Vom 4. bis 7. Oktober findet in Rio de Janeiro der 2. Weltkongress von IndustriALL Global Union, dem Weltverband der Industriegewerkschaften, statt. 1.285 gewählte Delegierte aus 101 Ländern sowie zahlreiche Gäste nehmen teil. 2012 aus einer Fusion des Internationalen Metallgewerkschaftsbundes mit den internationalen Föderationen der Chemie-, Energie-, Bergbau- und Fabrikarbeiterverbände sowie den internationalen Vereinigungen der Textil-, Leder- und Bekleidungsarbeiter hervorgegangen, handelt es sich wohl um den bisher ambitioniertesten Versuch, dem Kapital mit einer transnationalen gewerkschaftlichen Organisierung entlang der industriellen globalen Wertschöpfungsketten entgegenzutreten.
Lula begrüßt Kongress
Eröffnet wurde der Kongress durch Berthold Huber, dem Präsidenten von IndustriALL, mit einem klaren Statement zur Flüchtlingsfrage: „Heute gilt unsere Solidarität und Sympathie den Menschen, denen Flucht als einziger Ausweg aus ihrem Elend erscheint. Nur in einer gerechten Weltordnung finden Terroristen und Rassisten keinen Nährboden mehr. Dafür kämpfen Gewerkschaften gestern, heute und morgen. Unsere Vision ist eine Welt, in der die lebendige Arbeit als zumindest gleichberechtigt neben dem Kapital geachtet wird. Wir werden nicht akzeptieren, dass Unternehmen globale Rahmenbedingungen unterzeichnen, aber in der Realität nicht umsetzen. Dringend notwendig ist es für die Gewerkschaften, Frauen und junge Menschen stärker für sich zu gewinnen.“
Eigentlicher Star des Abends war aber der mit frenetischem Applaus begrüßte ehemalige Metallarbeiter und spätere Präsident Brasiliens, Luiz Ignazio Lula da Silva. Während seiner Rede eher staatsmännisch ausfiel, den eigenen Werdegang beleuchtend und seine Rolle als Politiker auf dem Parkett der internationalen Diplomatie betonend – wobei er es nicht lassen konnte, seine „Freundin Angela Merkel“ hervorzuheben –, fand sein Vorredner, der Präsident der brasilianischen Metallarbeiter-Gewerkschaft CNM-CUT, in einer sehr kämpferisch vorgetragenen Rede deutlichere Worte : „Schon Marx und Engels wussten: Diejenigen, die uns ausbeuten, die immer reicher werden, dass sind die großen Konzerne, die davon profitieren, dass Millionen für sie arbeiten. Wir wollen die Unterdrückung und Ausbeutung beenden. Sie wollen die Autonomie der Arbeiterklasse zerstören. Dagegen setzen wir die Solidarität und den Kampf um die Demokratie. Wir haben in Brasilien die Diktatur gestürzt und die Demokratie erkämpft. Unsere Regierung hat in 13 Jahren 36 Millionen Menschen aus der Armut geholt, für die Gleichstellung der Frauen gekämpft, und für die Rechte der Arbeiter. Lula selbst kommt aus der Armut, und er wurde Präsident und bekämpfte die Armut. Dafür wollen sie jetzt Lula ins Gefängnis werfen. Seit 1977 versuchen sie, ihn zu kriminalisieren. Was wir heute in Brasilien erleben, ist der Klassenkampf. Der ist nicht Geschichte, der ist aktuell. Aber Angriffe auf die Arbeiter sind für uns nichts Neues, und wir wissen uns zu wehren. Wir müssen auf die Strasse gehen, wir müssen unsere Rechte verteidigen, wir müssen unsere Geschichte verteidigen, wir müssen Lula verteidigen. Das Kapital will uns zerstören. Wir brauchen den Internationalismus heute mehr denn je. Es lebe der Kampf der Arbeiterklasse, es lebe IndustriALL.“
Die Ziele von IndustriALL
Bei der Gründung der bisher in Deutschland noch wenig bekannten IndustriALL waren 2012 fünf übergeordnete Ziele beschlossen worden: Die Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht durch Mitgliedergewinnung und den Aufbau handlungsfähiger transnationaler Netzwerke innerhalb der multinationalen Konzerne sowie innerhalb ganzer Branchen; die Schwächung der Macht des globalen Kapitals durch globale Rahmenverträg; die Verteidigung der Arbeitnehmerrechte; der Kampf gegen prekäre Beschäftigung; und das Ringen um eine sozial und ökologisch nachhaltige Beschäftigung in der Industrie.
Kampagnen- und Organisierungsgewerkschaft
Mit dem Selbstverständnis einer weltweiten Kampagnen- und Organisierungsgewerkschaft führte der Weltverband in den vergangenen Jahren eine Reihe internationaler Kampagnen zur Verteidigung von Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten durch, deren vehementeste die etwa gegen den extrem gewerkschaftsfeindlichen Bergbau-Riesen Rio Tinto war.
In der Automobilindustrie konnten mit neun Weltkonzernen Abkommen über die formelle Anerkennung von transnationalen gewerkschaftlichen Netzwerken durch die Konzerne erzielt werden. Ähnliches gelang in einigen Ölkonzernen, und vereinzelt auch in anderen Branchen. Oft konnten aber nur unverbindliche Absichtserklärungen der Kapitalseite erwirkt werden.
Nach den Brandkatastrophen in südasiatischen Bekleidungsfabriken handelte IndustriALL rechtsverbindliche Brandschutzabkommen mit 200 Modekonzernen und einer Gültigkeit für 1.600 Textilfabriken aus. Parallel wird mit der „Living Wage Campaign“ versucht, ein globales Abkommen über Mindestlöhne mit den multinationalen Bekleidungs-Konzernen zu erzielen. Dahinter steht die Annahme, dass sie als Einkäufer am oberen Ende der Zuliefererkette den größten Einfluss auf die Verteilung der Wertschöpfung entlang dieser Kette haben und daher im Fokus gewerkschaftlicher Mindestlohnkampagnen stehen müssen. Ein Ansatz, der im Rechenschaftsbericht der Organisation als „bahnbrechend“ und „wegweisend für die Zukunft“ beschrieben wird.
Parallel zum Aufbau von transnationalen Strukturen in Konzernen und Branchen wird auch die regionale gewerkschaftliche Vernetzung vorangetrieben. Hier nutzt IndustriALL seine Ressourcen, um Workshops und Seminare zum Aufbau gewerkschaftlicher Organisierung und Schulungen für Frauen und junge Arbeiter etwa im Nahen Osten, Lateinamerika oder im südlichen Afrika durchzuführen.
Alte Gräben überwinden
In ihrem Rechenschaftsbericht vermeldet der Verband etwa 600 Mitgliedsorganisationen, die 50 Millionen Beschäftigte in 140 Ländern vertreten. Der organisatorische Schwerpunkt liegt dabei in Europa, wo 40% der Beitragszahler leben.
Dass die IG Metall eine treibende Kraft hinter IndustriALL ist, lässt sich schon daran absehen, dass sie nicht nur mit Berthold Huber den bisherigen Präsidenten stellte, sondern mit Jörg Hofmann voraussichtlich auch den künftigen. Während die IG Metall Mitgliedsorganisation des Internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC ist, gehören andere IndustriALL-Mitglieder zum konkurrierenden WFTU. Zu den großen Potenzialen von IndustriALL gehört, dass hier über die noch aus der Zeit des kalten Krieges stammenden Gräben der verfeindeten Weltgewerkschaftsverbände hinweg eine konkrete Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungsketten erprobt wird.
Neue globale Sozialpartnerschaft?
Die stellenweise durchaus radikal anmutende „Kampf dem Kapital“-Rhetorik darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der strategische Horizont des Industriegewerkschafts-Verbandes nicht über die Durchsetzung einer die gesamten Wertschöpfungsketten erfassenden, neuen globalen Sozialpartnerschaft hinausreicht. Als wichtigstes Instrument zur Bekämpfung der Macht des Kapitals werden Globale Rahmenverträge angesehen. Immer wieder betont der Rechenschaftsbericht die Notwendigkeit, die „großen multinationalen Konzerne auf globaler Ebene in einen Dialog“, bzw. in „durchsetzbare Vereinbarungen einzubinden“. Nach Verbindungen zwischen konkreten Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus mit einer Perspektive seiner Überwindung und Ersetzung durch eine von den Arbeitnehmern selbst nach ihren Interessen und Bedürfnissen gestalteten, sozialistischen Gesellschaft sucht man vergebens.
Auch sollten einige Erfolgsmeldungen des Verbandes durchaus kritisch geprüft werden: Reine Absichtserklärungen der Konzerne sind aller Erfahrung nach wenig wert, und dass es im Rahmen der groß angelegten Kampagne zur Organisierung prekär Beschäftigter im letzten Jahr gelungen sei, 34.000 Prekäre zu organisieren und für 10.000 von ihnen unbefristete Verträge durchzusetzen, ist im Weltmaßstab wohl kaum als echter Erfolg zu werten.
Erfahrungen auswerten
In den kommenden Tagen sollen auf dem Kongress die Erfahrungen der ersten vier Jahre von IndustriALL ausgewertet, eine neue Leitung gewählt und ein Aktionsplan und eine politische Entschließung verabschiedet werden. Während der Aktionsplan wenig Neues gegenüber den bereits bei der Gründung beschlossenen fünf Schwerpunktthemen enthält, finden sich in der Entschließung bspw. sehr klare Positionen gegen jede Stigmatisierung von Flüchtlingen, für das Grundrecht auf Asyl und zur Notwendigkeit, als Gewerkschaft eindeutig auf der Seite der Geflüchteten und gegen Rechtsextreme und Rechtspopulisten zu stehen.
Die Wahl auf Rio als Veranstaltungsort fiel nicht zufällig, sondern ist als Ausdruck der Solidarität von IndustriALL mit der von der Gewerkschaft CUT wesentlich mitgetragenen Arbeiterpartei Brasiliens (PT) zu verstehen, deren Regierung durch einen kalten Putsch der Oligarchie gestürzt wurde und deren ehemaligen Kabinettsmitgliedern, darunter ex-Präsident Lula, Prozesse wegen Korruption und Haftstrafen drohen. So stellte Berthold Huber bei seiner Begrüßung auch klar: „Lula ist immer einer von uns gewesen, und er bleibt es auch!“
Von Florian Wilde, für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Rio de Janeiro