Am Ratschlag „Der Verkäuferin einen guten Lohn!“ nahmen am 28. Oktober in Kassel etwa 130 Betriebsräte, Gewerkschaftsaktive und Unterstützende teil. Anlass war die aktuelle Tarifrunde im Einzelhandel und die Kündigung des Manteltarifvertrags durch die Arbeitgeber. Angesichts des offensichtlichen Zieles der Arbeitgeber, die Löhne durch die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe zusätzlich zu drücken und die Arbeitsbedingungen weiter zu verschlechtern, ging es auf dem Ratschlag darum, eine Bestandsaufnahme zu machen und sich gemeinsam über parlamentarische und betriebliche Strategien für gute Arbeit und Löhne im Handel auszutauschen. Auf dem Ratschlag trafen Gewerkschaftsaktive sowie Beschäftigte zahlreicher Handelsunternehmen (Zara, Thalia, H&M, IKEA, Amazon, Edeka, Kaufhof, Real, Obi, Toom, Kaufland, Höffner, Real, Marktkauf u.a.) auf Bundes- und Landtagsabgeordnete, auf linke WissenschaftlerInnen und politische StreikunterstützerInnen.
Bestandsaufnahme
Nach Grußworten von Hermann Schaus (DIE LINKE, Mitglied des hessischen Landtages und ehemaliger Geschäftsführer von ver.di Hessen-Süd), Sabine Leidig (DIE LINKE, Mitglied des deutschen Bundestages und ehemalige DGB-Regionsvorsitzende Mittelbaden) und Fanny Zeise (Rosa-Luxemburg-Stiftung) bot das Eröffnungspodium einen Überblick über die schlechte Löhne und prekäre Beschäftigung im Einzelhandel, über parlamentarische Initiativen der LINKEN zu dem Thema und über den Stand der Tarifauseinandersetzung.
Die Politologin Sandra Saeed stellte Ergebnisse der von ihr durchgeführten Studie zu den Arbeitsbedingungen von Frauen im Einzelhandel vor. Dabei wurde deutlich, dass Vollzeitstellen im Handel abnehmen, während Teilzeitstellen und geringfügige Beschäftigung stark zunehmen. Diese haben eine klare geschlechtsspezifische Dimension: 90% der Teilzeitbeschäftigten und 75% der geringfügig Beschäftigten im Handel sind Frauen. Gleichzeitig bekommen Frauen doppelt so häufig wie Männer nur befristete Verträge. Und auch sozialversicherungsbeschäftigte Frauen verdienen im Handel 22,7% weniger als ihre männlichen Kollegen.
Jutta Krellmann, MdB Die Linke, erklärte, dass viele der im Einzelhandel auftretenden Probleme ihre Ursache auf der politischen Ebene, namentlich in der Agenda2010 und der damit vorangetriebenen Leiharbeit und geringfügigen Beschäftigung, haben und ihnen auf der gesetzgeberischen Ebene begegnet werden muss. Sie kündigte an, dass die Linksfraktion im Bundestag auch in der neuen Legislatur parlamentarische Initiativen dazu ergreifen wird.
Anton Kobel, ehemaliger ver.di-Gewerkschaftssekretär im Handel, gab einen Überblick über die gegenwärtige Tarifrunde, die er als „Generalangriff der Arbeitgeber auf die Beschäftigten“ bezeichnete. In Reaktion darauf seien seit Februar im Einzelhandel ca. 25 000 neue Mitglieder in ver.di eingetreten. Sie stärkten die Erwartungshaltung der Aktiven und das Versprechen der Organisation: Wir verteidigen die bestehenden Manteltarife ohne jegliche Verschlechterung und erkämpfen eine spürbare Erhöhung der Gehälter mit sozialer Komponente. Anton schilderte, was für eine im Einzelhandel kaum für möglich gehaltene, bundesweite Streikbewegung sich seit Mai entfaltet hat, die lokal und regional durch phantasievolle Aktionen ergänzt wurde. Er kritisierte aber auch, dass es bei einigen in ver.di eine Bereitschaft zu Zugeständnissen an die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen gäbe, die mit der streikenden Basis nicht abgestimmt sei.
Austausch
Nachmittags standen in drei Workshops die konkreten Erfahrungen der Streikenden und der Austausch darüber im Zentrum des Ratschlages.
So berichtete Rafael Mota-Machado (Betriebsratsvorsitzender H&M Stuttgart-Kö 3a) in dem Workshop „Der Streik muss weh tun. Elemente einer erfolgreichen Streikstrategie im Handel“ von den Erfahrungen mit einer „rein-raus“-Strategie: Die Beschäftigten würden kurzfristig in den Streik treten, den Laden verlassen und die Öffentlichkeit informieren. Sobald der Arbeitgeber Streikbrecher heranschafft, wird die Arbeit wieder aufgenommen, bis die Streikbrecher abgezogen werden. Kaum sind sie weg, treten die Beschäftigten wieder in den Streik. Auf diese Weise entstehen dem Arbeitgeber hohe Kosten und logistische Herausforderungen.
Uwe Hamelmann (Betriebsratsvorsitzender IKEA Braunschweig) schilderte, wie es in seinem Betrieb gelang, immer wieder Streiks durchzuführen und dabei innerhalb eines Jahres die Zahl der ver.di-Mitglieder zu verdoppeln. Mittlerweile sei es so, dass es bei Streiks in seinem Betrieb regelmäßig zu Solidaritäts-Hupkonzerten der IG Metall-Kollegen eines nahegelegenen VW-Werkes käme. Er beschrieb auch, wie wichtig es sei, bisher kaum organisierte Betriebe durch Besuche von ver.di-Betriebsgruppen aus besser organisierten Betrieben zu stärken: So sei es nach zwei solcher Besuche gelungen, die Zahl der Streikenden in einer IKEA-Filiale von drei auf 35 Beschäftigte zu steigern. Ähnliche Erfahrungen schilderte ein Betriebsrat von Karstadt Hannover: „Was für einen Spaß das gemacht hat, als Kollegen von Karstadt aus Göttingen, Braunschweig und Celle zu uns kamen und uns halfen, unseren Betrieb zu umzingeln.“
Maik Oberländer und Thomas Rigoll von der ver.di-Betriebsgruppe Amazon Leipzig berichteten, wie es ihnen erfolgreich gelungen ist, einen neuen und anfangs unorganisierten Betrieb gewerkschaftlich zu organisieren und streikfähig zu machen. Mit anfangs 4 aktiven KollegInnen startete die Betriebsgruppe zunächst niedrigschwellig: Aufkleber wurden erstellt und konkrete Themen, wie die sehr langen Wege zur Kantine in einer dafür zu kurzen Pause, thematisiert. Heute sind sie 600 Personen in ihrer Betriebsgruppe, traten schon mehrfach in den Streik und konnten dabei einigen wirtschaftlichen Schaden verursachen und so Druck auf den Arbeitgeber aufbauen.
Die anderen Workshops beschäftigten sich mit den Themen „Prekär Beschäftigte, wenig Mitglieder, wenig Aktive. Gesetzliche Ursachen und Lösungswege. Erfolgreich organisieren und streiken unter schwierigen Bedingungen“ und „Prekäre Beschäftigung eindämmen, Tarifflucht bekämpfen! Was Betriebsräte & Gesetzgeber tun können“. Auch in ihnen kamen vor allem Betriebsräte und Streikaktive zu Wort, auch hier stand der Austausch über Erfahrungen und Strategien im Zentrum.
Strategien
Auf dem Abschlusspodium berichtete Saniye Kahraman (Streikaktivistin H&M Stuttgart-Bad Cannstatt), wie sie ihren KollegInnen immer zu erklären versucht, dass Streik keine Freizeit, sondern Kampfzeit bedeutet: statt mittags nach Hause zu gehen, sollten die KollegInnen lieber den ganzen Streiktag für Aktionen im Betrieb und in der Öffentlichkeit nutzen. Denn: „Streik ist unser effektivstes Mittel“.
Heiner Schilling (ver.di, Landesfachbereichsleiter Handel Niedersachsen-Bremen) berichtete von den Schwierigkeiten, Herausforderungen und Erfolgen bei dem Versuch, Beschäftigte in einem Flächenland zu mobilisieren. Er wies die Eingangs von Anton Kobel vertretene Kritik an der ver.di-Verhandlungsführung als zu pauschal zurück, betonte aber zugleich die Notwendigkeit von Transparenz und Demokratie in Tarifverhandlungen. Er verzichtete auf abschließende Worte auf dem Podium, denn „das Schlusswort in diesem Konflikt kann nur von den Beschäftigten selbst gesprochen werden.“
Bernd Riexinger (Vors. DIE LINKE und ehem. ver.di-Geschäftsführer Stuttgart) bezeichnete den Konflikt im Einzelhandel als einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikt um Prekarisierung, Niedriglöhne und Umverteilung. Der Angriff der Arbeitgeber müsse zurückgeschlagen und die massive Tarifflucht im Handel gestoppt und gesellschaftlich geächtet werden, weil sie dazu führe, dass die Konkurrenz zwischen den Arbeitgebern auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werde. Hier sei auch der Gesetzgeber gefordert, der die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen durchsetzen müsse, was dem Konflikt auch eine politische Dimension verleiht. Wegen der grundsätzlichen Dimension des Konfliktes müsse zugleich auch branchenübergreifende Solidarität organisiert werden. Um es bedürfe mehr öffentlichkeitswirksamer Aktionen: „Es ist unverständlich, wieso ein Konflikt über die Arbeitsbedingungen von über drei Millionen Menschen medial kaum vorkommt.“ Notwendig sei auch eine bundesweite Demonstration der Beschäftigten, um nach innen das Gefühl zu bekommen, wie viele sie sind, und nach außen das Thema stärker in Medien und Gesellschaft zu transportieren. Bernd Riexinger sprach sich für einen Fokus auf Streiks im Weihnachtsgeschäft aus, um die Arbeitgeber an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen und den Druck zu erhöhen: „Ohne Bündelung und Eskalation gewinnt man keinen Großkonflikt.“ Gleichzeitig sicherte er die Solidarität der LINKEN zu und rief zu Solidaritätsaktionen auf.
Fazit
Aus Sicht der Veranstalter war der Ratschlag ein voller Erfolg. Es war das erste Mal, dass RLS und Linksfraktion einen Ratschlag zu einem branchenspezifischen Konflikt organisierten. Deutlich wurde das starke Bedürfnis der Beschäftigten nach einem Austausch über Erfahrungen und Streikstrategien. Aber immer wieder wurde der Wunsch nach mehr Unterstützung von außen formuliert. Mehrere Redebeiträge hoben hervor, wie wichtig die bisherige Unterstützung durch DIE LINKE, durch ihren Studierendenverband Die Linke.SDS und durch offene Unterstützergruppen gewesen sei.
Das Ziel des Ratschlages, einerseits einen Austausch zwischen Beschäftigten verschiedener Regionen und Betrieben untereinander, andererseits zwischen ihnen und Abgeordneten der LINKEN zu ermöglichen, wurde erreicht. Dazu trug – neben den vielen angereisten Beschäftigtenvertretern und Streikaktiven – die ganztägige Anwesenheit einer Reihe von Abgeordneten bei: Aus der Bundestagsfraktion neben Sabine Leidig und Jutta Krellmann auch Harald Weinberg, Herbert Behrens und Christine Buchholz, aus der hessischen Landtagsfraktion neben Hermann Schaus auch Marjana Schott.
„Streik ist unser effektivstes Mittel“. Bericht über den Ratschlag „Der Verkäuferin einen guten Lohn!“ von Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Linksfraktion im Bundestag am 28.10.2013 in Kassel. Von Florian Wilde und Fanny Zeise. Veröffentlicht auf rosalux.de