(neues deutschland)
Die LINKE ist mehr als Wagenknecht.
Florian Wilde zur Debatte über Äußerungen von Sahra Wagenknecht zur Flüchtlings- und Sicherheitspolitik in Deutschland.
Die umstrittenen Äußerungen der LINKE-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht zur Inneren Sicherheit und zur Flüchtlingspolitik führten bei nicht wenigen antirassistischen Aktivisten zu Bekundungen, die LINKE nicht mehr zu wählen oder aus ihr auszutreten. Insbesondere in der jetzigen politischen Situation ist es aber unverantwortlich, mit dem ganzen Projekt einer linken Partei zu brechen, weil einem eine einzelne – fraglos: herausgehobene – Person mit ihren Positionen nicht passt. Eine ganze Partei mit einer einzigen Person gleichzusetzen, ist kein besonders emanzipatorischer Ansatz, sondern reproduziert personalisierte bürgerliche Politikvorstellungen.
Die LINKE steht für einen tiefen historischen Einschnitt: Erstmals seit mehr als einem halben Jahrhundert gelang es, in Deutschland eine plurale sozialistische Partei zu etablieren. Dank ihr kann Kapitalismuskritik im parlamentarischen und medialen Raum überhaupt wieder wahrnehmbar stattfinden. Dank ihr gibt es Ressourcen für soziale Bewegungen und für kritische Inhalte, wie wir sie vorher nicht kannten. Mit ihrem Eintreten gegen Nazis und für Geflüchtete, gegen Neoliberalismus und für eine Stärkung des Sozialen, gegen den blutigen Deal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und für die Solidarität mit Kurdistan ist die Linkspartei zu einer wichtigen Partnerin vieler Bewegungen geworden. Die große Mehrheit der knapp 60 000 Mitglieder und das Programm der Partei ziehen eindeutige Grenzen nach rechts – und treten für offene Grenzen für alle Menschen in Not ein. Im Angesicht des globalen Aufstieges der Rechtspopulisten all das zu verwerfen, weil eine einzelne prominente Vertreterin der Partei die Grenze dessen überschritten hat, was man zu tolerieren bereit ist, ist der Dramatik der aktuellen politischen Situation überhaupt nicht angemessen.
Selbst Wagenknechts schärfste Kritiker werden 80 Prozent der Dinge, die sie sagt, richtig finden. Ihre Talkshowauftritte haben sie zur bedeutendsten Stimme gegen den Neoliberalismus in Deutschland gemacht. Sie erreicht dadurch Millionen, die von linker Politik sonst nicht erreicht werden. Wer dieses Land nach links verändern will, sollte ihr dafür dankbar sein.
Jedoch ist die Art, in der Wagenknecht versucht, um Menschen zu kämpfen, die auf dem Weg zur AfD sind, falsch. Denn sie greift den Diskurs der Rechten opportunistisch auf, statt Rassismus offensiv entgegenzutreten. Ihre Äußerungen zum »Gastrecht« und zu »Kapazitätsgrenzen«, zu einer Mitschuld der von Bundeskanzlerin Angela Merkel verweigerten Grenzschließung am Anschlag von Berlin oder für mehr Polizei weisen Ähnlichkeiten mit Argumenten auf, wie man sie bei der AfD (und fast im gesamten politischen Establishment) findet.
Die bisherige Leitlinie der Linkspartei verschaffte ihr ein Alleinstellungsmerkmal: Nicht Geflüchtete oder offene Grenzen sind das Problem, sondern dass Milliarden Euro für Bankenrettungen ausgegeben wurden, der Reichtum ungleich verteilt ist und Waffen exportiert werden, anstatt Fluchtursachen zu bekämpfen. Daran sollte man festhalten.
Viel kann von der erfolgreichen Kampagne des Demokraten Bernie Sanders im US-amerikanischen Wahlkampf gelernt werden, der es meisterhaft verstand, soziale Fragen von abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen mit einem klaren Antirassismus und Antisexismus zu verbinden. Auch in Deutschland müssen die Kämpfe gegen Ausbeutung (soziale Frage) und Unterdrückung (Rassismus, Sexismus, Homophobie) zusammengeführt und nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Wer erreichen will, dass die LINKE in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik bei ihrem Kurs bleibt, soll – ob als Parteimitglied von innen oder als kritischer Sympathisant von außen – um den Kurs dieser Partei kämpfen.
In der jetzigen Situation aber die Linkspartei – das wohl wichtigste vorhandene Bollwerk gegen Neoliberalismus, Rassismus, Militarismus und die Neue Rechte in Deutschland – durch Boykottaufrufe, Wahlenthaltungen oder Austritte zu demontieren, ist nicht zielführend. Der Kampf um den Charakter der Partei als antirassistische und antikapitalistische Kraft darf nicht vorschnell aufgegeben werden. Eine geschwächte LINKE wird niemandem nutzen, der gegen den Rechtsruck kämpfen will.
Veröffentlich in: neues deutschland, 16.01.2017
Übersetzungen:
Englisch:
https://www.jacobinmag.com/2017/01/die-linke-germany-sahra-wagenknecht-refugees-afd/
Tschechisch:
http://solidarita.socsol.cz/2017/zahranicni/na-obranu-die-linke
Türkisch:
https://kontrasalvo.wordpress.com/2017/01/27/sol-partiyi-almanya-savunmak-florian-wilde/