken [ge]meint, das der Abschaffung von Herrschaft verpflichtet ist und in einer für vielfältige Verbindungen offenen marxistischen Theorie steht55, dann trifft diese Definition für Horkheimers spätere „Kritische Theorie“ gewiss nicht mehr zu.

Wenn in diesem schriftlichen Referat gegen die spätere Kritische Theorie argumentiert und polemisiert wurde, so war hiermit ausschliesslich die spätere Kritische Theorie wie sie von Horkheimer vertreten wurde, gemeint. Die anderen bedeutenden Vertreter dieser Theorie, Adorno und weit mehr noch Marcuse, haben zu den Studentenprotesten der 60er Jahre eine andere Haltung eingenommen und gerade Marcuses Theorien der 60er und 70er Jahre waren wie seine Schriften in den 30ern auf eine radikale Veränderung der bestehenden Gesellschaft ausgerichtet, auch wenn er in seinen späteren Schriften andere Vorstellungen von Wegen und Zielen der Veränderung gehabt haben mag als in seinen frühen Schriften. Herbert Marcuse ist bis zum Ende seines Lebens einer der wichtigsten radikalen und wirklich kritischen Theoretiker geblieben, anders als sein langjähriger Weggefährte Max Horkheimer.

1 Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: Kritische Theorie II, o.O., O.J. (Verwendet wurden im Seminar behandelte und im Seminarordner abgelegte Horkheimer-Texte. Die Anmerkungen beinhalten die Angabe von Erscheinungsort und -jahr nur, soweit sie den im Seminarordner abgelegten Texten zu entnehmen waren).

2 Diese Bezeichnung verwendet Horkheimer 1970, in: Horkheimer: Traditionelle, a.a.O. S.164.

3 Horkheimer, Max – Theodor W.Adorno, Montagnola, 27.09.1958, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Hg. von Gunzelin/Noerr/Schmid. Band 18: Briefwechsel 1949-73, o.O., o.J.

4 Horkheimer, Max: Kritische Theorie gestern und heute, o.O., o.J.

5 Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, 5.Aufl., München 1997.

6 Albrecht, Clemens (Hsg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M./New York 1999.

7 Callinicos, Alex: Die revolutionären Ideen von Karl Marx, Frankfurt a.M. 1998.

8 Wiggershaus a.a.O. S.211.

9 Horkheimer: Traditionelle, a.a.O. S.143.

10 Ebenda S.154.

11 So schreibt Alex Callinicos, Marxist und Professor an der Universität in York: Die „Idee der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse steht … im Zentrum von Marxens Denken, in: Callinicos, a.a.O. S.200.

12 Wiggershaus a.a.O. S.65.

13 Wiggershaus a.a.O. S.63.

14 Marx, Karl: Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx, Karl/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, Berlin(Ost) 1985, S.18.

15 Horkheimer, Kritische Theorie heute, a.a.O. S.164.

16 Ebenda S.164.

17 Ebenda S.166.

18 Ebenda S.166.

19 Ebenda S.175.

20 Ebenda S.165.

21 Ebenda S.165.

22 Ebenda S.171.

23 So wuchs die Weltproduktion 1963-73 noch um 6 Prozent, 1973-90 aber nur noch um 2.6 Prozent und in den Jahren 1990-96 nur noch um 1.4 Prozent. Vgl. Cliff, Tony: Die Ursprünge der Internationalen Sozialisten. Die Weiterentwicklung der Theorien Trotzkis nach 1945, Frankfurt/M. 2000, S.65.

24 Eine solche Erklärung bot die Theorie der „Permanenten Rüstungswirtschaft“, die von Tony Cliff und Michael Kindron in den 50er und 60er Jahren entwickelt wurde, nachzulesen in Cliff, a.a.O. S.53-65.

25 MEW 26.2, S.568, zitiert nach Callinicos, a.a.O. S.279.

26 Marx, Karl: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Berlin(Ost) 1988, S.148.

27 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1987, S.35.

28 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin 1972, S.308.

29 Zitiert nach Wiggershaus, a.a.O. S.63.

30 Marx, Karl/Friedrich Engels: Werke. Band 3, Berlin(Ost) 1983, S.27.

31 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin 1972, S.389.

32 Horkheimer: Kritische Theorie heute, a.a.O. S.162.

33 Horkheimer: Traditionelle a.a.O. S.194.

34 Horkheimer, Kritische Theorie heute, a.a.O. S.173 und 175.

35 Horkheimer, Kritische Theorie heute, a.a.O. S.174.

36 Horkheimer, Kritische Theorie heute, a.a.O. S.172.

37 Ebenda S.172.

38 Ebenda S.171.

39 Ebenda S.166.

40 Ebenda S.164.

41 Vgl. den Abschnitt über Max Horkheimer in dem Biographien-Panorama in: Wiggershaus, a.a.O. S.55ff.

42 Horkheimer: Kritische Theorie heute, a.a.O. S.172.

43 Ebenda S.166.

44 Horkheimer–Adorno, a.a.O. S.443.

45 Ebenda S.443.

46 S. 440. Eine in den 30er Jahren von Marcuse ebenso verwendete „Klausel“ in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1965, S.109.

47 Horkheimer–Adorno, a.a.O. S.443.

48 Horkheimer: Kritische Theorie heute, a.a.O. S.164.

49 Horkheimer–Adorno, a.a.O. S.443.

50 Horkheimer–Adorno, a.a.O. S.437.

51 Ebenda S.439.

52 Horkheimer: Traditionelle, a.a.O. S.155f.

53 Horkheimer–Adorno, a.a.O.S.448.

54 Wiggershaus, a.a.O., S.479.

55 Wiggershaus, a.a.O. S.729.

Quellen- und Literaturverzeichnis:

Quellen:

Horkheimer, Max: Kritische Theorie gestern und heute, o.O., o.J.

Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: Kritische Theorie II, o.O., O.J.

Horkheimer, Max – Theodor W.Adorno, Montagnola, 27.09.1958, in: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Hg. von Gunzelin/Noerr/Schmid. Band 18: Briefwechsel 1949- 73, o.O., o.J.

Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1965

Marx, Karl: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Berlin(Ost) 1988

Marx, Karl/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, Berlin(Ost) 1985

Marx, Karl/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin(Ost) 1972

Marx, Karl/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1987

Literatur:

Albrecht, Clemens (Hsg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M./New York 1999.

Callinicos, Alex: Die revolutionären Ideen von Karl Marx, Frankfurt a.M. 1998.

Cliff, Tony: Die Ursprünge der Internationalen Sozialisten. Die Weiterentwicklung der Theorien Trotzkis nach 1945, Frankfurt/M. 2000

Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, 5.Aufl., München 1997