Zur Relevanz des Machtressourcen-Ansatzes

(junge Welt)

»Auseinandersetzungen auch in Defensive«

Aus dem Lehrbetrieb: Ansatz untersucht gewerkschaftliche Machtressourcen. Ein Gespräch mit Florian Wilde. Von David Maiwald.

Sie untersuchen gewerkschaftliche Kämpfe mit dem »Machtressourcenansatz«. Was ist darunter zu verstehen?

Der Ansatz wurde in den 2000er Jahren um den Lehrstuhl von Klaus Dörre an der Universität Jena in Reaktion auf die Defensive der Gewerkschaften entwickelt. Er hat die jüngere Generation der kritischen Gewerkschaftsforschung inspiriert und auch die Praxis der Gewerkschaften beeinflussen können. Im Blick sind verschiedene Ressourcen gewerkschaftlicher Macht: strukturelle Macht im Produktionsprozess und auf dem Arbeitsmarkt, ihre Organisationsmacht etwa in Tarifauseinandersetzungen, ihre institutionelle Macht im System der industriellen Beziehungen und ihre gesellschaftliche Macht in bezug auf Diskurshegemonie und Bündnisfähigkeit. Es zeigte sich: Auch in einer Defensivsituation haben Gewerkschaften strategische Wahlmöglichkeiten. Sie müssen eine Machterosion nicht hinnehmen und können ihr entgegenwirken.

Vermehrt treten Lohnabhängige aus DGB-Einzelgewerkschaften aus. Wie lässt sich der Mitgliederschwund aufhalten? 

Der Machtressourcenansatz belebte die wissenschaftliche Diskussion und davon ausgehend auch die praktische Suchbewegung nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Versuche, die Organisationsmacht zu stärken, zeigten seitdem unterschiedliche innovative Methoden, neue Formen der Ansprache und Partizipation, bedingungsgebundene Tarifarbeit sowie Organizing. Darüber konnte der Mitgliederverlust sicherlich zumindest abgebremst werden – bis Corona die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften einschränkte und zu einer Zunahme von Austritten führte. Eine Erosion der Mitgliederzahlen schwächt natürlich die gewerkschaftliche Organisationsmacht. Zur Kompensation wird unter anderem mit Versuchen einer Stärkung der gesellschaftlichen Macht der Gewerkschaften reagiert.

Die Pandemiejahre 2020/21 waren für Beschäftigte Jahre mit Reallohnverlusten. Der Mindestlohn wird »von oben« auf zwölf Euro erhöht, Aldi erhöht nun bereits auf 14 Euro. Was sagt das über die Fähigkeit zur Durchsetzung von Beschäftigteninteressen seitens der Gewerkschaften aus?

Die historische Defensive, in der sich die Gewerkschaftsbewegung seit den 1990er Jahren befindet, hält immer noch an, aber das Gesamtbild ist zumindest widersprüchlicher geworden. Die Durchsetzung des Mindestlohnes war ein großer Erfolg, in dem sich eine Wiederzunahme der gesellschaftlichen Macht der Gewerkschaften ausdrückte. Dieser stärkte zugleich ihre strukturelle Macht, schob zumindest dem brutalsten Lohndumping einen Riegel vor. Punktuell gibt es immer wieder echte Fortschritte. Die NGG konnte zuletzt beachtliche Lohnerhöhungen durchsetzen, in den Krankenhäusern konnten auch dank neuer Organizingmethoden jüngst große Erfolge erstreikt werden. Ich setze auf eine Verallgemeinerung dieser positiven Erfahrungen in weiteren Branchen.

Zeiten ändern sich, Erklärungsversuche auch. Auf welche aktuellen Entwicklungen müsste mittels Machtressourcenansatz reagieren werden?

Der sich ständig wandelnde Kapitalismus zwang die Arbeiterbewegung schon immer zu Veränderungen und Anpassungen ihrer Strategien und Arbeitsweisen. Für aktuelle innovative Entwicklungen stand etwa die Tarifrunde Nahverkehr, die Verdi im Bündnis mit der Klimabewegung als gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um eine sozial-ökologische Verkehrswende geführt hat. Eine spannende Frage, die wir auch auf der Jenaer Konferenz diskutieren wollen, ist die nach möglichen Bündnissen der IG Metall mit der Klimabewegung in der Auseinandersetzung um den Umbau der Automobilität.

Florian Wilde ist Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung für das Thema aktivierende und internationale Gewerkschaftspolitik

jW, 30.4.2022