Zeichen der Zeit erkannt

(neues deutschland)

Verdienst und Kritik.

Florian Wilde über internationale Gewerkschaften.

Eine Transnationalisierung der Gewerkschaftsbewegung ist unerlässlich, will sie dem Kapital im Zeitalter der Globalisierung die Stirn bieten können. Es ist daher ein großes Verdienst der IG Metall, dass sie eine treibende Kraft hinter dem gegenwärtig wohl bedeutendsten Versuch ist, entlang der globalen Wertschöpfungsketten eine Weltindustriegewerkschaft aufzubauen: Die IndustriALL Global Union.

Die 2012 gegründete IndustriALL versucht, Gewerkschaften des verarbeitenden Gewerbes über die noch aus den Zeiten des kalten Krieges stammenden Spaltungslinien der Weltgewerkschaftsbünde hinweg zusammenzufassen. Dadurch entstehen Kontakte und ein Austausch, der grenzüberschreitendes gewerkschaftliches Handeln ermöglicht.

So gelang es dem federführend von der IG Metall und der nordamerikanischen UAW (United Auto Workers) aufgebautem IndustriALL-Gewerkschaftsnetzwerk im Ford-Konzern, das Unternehmen durch Druck im US-Mutterland zur Anerkennung einer Gewerkschaft in seinen indischen Werken zu zwingen. Nach den Brandkatastrophen in südasiatischen Bekleidungsfabriken handelte IndustriALL mit Modekonzernen rechtsverbindliche Brandschutzabkommen mit einer Gültigkeit für 1.600 Textilfabriken aus. Mit dem Selbstverständnis einer weltweiten Kampagnen- und Organisierungsgewerkschaft ging der Verband exemplarisch den als besonders gewerkschaftsfeindlich bekannten Bergbauriesen Rio Tinto an, und zwang ihn immerhin an den Verhandlungstisch.

Der vom 4. Bis 7. Oktober in Rio de Janeiro tagende IndustriALL-Weltkongress konnte daher bereits auf erste Erfolge zurückblicken und beschloss, den bisherigen Kurs des gezielten Aufbaus gewerkschaftlicher Gegenmacht und der Durchsetzung globaler Rahmenvereinbarungen mit den multinationalen Konzernen fortzusetzen. Wie stark die IG Metall den Weltverband dominiert, demonstrierte die Wahl zum Vorsitzenden: Der als Nachfolger von Berthold Huber zum IndustriALL-Präsidenten gewählte Jörg Hofmann führt beide Organisationen in Personalunion, wie es zuvor schon sein Vorgänger tat. Die IG Metall vertritt innerhalb von IndustriALL inhaltlich keine sonderlich radikale Linie, und wird dafür von weiter Links stehenden Gewerkschaften auch dafür kritisiert, ihren sozialpartnerschaftlichen Ansatz auf die globale Ebene zu übertragen. Dass sie aber die Zeichen der Zeit erkannt hat und mit erheblichem Ressourceneinsatz den Aufbau einer Weltindustriegewerkschaft vorantreibt, ist ihr hoch anzurechnen.

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Der Autor ist gewerkschaftspolitischer Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dieser Kommentar erschien am 14.10. unter dem Titel „Verdienst und Kritik“ im „neues deutschland„: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1028664.verdienst-und-kritik.html