Von Florian Wilde. Veröffentlich in der Zeitschrift Betrieb und Gewerkschaft
Unübersehbar stecken die deutschen Gewerkschaften in einer tiefen Krise. Während immer mehr Beschäftigte von Sozialabbau, Lohneinbußen und Arbeitszeitverlängerungen betroffen sind, Niedriglohnbereiche sich immer weiter ausweiten und eine wachsende Zahl von Beschäftigten in Armut lebt, sinken die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften. In der Konsequenz sind Gewerkschaften immer weniger in der Lage, sinkenden Löhnen, längeren Arbeitszeiten und Betriebsschließungen effektiv entgegenzutreten und werden so für viele Arbeitnehmer immer unattraktiver. Die Ursachen sind vielfältig: fortgesetztes Festhalten an sozialpartnerschaftlichem Denken und Handeln trotz der von Unternehmerseite her längst vollzogenen Aufkündigung des Klassenkompromisses, politische Orientierung eines großen Teils der Gewerkschaftsapparate an der SPD, sich verändernde Strukturen in der Arbeitswelt. Immer mehr Beschäftigte arbeiten in prekären (ungesicherten) Arbeitsverhältnissen, oft genug als Folge von Outsourcing bei relativ kleinen Firmen und geographisch von einander getrennt. Nur noch selten gibt es in diesen Bereichen starke Betriebsräte, geschweige denn aktive Gewerkschaftsgruppen. Gerade dort, wo eine starke Gewerkschaft dringend gebraucht würde, ist sie oft fast nicht mehr vorhanden.
Das amerikanische Beispiel
In den USA, wo die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die Zerschlagung ehemaliger Kernbelegschaften durch immer weiteres Outsourcing früher einsetzte und weiter fortgeschritten ist, stehen die Gewerkschaften schon länger vor der Frage nach angemessenen Gegenstrategien. Der SEIU (Service Emloyees International Union) gelang eine Verdoppelung (!) ihrer Mitgliederzahl seit Mitte der 90er Jahre auf jetzt fast 2 Millionen Mitglieder. Ganz besonders bemerkenswert ist, dass dieses Wachstum sich gerade in den Bereichen vollzog, in denen sich die deutschen Gewerkschaften mit am schwersten tun: unter den am meisten von Outsoursing betroffenen und hochgradig prekarisierten Beschäftigten. Im Reinigungsgewerbe gelang es der SEIU durch das massenhafte Organisieren von meist migrantischen Frauen ohne gültige Papiere – also den vermeintlich Schwächsten der Schwachen in der Gesellschaft – multinationale Konzerne zu einer Umverteilung in Höhe von zig Millionen Dollars zu zwingen. Der Schlüssel für diese Erfolge liegt in der seit den 80er Jahren entwickelten Methode des strategischen „organizing“.
Strategisches Organizing
Ausgangspunkt des organizing ist eine banale Erkenntnis: in Bereichen, in denen Belegschaften sich nicht mehr in einzelnen Betrieben konzentrieren, sondern als Folge von Outsourcing häufig über ganze Regionen verteilt sind, muss die Gewerkschaft wieder selber losziehen, die KollegInnen vor Ort aufsuchen und organisieren. In soweit bedeutet organizing auch eine Rückkehr zu den Ursprüngen gewerkschaftlicher Arbeitsweisen. Ausgangspunkt sind die konkreten Probleme der KollegInnen im Betrieb und die sich daraus ergebenden Möglichleiten von Konflikten. Da gerade dort, wo Menschen relativ vereinzelt arbeiten, ein Gefühl von Kollektivität nicht von selbst entsteht, ist die Schaffung von Räumen, in denen die KollegInnen zusammenkommen, über ihre Probleme diskutieren und gemeinsam mit Gewerkschaftsaktivisten Strategien entwickeln, überaus wichtig. Im Zentrum aller Organizing-Kampagnen steht die Selbstaktivität der Beschäftigten im Betrieb. Ein weiteres wichtiges Element des Organizing ist eine intensive Recherche nach dem Motto: know your enemy – kenne deinen Feind. Um gewerkschaftsfeindliche Unternehmen in die Knie (und damit an den Verhandlungstisch) zu zwingen, ist es notwendig, die Strukturen des Unternehmens genau zu kennen, seine Partner, seine Beziehungen zur Politik, Verwaltung, Medien und Öffentlichkeit zu verstehen. Im Bündnis mit sozialen Bewegungen, der Zivilgesellschaft, anderen Gewerkschaften und sonstigen Bündnispartnern wird versucht, ein Unternehmen sowohl auf der Ebene des Betriebes als auch in der Öffentlichkeit etwa durch medienwirksame Aktionen anzugehen. Häufig kann eine Marktanalyse auch helfen, die zentralen player einer Branche zu identifizieren, um erst mal sie und in ihrer Folge auch andere Unternehmen zu Zugeständnissen zu zwingen.
Die Hamburger Erfahrung
Im Januar 2006 startete ver.di in enger Zusammenarbeit mit der SEIU und UNI (Union Network International, einem globalen Zusammenschluss von Dienstleistungsgewerkschaften) ein Pilotprojekt in Sachen organizing im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe, eine lange Seitens der Gewerkschaft vernachlässigte Branche mit Löhnen von 6,10 Euro in der Stunde und Arbeitszeiten von 250-300 Stunden im Monat. Die Beschäftigten arbeiten über die ganze Stadt verteilt. Betriebsräte gibt es in Wachunternehmen nur selten, und wo es sie gibt, sind sie mangels einer aktiven Basis in den Betrieben oft wenig kämpferisch. Ziel der Kampagne war eine Erhöhung des Organisierungsgrades, die Durchsetzung höherer Löhne und der Aufbau von Betriebsgruppen und perspektivisch neuen Betriebsräten. Monatelang zogen vier ver.di-organizer durch die Stadt, um die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen aufzusuchen. Es gelang der Aufbau eines relativ stabilen hamburgweiten Komitees aktiver SicherheitsmitarbeiterInnen, bei denen die Probleme im Betrieb und beim Aufbau einer starken Gewerkschaft in dieser Branche diskutiert und von dem aus die weiteren Aktivitäten der Kampagne wie Kundgebungen, Arbeiterdelegationen zu den Verhandlungsführern der Arbeitgeber, Pressekonferenzen etc. geplant wurden. Bei all diesen Aktivitäten sollten die KollegInnen selbst im Zentrum stehen. Sie redeten auf Pressekonferenzen und Demonstrationen. Um den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen, bemühten wir uns um den Aufbau eines Unterstützernetzwerkes mit verschiedensten Bündnispartnern und Prominenten. Als besonders wertvoll erwies sich die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten bei den Kunden der Sicherheitsfirmen, also von Konzernen, Banken und Versicherungen. Im laufe eines Jahres konnten einige Ziele erreicht und ein beständig aktiver Kern von KollegInnen aufgebaut werden. Allerdings ist auch klar: Organizing ist kein Zaubermittel. Die erzielten Erfolge lassen aber erahnen, was bei einer systematischen Anwendung von organizing-Methoden möglich wäre.
Emanzipatorisches Potenzial
Mit Sicherheit ließen sich mit einer systematischen Anwendung von organizing-Methoden massiv neue Mitglieder gewinnen. Das emanzipatorische Potenzial von organizing geht aber weit darüber hinaus. Es liegt in einem anderen Verständnis von Gewerkschaft nicht als einer Mitgliedergewerkschaft und schon gar nicht als einer Serviceinstitution, sondern als einer kämpferischen Aktivistengewerkschaft. Einer Gewerkschaft, die sich nicht als Stellvertreterin ihrer Mitglieder begreift, sondern diese zur eigenen Aktivität anleitet.
Organizing als eine Strategie zur Stärkung und zur gleichzeitigen Transformation der Gewerkschaften kann ein Weg aus ihrer Krise sein und sollte von linken GewerkschafterInnen unbedingt forciert werden.
Florian Wilde arbeitete von Januar bis Juli 2006 im ver.di-organizing-Projekt im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe.