Interview mit neuem IndustriALL-Generalsekretär

(junge Welt)

Valter Sanches wurde in Rio zum IndustriALL-Generalsekretär gewählt. Er war zuvor Vorsitzender der brasilianischen Metallarbeitergewerkschaft CNM-CUT und war Mitglied der Weltarbeitnehmervertretung bei Daimler-Crysler. Sanches (auf dem Foto in der Mitte, neben dem IndustriALL- und IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann) ist einer der Köpfe hinter dem „Fernsehen der Arbeiter“ (TVT).

 

Siehst du IndustriALL Global Union vier Jahre nach der Gründung tatsächlich auf dem Weg, dem Kapital eine transnationale Organisierung der Arbeiter entgegenzusetzen?

In den ersten vier Jahren nahm die Zusammenführung der Gründungsorganisationen viel Zeit in Anspruch. Aber wir konnten einige große Fortschritte erzielen. Trotzdem sind wir noch weit davon entfernt, überall wirklich starke Gewerkschaften aufzubauen, die Prekarisierung zurückzudrängen und eine nachhaltige Industriepolitik durchzusetzen. Leider sind unsere Strukturen auch zu oft mit Formalien, und zu wenig mit ihren eigentlichen Aufgaben beschäftigt. Was ich ändern möchte, ist die Gewerkschaften vor Ort stärker zu konsultieren, und weniger von der Zentrale aus zu steuern.

Die Prekariserung ist ein zentrales Problem der internationalen Arbeiterbewegung. IndustriALL hat große Kampagne gegen Prekatiserung gestartet, aber noch keinen echten Durchbruch an dieser Front erzielt. Mit welcher Strategie können Gewerkschaften die Prekarisierung tatsächlich zurückdrängen?

Es gibt nicht die eine Strategie gegen Prekarisierung. Die fünf strategischen Achsen in unserem Aktionsplan zielen alle auf Überwindung der Prekarisierung ab. Der beste Weg, Prekarisierung zu bekämpfen, ist der Aufbau starker Gewerkschaften, und die gezielte Unterstützung unserer schwächeren Mitgliedsorganisationen. Aber auch erfolgreiche Kampagnen gegen brutal antigewerkschaftliche Konzerne wie Rio Tinto, den wir zwingen konnten, nun mit uns über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln, sind ein wichtiges Instrument gegen die Prekarisierung. Entscheidend sind auch Informationen. Denn Arbeiter brauchen die nötigen Informationen, um zu verstehen, dass eine andere Arbeitsrealität möglich ist.

Rechtspopulistische Parteien in Europa werden auch deshalb so stark, weil linke Parteien als Teil des Establishments gesehen werden, und Mitte-Links-Regierungen in vielen Ländern die neoliberale Politik fortsetzten, oft mit Beteiligung von Gewerkschaftern. Sollten Gewerkschaften nicht auf stärkeren Abstand zu Regierungen gehen und die Autonomie der Arbeiterklasse nicht nur gegenüber dem Kapital, sondern auch gegenüber dem Staat stärken?

Gewerkschaften müssen unabhängig von Parteien und Staaten sein. Ein zentraler Grund für den Aufstieg der extremen Rechten, des Rassismus und der Xenophobie ist, dass unsere Gesellschaften durch eine Koalition aus schlechter Bildung und schlechten Medien dominiert werden. Daher fühlen sich die Menschen durch soziale Medien besser informiert. Diese sind aber sehr anfällig für manipulative Informationen. Aber sie können ein wichtiges Instrument sein, wenn sie richtig eingesetzt werden. Parteien wie die AfD kümmern sich nur um eine einzelne Frage, die Flüchtlinge. Die haben aber keine andere Chance, als zu fliehen. Vielen Deutschen ging es vor 70 Jahren nicht anders, und Brasilien ist voll mit Deutschen, die damals vor Faschismus und Krieg flohen. Auch meine eigenen Großeltern flohen damals aus Europa. Aber es ist viel einfacher, die Flüchtlinge verantwortlich zu machen, als das System. Es ist einfacher, gegen die schwachen zu kämpfen, als gegen das 1% der Superreichen. Wir müssen politische Bildung und unsere Kommunikationsmittel stärken, um den Rassismus zurückzudrängen.

Die Krisen des Kapitalismus werden immer tiefer. Für immer mehr Menschen gibt es unter diesem System keine Zukunft mehr. Die Vorstellung einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wird bei IndustriALL jedoch nirgendwo explizit formuliert. Braucht die Gewerkschaftsbewegung im 21. Jahrhundert nicht auch wieder eine sozialistische Perspektive und eine Strategie, die Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus mit einer Perspektive seiner Überwindung kombiniert?

IndustriALL ist ein sehr heterogener Zusammenschluss. Wir haben 600 Mitgliedsgewerkschaften, und das Spektrum reicht von linksradikal bis mitte-rechts. Zum Beispiel haben wir Gewerkschaften, die radikal gegen Freihandelsabkommen kämpfen, während viele Gewerkschaften aus dem Norden Freihandel nicht grundsätzlich ablehnen, sondern die Abkommen lediglich modifizieren wollen. Aber wir haben einen wundervollen Aktionsplan, und wenn man genau hinschaut, könnte man sagen, dass er im Kern einen sozialistischen Ansatz verfolgt. Denn er betont überall die Gleichheit, etwa der Arbeitsbedingungen, oder der Geschlechter, und er will die Macht der Konzerne bekämpfen. Die Frage ist, wie wir ihn durchsetzen. Aber es ist ein transformatorischer Aktionsplan, dessen Wesen sozialistisch ist, auch wenn er das Wort nicht benutzt. Die Mitte-Links-Regierungen in Europa haben nicht mit dem Neoliberalismus und der Austeritätspolitik gebrochen. Die Lula-Regierung hat dies versucht, auch wenn es in Brasilien immer noch Kapitalismus gab, und man den Sozialismus nicht in einem einzelnen Land errichten kann. Aber wenn wir mehr Gleichheit durchsetzen und den Reichtum anders verteilen, dann ist das ein Schritt vorwärts. Weil er das getan hat, wollen sich die Eliten in Brasilien jetzt an Lula rächen und ihn vor Gericht zerren.

Fragen: Florian Wilde, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Rio de Janeiro

Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien am 11.1o.2016 unter dem Titel »Aktionsplan ist im Wesen sozialistisch« in „junge Welt„: https://www.jungewelt.de/2016/10-11/059.php