Von Marcel Bois und Florian Wilde, veröffentlicht unter dem Titel „Durch gute Arbeit überzeugen“ in marx21
Um die Jahreswende 1918/19 versammelten sich 127 Delegierte aus 56 Städten in Berlin, um die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) zu gründen. Viele der Anwesenden waren vorher in der SPD organisiert gewesen. Doch in Folge fundamentaler Enttäuschungen mit der Sozialdemokratie hatte sich die bis zum Ersten Weltkrieg einheitliche deutsche Arbeiterbewegung gespalten. 1914 hatte die SPD die internationalistischen Grundprinzipien ihrer bisherigen Politik verraten und den deutschen Kaiser dabei unterstützt, sich am Ersten Weltkrieg zu beteiligen. Mit der ideologischen Hilfe der SPD konnte die Regierung Millionen Arbeiter in das vierjährige Massenmorden des Krieges schicken.
Als im November 1918 die Revolution in Deutschland den Kaiser verjagte, den Krieg beendete und die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft auf die Tagesordnung setzte, verbündete sich die SPD mit den alten kaiserlichen Generälen, um die Revolution niederzuschlagen. Tausende linke Arbeiter und ehemalige sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden von reaktionären Freikorps mit Unterstützung der SPD ermordet. Aber die SPD verhinderte nicht nur eine sozialistische Umgestaltung Deutschlands, sondern torpedierte auch den Aufbau einer wirklich demokratischen Republik, indem sie das Verbleiben monarchistischer Generäle, Beamter und Richter in ihren alten Funktionen ermöglichte.
1920 schloss sich die KPD mit dem linken Flügel der USPD – ebenfalls eine Abspaltung von der Sozialdemokratie – zusammen und wurde so zu einer Massenpartei. Hier trafen zehntausende ehemalige Sozialdemokraten mit durch die Kämpfe gegen den Krieg und für eine sozialistische Räterepublik radikalisierten Linken zusammen. Eine Hauptfrage war: Wie soll sich das Verhältnis zur SPD, die alle Prinzipien der Arbeiterbewegung verraten und sogar die bekanntesten Köpfe der Linken hatte ermorden lassen, aber immer noch über einen dominierenden Einfluss in den Gewerkschaften und die meisten Arbeiterstimmen bei Wahlen verfügte, gestalten?
Eine Antwort auf diese Frage sollte die ab Mitte 1921 entwickelte Einheitsfrontpolitik geben. Grundannahme dieser Politik war, dass die KPD die Gesellschaft nur dann verändern könnte, wenn sie dafür die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterschaft hatte. Aber trotz allen Verrats orientierte sich diese Mehrheit weiterhin an der Sozialdemokratischen Partei, versprach sich von ihr konkrete Verbesserungen der in der Nachkriegszeit katastrophalen sozialen Lage. Was also tun? Bisherige Versuche, sozialdemokratische Anhänger durch Beschimpfungen der SPD, durch ständiges Vorhalten ihres Verrates oder durch eine abstrakte Gegenüberstellung kommunistischer und sozialdemokratischer Prinzipien für die KPD zu gewinnen, waren bereits gescheitert.
Mit der Einheitsfrontpolitik wurde ein anderer Weg versucht. Die Idee der Kommunisten war: Wenn die Anhänger der SPD glauben, dass ihre Partei für sie eintreten und echte Verbesserungen für sie durchsetzen wird, muss die KPD in der Praxis zeigen, dass sie als einzige Kraft Willens und in der Lage ist, solche Verbesserungen wirklich durchzusetzen. Wenn also die SPD etwa höhere Löhne fordert, muss die KPD die SPD offiziell auffordern, einen gemeinsamen Kampf für dieses Ziel zu führen, und zwar vor allem durch gemeinsame außerparlamentarische Aktivitäten. Weigert sich die SPD auf dieses Angebot zur Zusammenarbeit einzugehen, entlarvt sie sich auf diese Weise selbst vor ihren Anhängern. Ist sie zu gemeinsamen außerparlamentarischen Aktionen bereit, werden eben diese Aktionen den Arbeitern zeigen, dass sie durch ihre eigene Kraft viel mehr bewirken können als durch das passive Abwarten parlamentarischer Entscheidungen.
Zentrales Element der kommunistischen Einheitsfrontvorstellungen war die radikalisierende Dynamik von außerparlamentarischen Kämpfen und Streiks. Nicht die Radikalität einer Forderung an sich galt daher als wesentliches Kriterium, sondern das Aufstellen von Forderungen, die nur in gemeinsamer Aktivität in der Form breit angelegter Arbeiterkämpfe gegen Staat und Bürgertum durchsetzbar waren. Auch wenn sich die Einheitsfrontangebote formal an die Spitze der SPD richteten, zielten sie vor allem auf die Entfachung einer Selbstaktivität der Basis in gemeinsamen Kämpfen ab.
So meinte auch der damalige KPD-Vorsitzende Ernst Meyer: „Nicht ein paar Forderungen mehr oder weniger entscheiden heute über die Stärke der Bewegung. Viel wichtiger ist es, dass selbst die bescheidensten Forderungen durch die eigene Aktion der Arbeiterschaft (…) durchgesetzt werden.“ Das Angebot zur Zusammenarbeit an die SPD bedeutete für die Kommunisten keineswegs die Aufgabe ihres eigentlichen Zieles: Der Sturz des Kapitalismus und der Aufbau einer sozialistischen Räterepublik. Im Gegenteil: Gerade durch die Einheitsfront sollte die Gewinnung einer Mehrheit der Arbeiterklasse für diese Ziele ermöglicht werden. Zwingende Voraussetzung einer erfolgreichen Einheitsfrontpolitik war daher die unbedingte organisatorische und politische Unabhängigkeit der KPD, was auch die Möglichkeit harter öffentlicher Kritik an den Fehlern der SPD während einer gemeinsamen Kampagne mit einschloss.
Eine wichtige Möglichkeit zur Erprobung der neuen Politik bot ein großer Eisenbahnerstreik im Frühjahr 1922. Gegen den Willen des sozialdemokratisch dominierten Deutschen Eisenbahner-Verbandes (DEV, Vorläufer der heutigen Transnet) rief die nicht im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) vertretene „Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahnbeamter und Angestellter“ zum Streik für deutliche Lohnerhöhungen auf. Obwohl die KPD eigentlich für viel radikalere Forderungen als die Streikenden eintrat, unterstützte sie diese vorbehaltlos und forderte die Führungen von SPD, ADGB und DEV auf, gemeinsam Maßnahmen zur Unterstützung der Streikenden zu beraten. Die angesprochenen Organisationen lehnten ab, dieser erste bedeutende Beamtenstreik brach nach einer Woche zusammen. Aber die KPD konnte vor aller Augen demonstrieren: Wenn es um die Durchsetzung konkreter Verbesserungen von abhängig Beschäftigten geht, sind die Kommunisten bereit, ihre Feindschaft der SPD gegenüber zurückzustellen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Und: Wenn es hart auf hart kommt, sind die Kommunisten die einzigen, auf die Streikende sich verlassen können.
Im Sommer 1922 kam es nach der Ermordung des jüdischen deutschen Außenministers Walter Rathenau durch rechtsradikale Fanatiker zu einer riesigen Protestwelle. Sofort forderte die KPD alle anderen Arbeiterorganisationen zur Beratung gemeinsamer Abwehrmaßnahmen gegen den rechten Terror auf. Unter dem Druck von weit über einer Million Demonstranten auf den Straßen stimmten SPD und ADGB dem zu. So konnte schließlich ein „Berliner Abkommen“ mit den anderen Arbeiterorganisationen erzielt werden, in dem ein scharfes Vorgehen gegen die extreme Rechte und eine Amnestie inhaftierter Arbeiter gefordert wurde. Einen Generalstreik zur Erkämpfung dieser Ziele konnte die KPD zwar nicht durchsetzen, wohl aber einen weiteren Aktionstag, bei dem erneut Hunderttausende auf die Straße gingen. Auch in dieser Kampagne hatte die Partei zeigen können, dass sie – die eigentlich die Überwindung des Parlamentarismus durch eine Räterepublik anstrebte – die Kraft war, die am entschiedensten für die Verteidigung der Republik gegen die extreme Rechte eintrat und bereit war, für dieses Ziel mit den anderen linken Kräften zusammen zu kämpfen.
Tatsächlich vergrößerte diese Politik den Einfluss der KPD. So stieg im ersten Jahr der Anwendung der Einheitsfronttaktik die Mitgliedszahl der Partei um fast 44.000 auf knapp 225.000 an. Der wachsende Einfluss schlug sich auch in Wahlergebnissen nieder: Bei den Neuwahlen zum sächsischen Landtag im November 1922 konnten die Kommunisten ihren Stimmanteil im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppeln.
In der jungen KPD, einer überaus demokratischen und diskussionsfreudigen Organisation, war die Einheitsfrontpolitik Gegenstand heftiger Debatten. Während ein „rechter Flügel“ für stärkere Zugeständnisse an die SPD warb, um noch mehr gemeinsame Aktionen entfalten und darüber die Arbeiter radikalisieren zu können, warnte ein starker „linker“ Flügel vor der Aufgabe eines eigenständigen kommunistischen Profils. Die Kunst, weder in eine zu starke Anpassung an die SPD noch in eine Selbstisolierung zu verfallen, blieb die große Herausforderung bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik.
Dieses Kunststück gelang der KPD-Führung noch einmal 1926, in der Kampagne zur Fürstenenteignung, dem erfolgreichsten Einheitsfrontprojekt der 20er Jahre. Die Partei hatte einen Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten initiiert und ein Angebot an SPD- und Gewerkschaftsführung unterbreitet, sich daran zu beteiligten. Unter dem Druck ihrer Mitgliedschaft stimmten beide zu. Obwohl alle anderen Parteien zur Stimmenthaltung aufgerufen hatten, wurden lediglich eine halbe Million Nein- und ungültige Stimmen abgegeben. 14,4 Millionen Wähler stimmten hingegen mit Ja – das waren 3,5 Millionen Stimmen mehr als SPD und KPD gemeinsam bei der letzten Reichstagswahl erhalten hatten. Deutlich zeigte sich, welchen immensen Druck die Arbeiterparteien aufbauen können, wenn sie für die Durchsetzung einer konkreten Forderung gemeinsam außerparlamentarisch agieren.
Zu den Autoren:
Marcel Bois ist Historiker und Redakteur von Marx21. Er ist Mitglied des Sprecherrats der Historischen Kommission beim Vorstand der Partei DIE LINKE und arbeitet im Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit. Florian Wilde ist linker Aktivist und Historiker. Er ist ebenfalls Mitglied des Sprecherrats der Historischen Kommission beim Vorstand der Partei DIE LINKE und arbeitet im Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit.