[utopie kreativ] Frage: Ihr habt gerade eine Broschüre mit dem Titel „Eine Organisation in Bewegung. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und seine Rolle in der 1968er-Bewegung’“ geschrieben. Warum findet ihr eine Auseinandersetzung mit dem SDS wichtig?
Jan Schalauske: Schon im Zuge der Namensdebatte im Vorfeld der Gründung unseres Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS haben wir uns mit dem SDS auseinandergesetzt und seine Bedeutung und Relevanz kontrovers diskutiert. Daher macht es aus unserer Sicht Sinn, anlässlich des 40. Jahrestages von 1968 sich erneut mit der Geschichte des SDS zu beschäftigen. Dabei dürfen wir allerdings nicht stehen bleiben. Die Geschichte linker Organisierung an der Hochschule nach 1945 mag in der BRD mit dem SDS beginnen, sie ist damit aber keinesfalls zu Ende. Auch die Politik der Verbände der gewerkschaftlichen Orientierung – des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) und des Marxistischen Studentenbundes Spartakus (MSB Spartakus) – in den 1970ern, das Aufkommen von „undogmatischen“ und alternativen Hochschulgruppen in den 1980ern und auch die hochschulpolitischen Organisationsansätze der letzten Jahre sollten für uns Reibungspunkte sein, an denen wir ein eigenständiges zeitgemäßes sozialistisches Verbandsprofil zu entwickeln suchen.
Philipp Kufferath: Die Auseinandersetzung mit der bewegten Geschichte des SDS ist auch deshalb noch spannend, weil eine Vielzahl von politischen, theoretischen und strategischen Fragen dieser Zeit durchaus noch eine Relevanz für heute hat. Die Auseinandersetzung mit der Integrationskraft des Kapitalismus, der Einsatz für einen lebendigen Marxismus und ausführliche Reflexion über das Verhältnis von theoretischer Arbeit und Aktionen sind durchaus aktuelle Fragen, die unter veränderten Bedingungen wieder diskutiert werden müssen.
Frage: Der SDS entstand ja als SPD-naher und keineswegs besonders radikaler Hochschulverband. Wie kam es dann zu seinem Ausschluss aus der SPD 1961?
Jan Schalauske: Als SPD-naher Verband orientierte der SDS mehr und mehr auf die Sozialdemokratie. Dennoch wird häufig übersehen, dass der SDS in seiner Gründungsphase einen der Zeit entsprechenden überparteilichen antifaschistischen Charakter hatte. Eine sozialdemokratische Mehrheit sah sich in einem Verband mit Vertreterinnen und Vertretern der so genannten Zwischengruppen und einer Reihe von KPD-Mitgliedern. Mit der zunehmenden Verschärfung der Blockkonfrontation wurden dann aber sehr bald erste Unvereinbarkeitsbeschlüsse erlassen.
Philipp Kufferath: Die Abspaltung des SDS von der SPD war politisch produktiv und nicht zu vermeiden, weil sich die politischen Konzeptionen von Partei und Studierendenverband rasant in entgegengesetzte Richtungen entwickelten. Die SPD arrangierte sich in den Fronten des Kalten Krieges und strebte um jeden Preis eine Regierungsübernahme an. Dafür wurden letzten Reste antikapitalistischer Programmatik beseitigt. Der SDS hatte sich hingegen seit seiner Gründung 1946 nach links entwickelt. Als linkssozialistischer Verband entdeckte er zu dieser Zeit den Marxismus neu und kritisierte die Anpassungspolitik der SPD. Die Auseinandersetzungen um das Godesberger Programm brachten die endgültige Trennung. Die SPD förderte die Gründung des loyalen Sozialdemokratischen Hochschulbundes als Konkurrenz und schloss den SDS und seine Unterstützer aus der Partei aus.
Frage: Welche Politik verfolgte der SDS nach seinem Ausschluss aus der SPD? Welche Strömungen gab es dabei innerhalb des Verbandes?
Philipp Kufferath: Der Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD beraubte den Verband zunächst einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Der SDS wollte in die Partei hineinwirken und mit Hilfe ihrer Verankerung in den Gewerkschaften und ihrer gesellschaftlichen Ausstrahlungskraft die Kräfteverhältnisse verändern. Nun blieb ein strategisches Vakuum, das bis zur Auflösung des SDS nicht wirklich gefüllt werden konnte. Es zwang den SDS aber dazu, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Der SDS wurde der Anziehungspunkt für Studierende und Intellektuelle, die an einer sozialistischen Perspektive festhielten und der Anpassung und Passivität der Sozialdemokratie kritisch gegenüber standen.
Jan Schalauske: Anfangs führte der SDS auf den Bundesdelegiertenkonferenzen und in seiner Zeitschrift „neue kritik“ rege Debatten über sein Selbstverständnis als eigenständige sozialistische Organisation. In den außerparlamentarischen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre gewann er dann zunehmend an Bedeutung. Gerade in den Kämpfen gegen die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg und gegen die Zustände an den Hochschulen spielte der SDS eine tragende Rolle. Die relative Isolation, die der Unvereinbarkeitsbeschluss mit sich brachte, konnte in diesen Kampagnen durch die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, linken Intellektuellen und anderen Hochschulverbänden durchbrochen werden. Die besondere Stellung und Relevanz des SDS muss zudem im historischen Kontext der Bundesrepublik gesehen werden. Nach dem Verbot der KPD gab es in der BRD im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern keine relevante linkssozialistische oder kommunistische Massenorganisation.
Die theoretischen Diskussionen im SDS nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss können im Umfeld der „Neuen Linken“ verortet werden. Inspiriert von Intellektuellen wie Herbert Marcuse, E.P. Thompson oder André Gorz waren die Marx’sche Kapitalismuskritik und Klassenanalyse, eine deutliche antifaschistische Positionierung und radikaldemokratische Einstellungen sowie die Solidarität mit den antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen prägend für den sozialistischen Charakter des Verbandes. Unter dem Eindruck der Blockkonfrontation forderte der SDS zwischen den Fronten des Kalten Krieges eine Außenpolitik des dritten Weges und stritt heftig über das Verhältnis zu den realsozialistischen Ländern. Innerhalb dieser Spannbreite blieb das politische Spektrum des Verbandes heterogen und umfasste mit Radikaldemokraten, Moralisten, Christen und Sozialisten/Kommunisten so ziemlich alle Strömungen, die links von der SPD vorhanden waren, bzw. in den späteren Protestbewegungen eine Rolle spielten.
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Frage: In der Broschüre schreibt ihr: „Der SDS spielte eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Verbreiterung der 68er Bewegung. Er war in der Lage, die Themen des Protestes mit einer allgemeinen antikapitalistischen Orientierung zu verbinden und ihm so eine grundsätzliche Dimension sowie eine auf die Umgestaltung der ganzen Welt gerichtete Perspektive zu verleihen.“ Wie genau arbeitete der SDS in der Bewegung 1967/68 und wie gelang es ihm dabei, antikapitalistische Positionen zu verbreiten?
Jan Schalauske: Grundsätzlich ist an dieser Stelle anzumerken, dass der SDS, der als ein wichtiger Motor der 68er Bewegung bezeichnet werden kann, diese Bewegung natürlich nicht im Alleingang hervorgebracht hat. Die Genese von 1968 lässt sich nur durch eine Analyse der historischen Bedingungen hinreichend erklären. Eingebettet in einen längerfristigen Prozess des sozialen Wandels entwickelte und politisierte sich die Studierendenschaft und der SDS vor dem Hintergrund der Vorbereitung der Notstandsgesetze, der Großen Koalition (ab 1966), der Krise der Universitäten, dem Vietnamkrieg der USA und der Ausstrahlungskraft der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass auch der SDS selbst einer gewissen historischen Dynamik unterworfen war.
Dennoch legte der Verband u.a. durch seine intellektuellen Diskussionen und Analysen sowie die Arbeit in den außerparlamentarischen Auseinandersetzungen den Grundstein für seinen späteren Erfolg.
Philipp Kufferath: Der SDS hatte sich in den sechziger Jahren ein hohes theoretisches Niveau erarbeitet, das durchaus Ausstrahlungskraft auf die einsetzende Protestbewegung an den Universitäten ausübte. Viele Fragen dieser Zeit konnte der SDS mit gut begründeten Argumenten aufgreifen. Seine besondere Virulenz entfaltete er aber durch seine praktische Intervention.
Das Selbstverständnis des SDS betonte die Bedeutung der subjektiven Initiative in besonderer Weise. Gegen die Wirkungsmächtigkeit von objektiven Strukturbedingungen setzte er die praktische Tätigkeit einer Minderheit, um Aufmerksamkeit zu erregen und Debatten zu provozieren. Durch die Vielzahl unterschiedlicher Protestformen – lebendige Demonstrationen, Teach-Ins und Go-Ins an den Universitäten sowie große Kongresse – wurde der SDS als zentraler Akteur der Protestbewegung wahrgenommen, weit über seine nominelle Stärke hinaus.
Die Ermordung Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war ein kritisches Ereignis, das die Proteste rasch ausgreifen ließ. Mit dieser Dynamik wurden auch die losen Organisationsstrukturen des SDS herausgefordert. In den lokalen Aktionszentren spielten seine Aktivistinnen und Aktivisten eine zentrale Rolle, als bundesweite Struktur war der SDS kaum noch handlungsfähig.
Frage: Die 68er-Bewegung in Deutschland fand in dem Kontext einer globalen Revolte statt. Wie bezog sich der SDS auf Ereignisse wie den Prager Frühling, den Vietnam-Krieg und den Mai 68 in Frankreich?
Philipp Kufferath: Das Jahr 1968 wurde ja deshalb zu einer herausragenden Chiffre der Geschichte, weil auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Ereignissen mit höchst unterschiedlichem Entstehungskontext stattfanden, die aber dennoch zusammen einen Wandel der Weltgesellschaft einleiteten. Die Orientierung auf die internationalen Auseinandersetzungen war bedeutend dafür, dass aus vereinzelten Protestaktivitäten eine zusammenhängende Bewegung mit antikapitalistischer Zielsetzung wurde. Mit der Eskalation des Vietnamkrieges radikalisierte sich die internationale Protestbewegung. Neu politisierte Studierende, die möglicherweise durch Missstände an den Universitäten oder aus moralischer Empörung über den Krieg aktiv geworden waren, begannen den Kapitalismus in Frage zu stellen. Der Vietnamkrieg fand in den Erhebungen besondere Beachtung, weil er die zerstörerische Kraft des Imperialismus und den Widerstand dagegen symbolisierte. Der SDS sah durch die Tet-Offensive des Vietcong Anfang 1968 die Analyse bestätigt, dass von den Rändern der Gesellschaft ein revolutionärer Veränderungsimpuls ausgehen könne. Der Vietnamkongress des SDS im Februar 1968 in Berlin wurde mit großer internationaler Beteiligung durchgeführt. Der SDS diskutierte dort, wie der Kampf in der Dritten Welt in den Metropolen unterstützt werden könne.
Auch die anderen internationalen Großereignisse wurden intensiv debattiert und prägten die Ausrichtung des SDS. Vor allem der Prager Frühling und das Vorgehen der Sowjetunion sorgten für lebhafte Kontroversen. Der SDS hatte ohnehin ein eher distanziertes Verhältnis zum „real existierenden Sozialismus“, bezog aber deutlich Stellung gegen den Antikommunismus des Kalten Krieges.
Der Generalstreik im Mai 1968, der Frankreich an den Rand einer Revolution brachte, wurde international gebannt verfolgt. Für den SDS wurde dieses Ereignis zum Ausgangspunkt der Debatte über die Möglichkeit revolutionärer Erhebungen in den Metropolen.
Frage: 1968 wird gerade in Deutschland vor allem als Studierendenbewegung verstanden. Aber die große Zahl proletarischer Jugendlicher, die sich an den Osterunruhen nach dem Attentat auf Dutschke 1968 beteiligten zeigen ebenso wie die „Wilden Streiks“ 1969, dass es auch in Deutschland noch eine andere Dimension der Proteste gab. Wie versuchte der SDS, studentische Proteste mit Arbeiterbewegungen zu verbinden? Wie erfolgreich war er dabei?
Jan Schalauske: Wie schon angedeutet, orientierte der SDS Mitte der 1960er Jahre vor allem in den Auseinandersetzungen mit der Notstandsgesetzgebung auf eine breite Bündnispolitik unter Einschluss des linken Flügels der organisierten Arbeiterbewegung. Die Einschätzung über die Rolle der lohnabhängig Beschäftigten im Kampf für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen war im SDS aber immer auch Gegenstand von Kontroversen. Unter dem Einfluss von Herbert Marcuse gewannen Analysen, nach denen zumindest die Initiative für die Veränderung der Gesellschaft nicht mehr bei den in den Spätkapitalismus integrierten lohnabhängig Beschäftigten verortet wurde, sondern bei Studierenden, Marginalisierten und den Befreiungskämpfen der Dritten Welt, zunehmend an Relevanz.
Im Verlauf der zugespitzten Entwicklungen um 1968 und unter dem Eindruck des „Pariser Mai“, der im Zusammengehen von Studierenden und Arbeiterbewegung in Frankreich seine besondere Qualität entfalten konnte, rückte dieses Verhältnis wieder verstärkt auf die Tagesordnung des SDS. Im folgenden Auflösungsprozess wird diese Umorientierung auch deutlich. Ein Großteil der aktiven Studierenden organisierte sich in Folgeprojekten, wie den K-Gruppen, der Neugründung der DKP und den Verbänden der gewerkschaftlichen Orientierung MSB und SHB oder ging in die SPD. Bei allen zum Teil sehr grundlegenden Unterschieden war diesen Projekten durchaus ein deutlicher Bezug auf die Eigentätigkeit der lohnabhängig Beschäftigten und ihrer Organisationen gemein.
Frage: Warum löste sich die, wie ihr schreibt, „erfolgreichste sozialistische Studierendenorganisation in der deutschen Geschichte“ dann so kurz nach dem Höhepunkt der Proteste 1968 auf?
Jan Schalauske: Das ist natürlich keine einfach zu beantwortende Frage. Hier gibt es nicht die monokausale Erklärung oder gar die eine richtige Strategie, mit der der SDS in jedem Fall Erfolg gehabt hätte. Neben der ansteigenden inhaltlichen Fragmentierung und Zerfaserung des Verbandes geriet der SDS auch an seine genuinen Grenzen. Als Studierendenorganisation konnte es ihm auf dem Höhepunkt der Bewegung 1968 nicht gelingen, über das eigene Spektrum hinaus breite Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen und die Jugendrevolte in eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung zu transformieren. Der männerdominierten und zum Teil patriarchal strukturierten Organisation war es in dieser Situation nicht mehr möglich, sich adäquat geschlechterspezifischen Herrschaftsmechanismen auch im eigenen Verband zu stellen.
Philipp Kufferath: Die Konjunktur der Protestbewegung war eine Herausforderung für die Organisationsstrukturen des SDS. Die losen zentralen Strukturen machten einen gemeinsamen Austausch über die brennendsten Fragen schwierig. Das zentrale strategische Dilemma war die Verbreiterung des Protests vor dem Hintergrund einer gegen die Studierenden gerichteten Stimmung unter der Bevölkerungsmehrheit. Die Notstandsgesetze wurden trotz der Proteste verabschiedet, die Anti-Springer-Kampagne scheiterte an unterschiedlichen taktischen Schwerpunkten. Dadurch war eine erfolgreiche Bündnispolitik, die in einer Zeit nachlassender Proteste unbedingt notwendig gewesen wäre, kaum noch möglich.
In einem weiteren zentralen Punkt konnte der SDS keine gemeinsame Antwort mehr finden. In den sozialen Konflikten von 1968 entwickelte sich auch ein zunehmendes Selbstbewusstsein von Frauen. Diese emanzipatorischen Bestrebungen konnte der SDS nicht in seinen Strukturen verarbeiten. Die berechtigte Kritik an alten Rollenmustern und das fehlende Verständnis, auch die Reproduktionsbedingungen in den Blick zu nehmen, konnte der SDS nicht mehr produktiv aufgreifen.
Frage: Die Revolte von 1968 und auch der SDS selbst hatten immer auch eine stark antiautoritäre Komponente. Wie erklärt ihr, dass sich gerade aus dem SDS die überaus dogmatischen und autoritär strukturierten maoistischen Kleinstparteien der 70er Jahre entwickeln konnten?
Philipp Kufferath: Das antiautoritäre Element bezog sich ja vor allem auf die Abgrenzung von traditionellen Autoritäten. Der SDS trat diesen äußerst selbstsicher entgegen und konfrontierte die Mehrheit mit ihren Zielvorstellungen. Dies war zwar nicht autoritär, hatte aber durchaus voluntaristische Züge.
Die von der antiautoritären Strömung geprägte Ausrichtung des SDS stieß an Ihre Grenzen, als die Protestbewegung nachließ. Die Initiativfunktion hatte den SDS zur zentralen Organisation des Protests gemacht. Das selbstbewusste Vorgehen einer Minderheit hatte die Dynamik der Proteste überhaupt erst möglich gemacht. Trotzdem wurde diese Strategie ab einem gewissen Punkt zum Problem. Den Antiautoritären mangelte es an Konzepten, wie ein Rückgang von Bewegung organisatorisch aufzufangen sei. Das Konzept einer handelnden Avantgarde berücksichtigte nicht genügend die Trägheit von Veränderungen. Von der sozialen Dynamik wurden nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen erfasst, es fehlte eine längerfristige Strategie, wie sich eine radikalisierte Minderheit auf eine reformorientierte, nichtrevolutionäre Mehrheit beziehen könne.
Die verschiedenen Versuche, den zerfallenden SDS zum Kern einer neuen proletarischen Partei zu transformieren, waren im Grunde eine überspitzte Reaktion auf die eigene politische Schwäche. Der Mai 1968 in Frankreich und die wilden Streiks im September 1969 hatten die Arbeiterklasse wieder ins Bewusstsein gebracht. Die Auflösungserscheinungen des SDS weckten bei einem Teil ein Bedürfnis nach festeren Organisationsstrukturen. Die Bildung neuer Parteien war jedoch nur eines von vielen Projekten, das die beteiligten Akteurinnen und Akteure als die jeweilige konsequente und strategisch sinnvollste Fortführung bzw. Überwindung der antiautoritären Bewegung verstanden. Es gab keine gemeinsame Orientierung mehr, sondern eine Vielzahl neuer Widerstandsperspektiven.
Frage: Der neue Hochschulverband der Linkspartei, Die Linke.SDS, stellt sich ja schon mit seinem Namen in die Tradition des historischen SDS. Vom 2.-4. Mai veranstaltet er einen Kongress unter dem Motto „1968 – die letzte Schlacht gewinnen wir!“ Was sind die Zielstellungen des Kongresses und an welcher Stelle kann die Linke an den Hochschulen an die Geschichte des SDS anknüpfen?
Jan Schalauske: Mit der Namensgebung unseres Verbandes soll zweierlei zum Ausdruck gebracht werden: Zum einen eine Orientierung auf das Parteiprojekt der LINKEN und zum anderen eine Verortung in der Geschichte sozialistischer Organisierung an der Hochschule. Das Aufgreifen des Kürzels SDS soll Kontinuität und Erneuerung zugleich bedeuten. Als sozialistisch-demokratischer Studierendenverband verzichten wir bewusst auf die Begriffe „deutscher“ und „Studentenbund“, um deutlich zu machen, dass wir an die linken Diskurse in diesen Bereichen anknüpfen wollen.
In der Kontroverse um die Namensgebung waren sich eigentlich alle Beteiligten in einem positiven Bezug auf die 68er-Bewegung einig. Mit unserem Kongress wollen wir in die geschichtspolitische Debatte über die Bedeutung von 1968 von links intervenieren und Positionen zurückweisen, die 1968 als Geburtsstunde des Terrorismus denunzieren oder die Zeit der rot-grünen Bundesregierung aus biographischer wie politischer Perspektive als legitimes Erbe der Bewegung von damals abfeiern. Dem gilt es eine Diskussion entgegenzusetzen, die die zentralen Emanzipationsbestrebungen der Bewegung für eine befreite Gesellschaft unter veränderten Bedingungen noch heute uneingelöst sieht. Ökonomische Herrschaftsverhältnisse, der Abbau von sozialen und freiheitlichen Rechten, imperialistische Politik sowie verschiedene Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse stehen im globalen Kapitalismus unter anderen Vorzeichen noch immer auf der Tagesordnung.
In der Anfang der 1960er Jahre erschienen Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ analysierte der SDS die Funktion der Hochschule in der Nachkriegsgesellschaft und legte damit einen wichtigen Grundstein für seine spätere politische Praxis. Wir wollen auf dem Kongress darüber diskutieren, wie Eckpunkte einer heutigen Denkschrift aussehen könnten, die die neoliberale Umstrukturierung der Hochschulen im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen thematisiert, um konkrete Ansatzpunkte für eine politische Strategie der Gegenwehr gegen die schreienden Zustände in Hochschule und Gesellschaft zu entwickeln.
Die Fragen stellten:
Marcel Bois, Jg. 1978, Historiker, seit 2005 Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, arbeitet im Gesprächskreis Geschichte der RLS mit und ist einer der Sprecher der Historischen Kommission beim Parteivorstand von DIE LINKE. Er ist Redakteur des Magazins marx21.
Florian Wilde, Jg. 1977, Historiker, seit 2006 Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, arbeitet im Gesprächskreis Geschichte der RLS mit und ist einer der Sprecher der Historischen Kommission beim Parteivorstand von DIE LINKE.
Es antworteten:
Philipp Kufferath, Jg. 1980, studiert Geschichte in Göttingen und schreibt gerade seine Magisterarbeit über „Linkssozialistische Intellektuelle in Westdeutschland“. Letztes Semester organisierte er an der Universität Göttingen ein autonomes Seminar zur politischen Theorie des SDS.
Jan Schalauske, Jg. 1980, Student der Politikwissenschaft an der Universität Marburg und Mitglied im Bundesvorstand von DIE LINKE.SDS. Mitautor von: Dieckmann, Sophie et. al.: Vom SDS lernen heißt… Zur Gründung eines Hochschulverbandes der Neuen Linken, in: Sozialismus, Nr. 4, April 2007, 34. Jg., H. 309, S. 23-28.
Zur Broschüre:
Die Broschüre: „40 Jahre 1968. Die Rolle des SDS – Eine Organisation in Bewegung“ von Florian Butollo, Philipp Kufferath und Jan Schalauske wird im März als Beilage der Zeitschrift Sozialismus veröffentlicht. Sie kostet 4,60 Euro. Über das Bundesbüro von DIE LINKE.SDS ist sie ermäßigt zu einem subventionierten Preis zu beziehen. Sie kostet dann 3 Euro. Bestellungen bitte an: info@1968kongress.de.
Interview mit Philipp Kufferath und Jan Schalauske, Autoren der Broschüre: „40 Jahre 1968. Die Rolle des SDS – Eine Organisation in Bewegung“ durch Marcel Bois und Florian Wilde, veröffentlicht in utopie kreativ