(Rosalux) Alltag im Ausnahmezustand.
Zur aktuellen Situation in Rojava (Syrien) und Sindschar (Irak). Diskussion zur Eröffnung der Fotoausstellung «Back to Rojava».
«Die Anerkennung der Differenz ist Voraussetzung für ein gemeinsames Projekt» (Martin Glasenapp, medico international)
Bericht von Florian Wilde.
25 Fotografien verwandeln das Foyer der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Zeit in einen Raum der visuellen Auseinandersetzung mit der Lage in Rojava, Nordsyrien: Dem Kampf an der Front, dem Wiederaufbau dahinter und der Situation der mehr als eine Million Flüchtlinge in der Region. «Vor allem sind es Fotos des Alltags, von Momenten der Trauer, der Freude, des Lebens. Sie handeln von der Frage, wie das erreichte gesichert und das gesicherte lebenswert gemacht werden kann», so Martin Glasenapp von der Hilfsorganisation medico International bei der Eröffnung der Ausstellung. Über hundert TeilnehmerInnen kamen am 8. Dezember zu einer Vernissage und Eröffnungsveranstaltung zu der Fotoausstellung «Back to Rojava – Bilder eines Aufbruchs» in die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Eröffnet wurde die Vernissage durch Dr. Florian Weis, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Stiftung. Er wies darauf hin, dass es gerade in diesem Jahr, dass für Linke durch viele deprimierende und schwierige Fragen – vom Aufschwung der AfD über die Anschläge in Paris bis zum Krieg in Syrien – gekennzeichnet war, sehr erfreulich wäre, dass sich die Ausstellung mit einem echten Hoffnungsschimmer befasst: der Revolution in Rojava. Der Fotograf Mark Mühlhaus, berichtete, dass die Bilder während seiner Reisen in die kurdischen Gebiete in Syrien und der Türkei zwischen dem August 2014 und Mitte 2015 entstanden seien. Sie zeigen die Situation von Menschen, die fliehen mussten, in die Türkei oder nach Rojava, und von der Zerstörung und dem Wiederaufbau der Symbolstadt Kobanes. Die Idee der Ausstellung sei, aufzuklären, und zur Solidarität aufzufordern.
Auf einer anschließenden Podiumsveranstaltung diskutierten Martin Glasenapp (medico international), Mark Mühlhaus (attenzione photographers) und Leyla Boran (Juristin und Menschenrechtsaktivistin) über «Alltag im Ausnahmezustand». Stefanie Kron (Rosa-Luxemburg-Stiftung) moderierte die Diskussion.
Martin Glasenapp beschrieb die Situation in Rojava als weiterhin prekär: Das dortige Selbstverwaltungsexperiment stehe unter weiterhin existenzieller Bedrohung durch radikale Islamisten und durch die Türkei. Trotzdem sei es momentan eher in Ausdehnung begriffen, und würde zudem durch eine de facto Garantie der USA geschützt, “auch wenn Linke das nicht gerne hören”. Rojava sei die einzige Region in Syrien, in die Flüchtlinge momentan zurückkehren würden. Wenn es aber nicht gelänge, die materielle Situation der Bevölkerung zu bessern, sei auch der demokratische Aufbruch langfristig gefährdet.
Leyla Boran, die gerade von einer Dokumentationsreise in die Shengal-Region im Nordirak zurückkehrte, berichtete von der zentralen Rolle der kurdischen Befreiungsorganisation PKK bei der Befreiung Shengals. Die Region wurde im August 2014 von den Milizen des so genannten Islamischen Staates überfallen, die dort lebende yezidische Bevölkerung ermordet, entführt oder vertrieben. Zehntausende Yeziden und Yezidinnen damals waren unter dem Schutz der PKK nach Rojava geflohen. Leyla Boran berichtete, wie sie sich dort selbst organisierten und eigene Volksverteidigungskräfte und Frauenverteidigungseinheiten nach dem Modell Rojavas aufbauten. Masoud Barzani, der sich trotz Ende seiner Amtszeit Neuwahlen verweigert und weiterhin als Präsident der kurdischen Region im Nordirak fungiert, würde die Rolle der selbstorganisierte Yeziden und der PKK bei der Befreiung Shengals leugnen, und eine Rückkehr von Geflüchteten, die beim Wiederaufbau helfen wollen, verhindern.
Sie führte einen kurzen Film mit einer Grußbotschaft des yezidischen Frauenrates aus Shengal an die Veranstaltung vor. In diesem schilderte die Sprecherin des Rates einige der entsetzlichen Verbrechen des IS an den Frauen. «In der Geschichte waren die yezidischen Frauen niemals organisiert. So wurden wir zu Opfern. Wir danken den Frauen der PKK, die als einzige kamen, um uns zu unterstützen. Wir haben angefangen, uns zu organisieren, unsere Töchter kämpfen heute in der YPJ. Die Frauen aus Shengal werden nie wieder Opfer sein, wir werden künftig gemeinsam mit Frauen aus aller Welt um unsere Freiheit kämpfen».
Mark Mühlhaus berichtete, dass er im Oktober 2014 im türkischen Grenzort Suruc war, eine Stadt mit ca. 50.000 Einwohnern, die 50.000 Flüchtlinge aufgenommen hatte und die wesentlich durch die Linkspartei HDP, deren Leute auch aus Istanbul zum Helfen anreisten, unterstützt würden. Erst vor wenigen Wochen besuchte vor das Yeziden-Camp bei Diyarbakir. Es sei voller Kinder und Frauen, während viele Männer schon auf dem Weg nach Europa seien. Eine Rückkehr in die Heimat sei für viele nicht attraktiv, weil dort alles zerstört ist. Einige wenige hielten sich an der Hoffnung fest, dass sich Shengal in ein demokratisches Selbstverwaltungskanton nach dem Modell Rojavas entwickeln und so künftig wieder ein lebenswerter Ort werden könne. In den Flüchtlingslagern, die er besuchte, kommt von Hilfen aus Europa überhaupt nichts an. Alle Hilfe, die es gibt, würde über HDP organisiert.
In Kobane selbst sei das Ausmaß der Zerstörung unvorstellbar und umfassend, kaum ein Haus stehe noch. Überall liegen Beton-Trümmer, aus denen man keine neuen Häuser bauen kann. Gebraucht würden richtige Bau-Maschinen, die aufgrund der türkischen Blockade nicht über die Grenze können.
In ihrem Schlusswort forderte Leyla Boran die Abschaffung des PKK-Verbotes in Deutschland, denn dieses Verbot würde eine Unterstützung der demokratischen Kräfte in der Region weiterhin behindern, und so indirekt auch dem IS zugute kommen.
Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt der RLS mit medico International, attenzione photographers und dem kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., Civaka Azad. Sie wird in der RLS noch bis zum 26.1., dem Jahrestag der Befreiung Kobanes, zu sehen sein und am 26.1. mit einer weiteren Veranstaltung zur Bedeutung des demokratischen Selbstverwaltungsexperiments in Rojava für die Region abgeschlossen werden.
Die Fotos können gegen eine Spende an Projekte von medico International in Rojava erworben werden. Die Ausstellung kann mit einer Mail an info@medico.de auch für andere Orte günstig erworben werden. Die Veranstalter hoffen, dass vielerorts von diesem Angebot Gebrauch gemacht wird.
Mehr zur Fotoausstellung «Back to Rojava» (Berlin, 8.12.2015 bis 26.1.2016) |
Bericht veröffentlicht auf www.rosalux.de