Radikale Alternativen zu Neoliberalismus und neuen Rechten

Krisenzeiten waren immer Zeiten einer besonderen Gefahr des Aufschwunges von Parteien der extremen Rechten. So kam der italienische Faschismus 1922 vor dem Hintergrund einer tiefen Krise der italienischen Nachkriegsgesellschaft an die Macht. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 schuf die Voraussetzungen für den rasanten Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus von einer Splitterpartei zu einer Massenbewegung

, deren Stärke und damit Fähigkeit zur konsequenten Bekämpfung der Linken und der Gewerkschaften sie für eine Machtübertragung seitens der deutschen Eliten interessant machte. In Österreich und Spanien griffen in den krisengeschüttelten 1930er Jahren faschistische Kräfte nach der Macht, und auch in England oder Frankreich wuchsen sie.
Gerade das deutsche Beispiel demonstriert, wie sehr faschistische Kräfte von massenhafter Verelendung und Verzweiflung in Krisenzeiten profitieren können, wenn es der Linken nicht gelingt, eine überzeugende positive Alternative aufzuzeigen: Die SPD diskreditierte sich in den Augen vieler ihrer Anhänger und Anhängerinnen selbst, indem sie damals einen brutalen Sparkurs parlamentarisch unterstützte. Vor diesem Hintergrund wurde sie von den Kommunisten als „Hauptfeind“ bekämpft. Ein gemeinsamer Kampf gegen die Nazis kam nicht zustande, die Entwicklung einer überzeugenden sozialistischen Antwort auf die Krise unterblieb.
In den von einem starken Wirtschaftsaufschwung geprägten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb die extreme Rechte in den meisten westeuropäischen Demokratien hingegen marginalisiert. Erst als diese „goldenen Jahre“ des Kapitalismus in den 1970er Jahren durch einen neuen Krisenzyklus mit wieder wachsender Arbeitslosigkeit abgelöst wurden, erstarkte in den 80er Jahren auch die extreme Rechte wieder, so etwa der Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien und der Vlaams Block in Belgien.
Der sich seit den 80er Jahren in Europa durchsetzende Neoliberalismus begünstigte in besonderer Weise ein neues Wachstum der populistischen und extremen Rechten. Massive Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme führten zu wachsender sozialer Verunsicherung bereiter Bevölkerungsteile und machten sie anfällig für Sicherheit versprechende autoritäre Politikangebote. Die neoliberale Ideologie der individuellen Verantwortung für den eigenen sozialen Aufstieg schuf Anknüpfungspunkte für die sozialdarwinistischen Vorstellungen der populistischen und extremen Rechten. Auch der Aufbau einer neoliberalen EU spielte ihnen in die Hände, verlagerte er doch immer mehr Entscheidungen auf eine abstrakte und demokratisch kaum legitimierte supranationale Ebene. Das verlieh sowohl nationalistischen Antworten als auch einer vermeintlich direktdemokratischen Anrufung des „wahren Volkswillens“ neue Attraktivität. Regierungen und Kapital spielten gerne und erfolgreich die rassistische Karte, um Proteststimmungen gegen Sozialabbau umzulenken. Dafür steht exemplarisch die Kampagne der Kohl-Regierung gegen die angebliche „Asylantenschwemme“ Anfang der 1990er Jahre. Damit wurden die in Ostdeutschland entstehenden und gegen die Regierung gerichteten Proteste gegen Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit umgelenkt. Ähnlich agiert heute die griechische Regierung, wenn sie die Anwesenheit von Arbeitsmigranten zur Bedrohung griechischer Arbeitsplätze stilisiert und ihre Internierung als angebliche Überträger ansteckender Krankheiten fordert. Auch die zahlreichen antimuslimischen Kampagnen in vielen europäischen Ländern zielen in diese Richtung. In den 90er und 2000er Jahren gelang es der neuen Rechten vielerorts, die aus sozialer Verunsicherung, dem Gefühl supranationaler Fremdbestimmung und bewusst „von oben“ geschürten, rassistischen und islamfeindlichen Kampagnen resultierenden Ängste aufzugreifen und von ihnen zu profitieren. Das gelang in Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Finnland.
Die gegenwärtige Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise als tiefste ökonomische Verwerfung seit 1929 birgt vor dem Hintergrund eines überall dominierenden Neoliberalismus die große Gefahr eines weiteren Erstarkens der populistischen und extremen Rechten. Deutlich wird diese Gefahr am dramatischen Aufstieg der offen faschistischen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung) in Griechenland. Sie zog bei den Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012 erstmals mit fast 7% in das griechische Parlament ein. Bei Umfragen im September 2012 war sie mit 9% bereits die drittstärkste politische Kraft. Nicht nur ihr rasanter Aufstieg während einer tiefen Wirtschaftskrise erinnert bedrohlich an den der NSDAP nach 1929, sondern auch ihr systematischer Einsatz von Gewalt gegenüber Migranten und Linken.

Gegenstrategien zwischen direkter Konfrontation und linken gesellschaftlichen Alternativen

Wie aber können mögliche Strategien humanistischer, demokratischer und antifaschistischer Kräfte gegen einen Aufschwung der extremen Rechten in Krisenzeiten aussehen? Zum einen ist es erforderlich, sich dem öffentlichen Auftreten der extremen Rechten immer wieder, auf allen Ebenen und mit allen geeigneten Mitteln entgegenzustellen. Diese Strategie erwies sich v. a. in Deutschland als erfolgreich und trug dazu bei, dass hier auf nationaler Ebene keine starke Kraft der populistischen oder extremen Rechten existiert. Das entschlossene Auftreten demokratischer und antifaschistischer Kräfte bewirkte maßgeblich, dass aus temporären und lokalen Erfolgen zunächst der Republikaner und der DVU, später der NPD keine langfristige Etablierung dieser Kräfte auf bundesweiter Ebene erfolgen konnte. Eine Etablierung der rechtspopulistischen PRO-Parteien konnte bisher sogar im Keim erstickt werden. In besonderer Weise als erfolgreich erwies sich dabei das bei den Protesten gegen den zeitweise größten Naziaufmarsch Europas in Dresden sowie bei dem Anti-Islam-Kongressen der PRO-Bewegung in Köln angewandte Konzept von entschlossenen Massenblockaden, die durch breite gesellschaftliche Bündnisse getragenen wurden.
Allerdings darf sich die gesellschaftliche Linke nicht auf direkte Konfrontationen mit der extremen Rechten beschränken, zumal es in vielen europäischen Ländern aufgrund deren Stärke längst zu spät ist, um sie nur auf diesem Wege zurückzudrängen. Zu berücksichtigen ist, dass die populistische und extreme Rechte Antworten auf reale Problemlagen anbietet, die zwar irrational sind und keineswegs zu einer wirklichen Lösung dieser Probleme beitragen werden, die aber solange zugkräftig bleiben, wie von links keine überzeugenden und glaubwürdigen positiven Antworten auf diese Probleme geboten werden. Den Antworten von rechts muss die Linke entgegenhalten, dass die wahren Grenzen nicht zwischen Völkern, Kulturen oder Religionen, sondern – als Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft – zwischen oben und unten verlaufen. Anhand konkreter Beispiele ist aufzuzeigen, dass sich diese sozialen Grenzen zugunsten der abhängig Beschäftigten, prekarisierten oder in die Arbeitslosigkeit gedrängten Bevölkerungsmehrheit verschieben lassen. Dies wird nur durch eine Verbindung von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und linken Parteien in einem Projekt des gemeinsamen Kampfes um eine umfassende soziale und politische Demokratisierung der europäischen Gesellschaften und damit für eine Überwindung des Neoliberalismus und der Diktatur der Märkte gelingen. Nur ein solches gemeinsames Projekt wird die Voraussetzung dafür schaffen, auf die reale Verunsicherung und Verängstigung großer Bevölkerungsteile mit einer glaubwürdigen fortschrittlichen Alternative zu reagieren, die der populistischen und extremen Rechten ihre Mitläufer- und Wählerschaft entziehen kann. Dabei geht es zunächst darum, in Abwehrkämpfen gegen die neoliberale Politik erfolgreich zu sein, aus diesen Abwehrkämpfen heraus Alternativen zu entwickeln und mit ihnen in die gesellschaftliche Offensive zu kommen. Im Folgenden sollen die Bedingungen dafür bei den einzelnen Akteuren wie Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und linken Parteien, betrachtet werden.

Gewerkschaften zwischen „Sozialpartnerschaft“ und politischem Streik

Den Gewerkschaften als den zentralen Interessenvertretungen der Lohnabhängigen kommt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung glaubwürdiger Alternativen zum Neoliberalismus zu. In gewerkschaftlich geführten Auseinandersetzungen können lohnabhängig Beschäftigte die lebendige Erfahrung von Solidarität entlang von Klassenlinien machen. Diese Solidarität muss die KollegInnen mit Migrationshintergrund einschließen, will sie erfolgreich sein. Gewerkschaftliche Kämpfe machen die kollektive Handlungsmacht der Lohnabhängigen erfahrbar und schaffen damit Erkenntnishorizonte, die konträr zu den Ohnmachts- und Vereinzelungserfahrungen im Neoliberalismus verlaufen und gegen die Demagogie der Rechten immunisieren.
Allerdings ist die Stellung der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im Zuge der postfordistischen Wende der kapitalistischen Produktionsweise und der Durchsetzung des Neoliberalismus deutlich geschwächt worden. Outsourcing, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wachsende Arbeitslosigkeit, territoriale Versprengung und netzwerkartige Neustrukturierung der Produktion unter den Bedingungen der Globalisierung erschwerten die Handlungsmöglichkeiten abhängig Beschäftigter und machten sie verwundbarer. Die gegenüber der Politik der Rechten stärkende Erfahrung erfolgreichen kollektiven Kampfes entlang von Klassenlinien konnte daher seltener und weniger intensiv gewonnen werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Im Gegenteil: Sich häufende Niederlagen führten bei vielen abhängig Beschäftigten zum Verlust eines Vertrauens in die eigene, kollektive Stärke und machten sie anfälliger für die rechte Propaganda des „nach unten Tretens“. Bis heute tun sich die Gewerkschaften gerade in Deutschland mit adäquaten Antworten auf die Folgen neoliberaler Politik schwer. Zu sehr sind sie noch immer dem nationalstaatlichen Rahmen tariflicher Aushandlungen und den aus der Zeit des Klassenkompromisses der 1950er bis 70er Jahre stammenden, sozialpartnerschaftlichen Formen gewerkschaftlicher Politik verhaftet. Doch der alte Klassenkompromiss ist von oben längst aufgekündigt, die „Sozialpartnerschaft“ ist Geschichte geworden. Und die Globalisierung setzt die Lohnabhängigen weit über den Rahmen der Nation hinaus in eine Konkurrenz zu einander, die aufzuheben ursprünglichstes Ziel gewerkschaftlichen Handelns ist. Gleichzeitig führt die postfordistische Struktur kapitalistischer Produktion auch innerhalb eines Landes zu einer verschärften Spaltung der Arbeiterschaft in schrumpfende Stammbelegschaften auf der einen und eine wachsende Zahl prekär Beschäftigter auf der anderen Seite.
Umso notwendiger ist unter diesen Bedingungen die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Projektes, dass sowohl die verschiedenen Segmente der ArbeiterInnenschaft innerhalb eines Landes als auch über die Grenzen der einzelnen Länder hinweg verbindet. Ein solches Projekt wird sich nur als konsequente klassenkämpferische Interessenvertretung mit internationalistischer Ausrichtung verwirklichen lassen. Die Orientierung auf eine Sicherung und Stärkung des „eigenen“ Standortes im Bündnis mit Staat und Unternehmern ist nicht nur in Bezug auf eine konsequente Interessenvertretung langfristig kontraproduktiv, wie die Lohnstagnation in Deutschland in der letzten Dekade zeigt. Sie droht zugleich, Anknüpfungspunkte an rechte und nationalistische Positionen zu bieten.
Die deutliche Zunahme der Zahl an politischen und Generalstreiks in vielen europäischen Ländern belegt, wie bedeutend dieses Mittel heute für die Verteidigung der Interessen von abhängig Beschäftigten gegenüber Regierungen ist, die immer unverhüllter Kapitalinteressen vertreten. Die Zahl an politischen und Generalstreiks – hier verstanden als landesweite Streiks, die sich explizit gegen Regierungshandeln wie etwa Sozialabbau oder Rentenkürzungen richten – steigt in Westeuropa seit drei Jahrzehnten kontinuierlich an. In den 1980er Jahren führten die Gewerkschaften Westeuropas 18, in den 90er Jahren 26 und in den 2000er Jahren 37 Generalstreiks durch. Seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrise ist ihre Zahl noch einmal massiv gestiegen: Allein in den Jahren 2010 und 2011 griffen Gewerkschaften 24 Mal zum Mittel eines Generalstreiks, 2012 fanden bereits Generalstreiks in Griechenland, Belgien, Portugal und Spanien statt. Unangefochtener Spitzenreiter der westeuropäischen Generalstreikstatistik ist Griechenland, gefolgt von Italien, Frankreich, Belgien und Spanien. Aber auch in traditionell weniger streikfreudigen Ländern wurde dieses Mittel eingesetzt. Ein großes Problem stellt dabei die Ungleichzeitigkeit der Kürzungen in den einzelnen Ländern dar, die eine europaweite Synchronisierung der Streikbewegungen bisher verhindert. Im Sommer 2012 nahmen aber Initiativen namentlich der spanischen Gewerkschaften zu, die auf eine stärkere Koordinierung der politischen Streikaktivitäten in (Süd-)Europa abzielten.
Vor dem Hintergrund des strukturellen Übergewichtes des Kapitals im Neoliberalismus und seinen vielfältigen Möglichkeiten zur Beeinflussung des Regierungshandelns in seinem Sinne (Lobbyismus, Parteienspenden, Erpressung mit der Drohung einer Verlagerung von Arbeitsplätzen, Dominanz der öffentlichen Meinung durch Medienkonzerne, etc.) spielen politischen Streiks nicht nur eine zunehmend wichtige Rolle zur Verteidigung der ökonomischen Interessen abhängig Beschäftigter, sondern auch als „Waffen im Kampf um die Demokratie“ . Denn nicht nur der Sozialstaat, sondern auch die Demokratie droht im Zuge der europäischen Schuldenkrise weiter ausgehöhlt zu werden: Fiskalpakte beschneiden die Haushaltsrechte nationaler Parlamente, eine Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission diktiert Griechenland seine Sozial- und Wirtschaftspolitik, und in einigen Krisenländern kommen aus Technokraten gebildete faktische Notstandsregierungen an die Macht (wie die Regierung Papadimos in Griechenland und die Regierung Monti in Italien), die weitgehend ohne demokratische Kontrolle eine scharfe Kürzungspolitik im Interesse der ökonomischen Eliten durchsetzen. Unter diesen Bedingungen sind politische Streiks ein zentrales Mittel, um die Interessen der abhängig beschäftigten Bevölkerungsmehrheit zu artikulieren und der Durchsetzung der Interessen einer kleinen Bevölkerungsminderheit von Bankiers, Großunternehmern und Kapitaleignern entgegenzutreten. Sie stehen für den Versuch, dem einseitigen Einfluss des Kapitals auf Regierungshandeln den Einfluss der Lohnabhängigen entgegenzusetzen.
Auf der Landkarte der wachsenden Zahl politischer Streiks in Europa gibt es einen großen weißen Fleck: Deutschland. Hier sind politische Streiks der vorherrschenden Rechtsauffassung nach verboten, kamen in den letzten Jahrzehnten allerdings dennoch vereinzelt zum Einsatz. In jüngster Zeit hat die Debatte um die Notwendigkeit politischer Streiks hierzulande an Fahrt gewonnen. Dahinter steht die Erfahrung des gewerkschaftlichen Unvermögens, die Politik der Agenda 2010 und ihre für die abhängig Beschäftigten verheerenden Folgen (Ausweitung von prekärer Beschäftigung und Niedriglohnsektor; Disziplinierung der Beschäftigten durch Angst vor sozialem Absturz bei Hartz IV) mit herkömmlichen Mitteln zu stoppen . Nicht zufällig wurde Deutschland so zum einzigen Land Europas ohne Reallohnsteigerungen in der letzten Dekade, was wesentlich zur Expansion der deutschen Exportkraft auf Kosten seiner Nachbarländer und damit zur gegenwärtigen Eurokrise beitrug. Viele linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter zogen daraus die Schlussfolgerung: Das Mittel politischer und Generalstreiks muss wieder zum Repertoire der deutschen Gewerkschaftsbewegung gehören! Prominent wurde diese Position von Oskar Lafontaine mit der Forderung nach einem Recht auf den Generalstreik in die gesellschaftliche Debatte getragen. Die IG BAU und ver.di sprachen sich bereits 2007 für politische Streiks aus. Ein von zahlreichen prominenten GewerkschafterInnen erstunterzeichneter „Wiesbadener Appell“ für das politische Streikrecht fand im Frühjahr 2012 in wenigen Wochen über 3.200 Unterstützerinnen und Unterstützer.
Die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa machen politische Streiks zu einem wesentlichen Kristallisationspunkt des Projektes einer umfassenden sozialen und demokratischen Erneuerung der europäischen Gesellschaften. Je mehr es an Durchsetzungsmacht und Glaubwürdigkeit gewinnt, desto stärker kann es auch dazu beitragen, der populistischen und extremen Rechten den Boden zu entziehen.

Occupy und indignados: Im Kampf für echte Demokratie

Die gegenwärtige Krise brachte bisher keineswegs nur Antworten von rechts hervor. Sie führte auch zu einem europa- und sogar weltweiten Aufschwung einer neuen sozialen Bewegung, die gegen die neoliberale Diktatur des Marktes den Kampf um „echte Demokratie jetzt“ setzt, die sie auch als Voraussetzung für einen neuen sozialen Ausgleich begreift. Diese Bewegung betrat die Bühne zunächst in Gestalt der indignados, der Empörten. Erstmalig gingen sie in Spanien am 15. Mai 2011 massenhaft auf die Straße und besetzten, inspiriert von der Besetzung des Kairoer Tahrir-Platzes, die Plätze der großen Städte. Diese zeitweise von hunderttausenden Empörten getragenen und über viele Wochen andauernden Besetzungen öffentlicher Orte verwandelte die zentralen Plätze der Städte zu Laboratorien einer neuen „Demokratie von unten“. Sie wurden zu Orten leidenschaftlicher Debatten einer jungen und heterogenen Bewegung über eine Wiederaneignung der Demokratie und des Öffentlichen. Hier artikulierte sich deutlich wie noch nie ein Unbehagen über die Aushöhlung der Demokratie im Neoliberalismus, über die einseitige Ausrichtung des Regierungshandelns an den Interessen der großen Banken und Konzerne. Zunächst von Skepsis gegenüber den Gewerkschaften und traditionellen linken Parteien getragen, waren Stimmungen und amorphe Forderungen der Bewegung ihnen doch durchaus verwandt: Ende des Einflusses von Banken und Konzernen auf die Regierungen; Ende von Lobbyismus und Parteienfinanzierung; Stärkung partizipativer Elemente direkter Demokratie; Demokratisierung der Medien; Ablehnung jeder Kontrolle des Internets; Schaffung von sinnvollen Arbeitsplätzen in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit; Kampf gegen Armut.
Von Spanien aus ergriff die Welle der Bewegung der Empörten alsbald Portugal, streifte Italien und fand in der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen einen neuen Höhepunkt, ehe sie zunächst allmählich versandete bzw. sich verlagerte und transformierte. An die Stelle medienwirksamer Platzbesetzungen traten den Alltag politisierende Stadtteilversammlungen, die etwa den Kampf gegen die Zwangsräumung verschuldeter Bewohnerinnen und Bewohner aus ihren Häusern organisierten oder dafür sorgten, dass wieder ans Stromnetz angeschlossen wurde, wer seine Rechnung nicht bezahlen konnte.
Bereits im Herbst 2011 erhob diese Bewegung erneut ihr Haupt, diesmal auf der anderen Seite des Atlantiks, in New York, nun unter dem Label „occupy“. In dem Kampf einer zunächst recht kleinen und radikalen Gruppe von Parkbesetzern für echte Demokratie und soziale Gerechtigkeit fanden sich bald zahllose AmerikanerInnen wieder, die bislang abseits radikaler Bewegungen standen. Sie strömten zu den occupy-Demos oder organisierten Besetzungen in ihren eigenen Städten. Auch viele amerikanische Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Forderungen von occupy und mobilisierten zu den Protesten. Der zentrale occupy-Slogan verlieh der Erfahrung einer Welt Ausdruck, in der eine winzige Minderheit immer reicher und mächtiger wird, während die übergroße Mehrheit fast nichts besitzt und von demokratischer Teilhabe systematisch ausgeschlossen wird: „We are the 99 %“. Die Figur der 99 % gegen das eine Prozent der Reichen und Mächtigen mag analytisch unzureichend sein, die tatsächlichen Machtverhältnisse nicht exakt abbilden und der Kompliziertheit unserer Gesellschaften und ihren Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen nicht völlig gerecht werden. Aber sie ist eine, wenn vielleicht auch verkürzte, so doch begeisternde und Identifikation schaffende Klassenkampfparole, die ganz andere Frontstellungen aufmacht als die, die die populistischen und extreme Rechte anbietet: nicht den die wahren Machtverhältnisse verschleiernden Kampf einer auf Ethnie oder Kultur gründenden Mehrheitsgesellschaft gegen die schwächsten Minderheiten, sondern einen Kampf über die Grenzen von Kultur, Ethnie und Nation hinweg gegen die ihrer Anzahl nach kleinen, aber unfassbar reichen und mächtigen Eliten.
Von den USA schwappten Ausläufer dieser zweiten Welle der Bewegung wieder zurück nach Europa, erfassten dort vor allem den Norden und erreichten am 15. Oktober auch Deutschland. Einige Zehntausend gingen hier plötzlich in mehreren Städten auf die Straße, auch hier amorph, heterogen, bunt und uneinheitlich. Aber auch hier teilten die TeilnehmerInnen bzw. AktivistInnen das gleiche Unbehagen, die gleichen Forderungen nach echter Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, nach Umverteilung von Macht und Reichtum, nach Mitbestimmung in und Mitgestaltung von Gesellschaft, nach Freiheit von den Zwängen der Märkte. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei scheiterte noch im Herbst 2011 eine Besetzung der Reichstagswiese im Berliner Regierungsviertel. Auch in der Folge gelang es mit polizeilicher Repression, die Bewegung an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen, wo der Winter sie dann zunächst einfror. Nicht so allerdings in Frankfurt, wo ein occupy-Camp den ganzen Winter hindurch in Sichtweite der großen Banktower die Stellung hielt und permanent den Finger in die Wunde einer Gesellschaft legte, in der eine kleine Minderheit ökonomisch Mächtiger sich anmaßt, den Kurs zu diktieren. Das Verhältnis zwischen traditionellen Organisationen und der neuen Bewegung war zunächst keineswegs spannungsfrei. In Spanien und Griechenland trat die Bewegung anfangs sehr gewerkschaftskritisch auf. In den USA hingegen kam es in Oakland sogar zu einem gemeinsamen Generalstreik von occupy und Gewerkschaften. Auch in Deutschland beäugten sich beide Akteure zunächst skeptisch. Allmählich setzte sich aber eine Sichtweise durch, die Sonja Staack, die stellvertretende Vorsitzende von ver.di-Berlin, unter dem Motto: „Zwei Aufbrüche – eine Idee“ zusammenfasst. Sie argumentiert, die Gewerkschaften sollten „neue Ideen aus den sozialen Bewegungen aufnehmen, Kritik zulassen und manche lieb gewonnene Strategie auf den Prüfstand stellen. Nur so lassen sich die starken – nicht zuletzt gewerkschaftlichen – Ideen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit mit neuem Leben füllen.“
Mit dem Ziel einer Zusammenführung von occupy mit anderen Teilen der Linken in einer gemeinsamen Aktion des massenhaften zivilen Ungehorsams mobilisierte ein Bündnis aus Aktiven aus der occupy-Bewegung, attac, die Interventionistische Linke, linke GewerkschafterInnen und die Linkspartei unter dem Motto „Blockupy“ zu Bankenblockaden vom 15.-17. Mai 2012 nach Frankfurt am Main. Mit dieser Aktion im „Herzen der Bestie“ sollte ein europaweit sichtbares Signal des Protestes gegen die neoliberale Krisenbearbeitung gesetzt und antikapitalistische Positionen wieder verstärkt wahrnehmbar gemacht werden. Letztendlich unterband ein massives Polizeiaufgebot die Blockadeversuche, legte dabei aber selbst die Frankfurter City lahm. Die Repression wirkte diesmal aber auch mobilisierend: über 30.000 Menschen zogen am 17. Mai bei den bis dahin größten Krisenprotesten in Deutschland in einem sehr lebendigen und bunten Demonstrationszug durch die Innenstadt. Weitere Aktionen des „Blockupy“-Bündnisses sind für 2013 geplant.
Im Sommer 2012 gelang es dem von Sozialverbänden, Gewerkschaften, attac, der Linkspartei u.a. getragenen breiten Bündnis „umFAIRteilen!“, die Frage der Verteilung des Reichtums in unserer Gesellschaft wieder stärker in die öffentliche Debatte zu bringen. An einem Aktionstag des Bündnisses am 29. September beteiligten sich in mehreren Städten insgesamt 40.000 Menschen.
Europaweit zeichnet sich die Möglichkeit einer verstärkten Verbindung der Bewegungen für echte Demokratie mit Gewerkschaften und linken Parteien ab. Dies wurde besonders bei den von diesen Akteuren getragenen Massenprotesten in Portugal am 15. September deutlich, bei denen eine Million Menschen – 10% der Bevölkerung – gegen die Kürzungspolitik auf die Straße gingen und der Regierung zumindest eine Abmilderung der Kürzungspläne abringen konnten. Für eine zunehmende Verbindung der Protestbewegungen standen im September 2012 aber auch ein erfolgreicher Generalstreik in Griechenland, Großdemonstrationen in Paris und in Italien und die Belagerung des spanischen Parlaments durch Protestierende.
Je besser diese Verbindung zu Stande kommt und je mehr es gelingt, eine hoffnungsvolle internationale Perspektive des Kampfes von unten her zu entwickeln, desto eher kann es gelingen, der populistischen und extremen Rechten in Europa das Wasser abzugraben. Wirklich erfolgreich können diese Bewegungen aber auf lange Sicht nur sein, wenn sie die demokratische Frage untrennbar mit der sozialen verknüpfen und die dem Abbau von Demokratie und Sozialstaat zugrundeliegenden neoliberalen Macht- und Eigentumsverhältnisse effektiv in Frage stellen.

Soziale und politische Demokratisierung
Eine wichtige Rolle bei der Verbindung des gewerkschaftlichen Kampfes um die sozialen Interessen der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit (der immer auch ein Kampf um mehr Demokratie und Teilhabe ist) mit dem Kampf der Bewegung für echte Demokratie (die immer auch eine Bewegung für mehr soziale Gerechtigkeit war) zu einem gemeinsamen Kampf für eine umfassende soziale und politische Demokratisierung unserer Gesellschaften können die europäischen Linksparteien spielen. Je stärker es ihnen gelingt, eine glaubwürdige und begeisternde antikapitalistische Perspektive zu entwickeln, desto eher werden sie in der Lage sein, die Kräfte einer populistischen und extremen Rechten zurückzudrängen. Sie stehen dabei zunächst vor der Aufgabe, erfolgreiche Abwehrkämpfe gegen das neoliberale Krisenmanagement zu führen. Nur wenn es ihnen gelingt, die Interessen der Mehrheit konsequent und erfolgreich zu verteidigen, werden auch ihre alternativen Vorschläge glaubwürdig und durchsetzbar werden. Der Beitrag von Andrej Hunko in diesem Band verdeutlicht, wie ein kämpferischer, EU-kritischer und internationalistischer Kurs der Linksparteien in der letzten Zeit in den Niederlanden, in Dänemark und in Frankreich zu einer Schwächung der dortigen Rechtsparteien führte.
Die Linksparteien stehen europaweit vor der großen Herausforderung, den Kampf um konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt mit einer über den Kapitalismus hinausweisenden demokratischen und sozialistischen Perspektive zu verknüpfen. Dabei stellt sich ihnen das Problem, in ihrem Ringen um konkrete Verbesserungen nicht als ein Teil des etablierten, diskreditierten politischen Systems wahrgenommen zu werden. Nur wenn es ihnen gelingt, einerseits konkrete Verbesserungen durchzusetzen, andererseits aber als radikale oppositionelle Kräfte zu bestehen, werden sie denen, die sich wütend und enttäuscht vom System der etablierten Politik abwenden, eine glaubwürdige Alternative sein. Andernfalls drohen sie, diese an das Lager der populistischen und extremen Rechten mit seinen vermeintlich radikalen, anti-etablierten Positionen zu verlieren. Will die gesellschaftliche Linke sowohl den Neoliberalismus überwinden als auch die extreme Rechte zurückdrängen, steht sie vor der großen Aufgabe, aus den Forderungen nach Freiheit und Demokratie das Projekt einer hoffnungsvollen und realisierbaren sozialistischen Alternative zum Bestehenden zu entwickeln.

Literatur

Gallas, Alexander/Nowak, Jörg (2012): Eine Waffe im Kampf um Demokratie: Der politische Streik als Antwort auf die europäische Krisenpolitik. In: LuXemburg 2, S. 104-113.
Gallas, Alexander/Jörg Nowak/Florian Wilde (2012): Politische Streiks im Europa der Krise, Hamburg (im Erscheinen).
Hamann, Kerstin/Johnston, Alison/Kelly, John (2012): Generalstreiks in Westeuropa seit 1980. In: LuXemburg 2, S. 96-103.
Sonja Staack (2011): Gewerkschaften und Occupy: Zwei Aufbrüche, eine Idee. In: occupy-Zeitung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Dezember 2011), http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/RZ_OCCUPY_Dez2011.pdf [19.04.2012].
Wilde Florian (2010): „Den nach Hoffnung hungernden Massen den Sozialismus als einzig mögliche Rettung aus der Krise zeigen.“ Die Entwicklung der SPD-Linken von der Klassenkampf-Gruppe zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). In: Bois, Marcel/Hüttner, Bernd (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der pluralen Linken, Heft 1: Theorien und Bewegungen vor 1968, Berlin.
Wilde, Florian (2010): Sie kamen nicht durch! Historischer Erfolg gegen Neonazis in Dresden. In: SoZ – Sozialistische Zeitung 4.
Wilde, Florian (2009): Gespalten in den Untergang. Die Linke und der Aufstieg Hitlers, in: DIE LINKE.SDS/Linksjugend [’solid] (Hrsg.): Block Fascism! Geschichte, Analysen und Strategien für eine antifaschistische Praxis, Berlin.

Radikale Alternativen zu Neoliberalismus und neuen Rechten. Von Florian Wilde, in: Peter Bathke/Anke Hoffstadt (Hg.): Die neuen Rechten in Europa. Zwischen Neoliberalismus und Rassismus, Köln 2013, S.328-339.