Tony Cliff – der heterodoxe Trotzkist

Foto: John Sturock

(Rosalux) Tony Cliff (1917–2000). Der heterodoxe Trotzkist, in: «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten». Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 2), hrsg. von Riccardo AltieriBernd HüttnerFlorian Weis, Berlin 2022, S.121-126.

Wie bemerkenswert viele andere Führungspersönlichkeiten der internationalen trotzkistischen Linken war auch Tony Cliff ein säkularer Jude. Im Jahr der Oktoberrevolution wurde er als Yigael Glückstein in Zichron Jaʿakov bei Haifa in Palästina als Kind einer aus Polen stammenden zionistischen Auswandererfamilie in die zionistische Elite hineingeboren: Klavierstunden erhielt er vom späteren Staatspräsidenten Chaim Weizmann, und David Ben-Gurion war ein Freund der Familie. Unter Ben-Gurions Einfluss schloss Cliff sich bereits im Alter von 14 Jahren in Jaffa der linkszionistischen Jugend der israelischen Arbeiterpartei (Mapai) an. Er erzählte später gerne, wie er schon bald darauf zum Kommunisten wurde: Der junge Yigael, der immer auch mit arabischen Kindern gespielt hatte, reichte einen Schulaufsatz mit dem Titel «Warum sind keine arabischen Kinder auf unserer Schule?» ein und wurde von seinem wütenden Lehrer dafür als «Kommunist» beschimpft. Daraufhin schloss er sich als 16-Jähriger der radikaleren Jugendorganisation des linken Poale-Zion-Flügels, Marxistischer Zirkel, an.

Als die deutschen Nationalsozialisten 1933 die Macht ergriffen, interpretierte Cliff dies als eine Folge des Versagens der stalinistisch geführten KPD, wandte sich zunehmend dem Trotzkismus zu und gründete schließlich mit dem illegalen Bund Revolutionärer Kommunisten (Brit Kommunistim Mahapchanin) die Palästina-Sektion der 4. Internationale mit. Die kleine Gruppe – zu ihren Mitgliedern gehörten unter anderem Jacob Moneta, Rudolf Segall und Jakob Taut – bemühte sich um die Einheit und gemeinsame Organisierung der jüdischen und arabischen Arbeiter*innen Palästinas und stellte sich gegen die britische Kolonialmacht, was zur vorübergehenden Internierung Cliffs während des Zweiten Weltkriegs führte. Obwohl er aus dem Herzen des zionistischen Milieus stammte, wandelte er sich zu einem überzeugten Antizionisten und wanderte gemeinsam mit seiner aus Südafrika nach Israel emigrierten jüdischen Frau und Genossin Chanie Rosenberg 1946 nach London aus.

Dort entwickelte Cliff eine umfassende Revision von Trotzkis Theorie der Sowjetunion als eines degenerierten Arbeiterstaates, was schließlich zum Ausschluss von Cliff und seinen wenigen Anhängerinnen aus der britischen Sektion der 4. Internationale führte. Daraufhin gründete er eine eigene Gruppierung, die Socialist Review Group. Cliffs 1955 veröffentlichter Schrift «Staatskapitalismus in Russland» zufolge handelte es sich bei der stalinschen Sowjetunion und ihren Satellitenregimen um eine neue Form von Klassenherrschaft, die er als «bürokratischen Staatskapitalismus» kennzeichnete. Dies wurde zur theoretischen Grundlage der von ihm begründeten Strömung und von ihr aufs Engste mit der Vorstellung eines «Sozialismus von unten» verknüpft, der nur über eine rätedemokratisch-revolutionäre Befreiung der Arbeiterklasse als Werk der Arbeiterklasse selbst erkämpft und nicht durch Rote Armeen, linke Guerillas oder sozialdemokratische Regierungen «von oben» dekretiert werden könne. «Weder Washington noch Moskau – für Arbeiterdemokratie und internationalen Sozialismus» wurde so zum zentralen Schlachtruf der sich bald International Socialists (IS) nennenden Gruppe, die sich auch sonst als eine sehr heterodoxe Strömung präsentierte und innovativ um eine Aktualisierung des Trotzkismus mit eigenständigen theoretischen Beiträgen bemühte. Dazu trug etwa Cliff mit seiner Theorie einer «Umgelenkten permanenten Revolution» (1963, zur Erklärung des Ausbleibens einer Führung der Arbeiterklasse bei den antikolonialen Revolutionen) oder der Theorie einer permanenten Rüstungswirtschaft (zur Erklärung des langen Nachkriegsbooms) bei. Die Gruppe umfasste zunächst nur wenige Dutzend Mitglieder und definierte sich nach Veröffentlichung von Cliffs «Studie über Rosa Luxemburg» (1959) zeitweise als libertär-trotzkistisch-luxemburgistisch. Sie wirkte in den 1960er-Jahren eine Zeit lang in der Labour Party, schnellte als dann wieder eigenständig agierende IS im Protestjahr 1968 auf 1.000 Mitglieder hoch, vollzog unter dem Einfluss von Cliffs dreibändiger Lenin-Biografie (1975–1978) dann eine hart neoleninistische Wende und transformierte sich schließlich 1977 zur Socialist Workers Party (SWP) mit bereits 3.000 sowohl an den Universitäten als auch in den Fabriken gewonnenen Mitgliedern. Zu ihren Kennzeichen gehörte ein ebenso militanter wie auf breite Bündnisse abzielender Antifaschismus, der sich in den von ihr angestoßenen Rock-against-Racism-Konzerten und in der von ihr mitgegründeten Anti-Nazi-League zeigte. Das jüdische Element der IS – neben Cliff, Chanie Rosenberg und den gemeinsamen Kindern nicht zuletzt durch den Cliff-Schwager und IS-Theoretiker Michael Kidron – war derart stark ausgeprägt, dass Zeitgenossinnen der diskussionsfreudigen IS explizit eine jüdische politische Kultur attestierten. Die Gruppe verschrieb sich aber weiterhin einem entschiedenen Antizionismus, der seinen Ausdruck auch in Publikationen wie «Israel, der Terrorstaat» (1986) des ebenfalls jüdischen SWP-Mitglieds John Rose finden sollte.

Ab den späten 1960er-Jahren entstanden die ersten Schwesterorganisationen der IS/SWP, die sich als International Socialist Tendency (IST) zusammenschlossen. In Deutschland gründete der Frankfurter Aktivist des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) Volkhard Mosler 1971 – gemeinsam mit seiner jüdischen Lebenspartnerin Maya Cohen – die Sozialistische Arbeitergruppe (SAG) als einen Ableger.

Als schwere Hypothek für den Aufbau einer internationalen Strömung sollte sich erweisen, dass die britischen Behörden Cliffs Umtriebe durchaus ernst nahmen und ihm – trotz großer und von hochrangigen Mitgliedern der Labour Party und der Gewerkschaften unterstützten Kampagnen zu seiner Einbürgerung – zeitlebens die Staatsbürgerschaft verweigerten, sodass der von London aus agierende staatenlose Revolutionär die britischen Inseln nicht verlassen konnte und daher in der internationalen Linken vergleichsweise unbekannt blieb. Sein privates Telefon wurde zwischen 1951 und 1991 durchgehend abgehört, und in die SWP wurden allein in den 1980er-Jahren 25 Informantinnen britischer Geheimdienste eingeschleust. Den Zusammenbruch des Ostblocks begrüßte Cliff und verstand ihn als Bestätigung seiner Staatskapitalismus-Theorie. Die 1990er-Jahre galten seiner Strömung als ein Jahrzehnt neuer linker Möglichkeiten und Aufbrüche. Die SWP wuchs zur mit circa 10.000 Mitgliedern vorübergehend stärksten politischen Kraft links der Labour Party an, und auch die IST erreichte mit etwa 30 nationalen Sektionen in diesem Jahrzehnt ihren Zenit, an dessen Ende Tony Cliff am 9. April 2000 starb. Die problematischen Aspekte des Cliffschen Erbes sollten bereits kurz nach seinem Tod in Spaltungen von SWP und IST – die längst selbst eine neue Form von Orthodoxie vertraten und dabei ihre einstige Innovationsfähigkeit eingebüßt hatten – sichtbar werden, und mit ihnen auch die von Kritikerinnen schon lange monierten Demokratiedefizite dieser Strömung.

Wer Tony Cliff – wie der Autor als Jugendlicher – etwa auf den in den 1990er-Jahren von Zigtausenden Personen besuchten, jährlich in den Räumlichkeiten der University of London stattfinden Marxism-Kongressen der SWP erlebte, war häufig vom sprühenden Charme dieses in einem unverwechselbaren Akzent agitierenden Marxisten der alten Schule gebannt. Nicht weniger beeindruckend war er jedoch auch für israelische Besucher*innen seiner Alterskohorte: «He looked like a British Ben Gurion with a Sabra accent. Even the art of the composition of his speech was reminiscent of the old speeches of Mapai», so der Journalist Ygal Sarneh, der Cliff damals als einen «ghost of a leader of the left from the 1940s» erlebte.

Einen zentralen Fokus legte Cliff in seinem letzten Lebensjahrzehnt auf die Arbeit der deutschen IST-Sektion SAG. Sie formierte sich unter seiner Anleitung 1994 mit etwas über 100 Mitgliedern als Linksruck-Netzwerk bei den Jungsozialisten in der SPD (Jusos) neu und wurde als wieder eigenständige Gruppe zu einer der am schnellsten wachsenden Organisationen der radikalen Linken im Deutschland der 1990er-Jahre. Allerdings sollte der Linksruck kurz nach Cliffs Tod in eine Krise stürzen, sich zunächst spalten und schließlich zum nun formal von der IST unabhängigen marx21-Netzwerk innerhalb der Linkspartei transformieren, aus dem zahlreiche Aktive, mehrere Bundestagsabgeordnete und eine Parteivorsitzende der LINKEN hervorgegangen sind.


Literatur
Birchall, Ian: Tony Cliff. A Marxist for His Time, London 2011.

 

Der Trotzkismus – eine von Juden geprägte Strömung

Als weitere aus dem Judentum stammende führende Politiker des Trotzkismus zu nennen wären, neben Leo Trotzki selbst, unter anderem Pierre Frank und Ernest Mandel als langjährige Köpfe der «offiziellen» 4. Internationale sowie Alain Krivine, Daniel Bensaïd und Henri Weber von der Führung ihrer französischen Sektion Ligue communiste révolutionnaire (LCR). Zu erwähnen wären ebenso die jüdischen Gründerväter bzw. die Gründermutter eigenständiger internationaler Unterströmungen des Trotzkismus

  • Ted Grant: Organisation: Militant, Land: Großbritannien; Internationaler Zusammenschluss: Committee for a Workers‘ International (CWI).
  • Pierre Lambert: Parti Communiste Internationaliste (PCI), Frankreich; International Committee of the Fourth International (ICFI).
  • Daniel Gluckstein: Parti ouvrier indépendant démocratique (POID), Frankreich; International Workers Comittee (IWC).
  • David Korner: Lutte Ouvrière, (LO), Frankreich; Internationalist Communist Union (UCI).
  • Jorge Altamira: Partido Obrero (PO), Argentinien; Coordinating Committee for the Refoundation of the Fourth International (CRFI).
  • Savas Matsas: Workers Revolutionary Party (EEK), Griechenland; Coordinating Committee for the Refoundation of the Fourth International (CRFI).
  • Max Schachtman: Independent Socialist League (ISL), USA; Committee for the Fourth International (CFI).
  • Clara Fraser: Freedom Socialist Party (FSP), USA; Committee for Revolutionary International Regroupment (CRIR).
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  • Die von Hal Draper und Joel Geier angeführten Independent Socialist Club (ISC) in den USA, eine eigenständige Strömung des Trotzkismus ohne internationale Partner, wuchsen ab den späten 1970er-Jahren mit der sich um Tony Cliffs SWP gruppierenden International Socialist Tendency (IST) zusammen.