Vom Grüßen des Busfahrers. Ein Streitgespräch über Parteipolitik und Rot-Rot-Grün. In: ak – analyse & kritik (Nr. 548)
Ende Januar gründete sich das Institut Solidarische Moderne (ISM), das für viele eine Provokation darstellt. Die rechte politische Mitte befürchtet ein neues rot(-grün)es Lager, viele radikale Linke die Wiederbelebung parteipolitischer und parlamentarischer „Illusionen“, ausgerechnet mit den Hartz-IV-Parteien SPD und Grüne! Feststeht: Mit der Gründung des Instituts wird offen über die Regierungsperspektive Rot-Rot-Grün debattiert – unter Beteiligung radikaler Linker. Über Gefahren und Möglichkeiten der vom ISM gestellten Fragen diskutieren Florian Wilde (Die Linke.SDS), Mag Wompel (Labournet) und Thomas Seibert. Das Gespräch führten Ingo Stützle und Jan Ole Arps.
ak: Thomas, du hast dich dem Institut Solidarische Moderne angeschlossen, einer Institution, die als Vordenkerin eines rot-rot- grünen Regierungsprojekts gesehen wird – und wohl auch gedacht ist.
Thomas Seibert: Zwei nähere Bestimmungen sind für mich entscheidend. Erstens: Das ISM ist keine Initiative der drei Parteien, sondern ihrer linken Flügel. Es steht deshalb „nur“ für eine linke Einflussnahme auf Rot-Rot-Grün, nicht für die Sache selbst. Zweitens: Das ISM ordnet den Versuch einer linken Einflussnahme auf Rot-Rot-Grün dem Prozess eines antineoliberalen gesellschaftlichen Blocks ein und unter. Es wirft damit die Frage nach dem Verhältnis zur Regierungsmacht auf. Was heißt es, im und aus der Gegenhegemonie auf Regierungsmacht auszugreifen, warum, wofür und wie kann und soll das geschehen?
Mir geht es in dieser Frage immer um zwei Unterscheidungen. Erstens um die der sozialen Bewegungen und der politischen Linken. Ich glaube, dass es eine politische Linke geben muss, die nicht einfach Bewegung ist. Zweitens um eine Unterscheidung innerhalb der politischen Linken: die zwischen ihrer parlamentarischen und ihrer außer- und antiparlamentarischen Form. Die Partei oder die Parteien sind nicht das Ganze der politischen Linken, sondern das Medium, über das soziale Kämpfe, soziale Bewegungen und außerparlamentarische Linke im Staat präsent sein können. Der Witz liegt darin, das nicht so zu denken, dass man nach einer Form sucht, in der dieses Spiel zu einem harmonischen würde, in Form einer „Doppelstrategie“, in einem Verhältnis von Stand- und Spielbein oder in der Illusion einer „Bewegungspartei“.
Stattdessen gilt es, einen nicht aufzulösenden Konflikt möglichst produktiv auszutragen. Dazu müssen die Akteure des Konflikts – die sozialen Bewegungen und die außerparlamentarische Linke einerseits, die parlamentarische Linke andererseits – getrennt bleiben, je ihrer eigenen Logik folgen – und sich trotzdem aufeinander abstimmen. Das kann durch Debatten geschehen, die ein Akteur wie das ISM initiiert, es kann auch dadurch geschehen, dass sich attac oder die Sozialforen weiter als bisher für Parteien öffnen, ohne ihre Distanz zur Parteiform aufzugeben.
Florian, du hast dich in unterschiedlichen parteipolitischen Projekten im Zusammenhang mit der Linkspartei engagiert und bist gegenwärtig Bundesgeschäftsführer des Studierendenverbandes Die Linke.SDS. Weshalb setzt du auf Parteien oder Parteiinitiativen?
Florian Wilde: Ich setze auf eine von Massenbewegungen getragene sozialistische Transformation der Gesellschaft. Die Entstehung der Linkspartei bedeutet dabei, dass es erstmals seit Jahrzehnten die Chance gibt, sozialistische Vorstellungen aus der Marginalität herauszureißen und sie gesellschaftlich wieder breit zu verankern. Darüber hinaus gibt es durch die Linkspartei die Chance, die Dominanz der Sozialdemokratie in Gewerkschaften und Arbeiterbewegung herauszufordern und vielleicht sogar zu brechen.
Die radikale Linke muss die Entstehung der Linkspartei als einen historischen Einschnitt begreifen, zu dem es sich in ein strategisches Verhältnis zu setzen gilt. Eine emanzipatorische Rolle kann die Partei nur spielen, wenn sie auf soziale Kämpfe und die Selbstemanzipation der Massen als den zentralen Motoren einer sozialistischen Transformation orientiert und ihre erste Aufgabe in der Beförderung solcher Kämpfe sieht. Darum gilt es für radikale Linke in Bezug auf die Linkspartei zu kämpfen, sei es von außen oder von innen.
Was das ISM angeht, befürchte ich, dass es genau die entgegengesetzte Richtung stärken wird, nämlich diejenigen Kräfte in der LINKEN, die auf rasche Regierungsbeteiligung drängen. Unter den gegebenen Kräfteverhältnissen kann dies nichts anderes bedeuten als eine Wiederholung der traurigen Erfahrungen in Berlin und Brandenburg, oder noch viel schlimmer: in Italien. Was mich ärgert ist, dass jemand aus der Bewegung wie Thomas dem Projekt ein radikales Mäntelchen umhängt. Aus Sicht einer radikalen Linken können Regierungsbeteiligungen nur unter einer Voraussetzung Sinn machen: einer substanziellen Veränderung der Kräfteverhältnisse durch eine Eskalation des Klassenkampfs von unten. Auch in Lateinamerika ging den linken Regierungen eine Explosion sozialer Kämpfe voraus. Solange wir hier nicht so weit sind, müssen wir die Finger von Regierungen lassen.
Mag, du hältst dich von parteiförmigen Initiativen eher fern. Braucht die Linke keine Parteien mehr?
Mag Wompel: Wer gewählt werden will, wird Mehrheiten suchen, sich also an die Mehrheitsmeinung anpassen. Ich bin mehr daran interessiert, die Meinung zu verändern, auch wenn es zunächst die einer Minderheit ist.
Ich habe aber schon mehrfach geäußert, dass ich keinesfalls grundsätzlich gegen eine Partei wäre, wenn es eine so starke Bewegung gäbe, dass sie in die Parlamente drängt. Aber das ist Theorie. Praktisch sieht es im Moment für mich so aus, dass die Linkspartei ein eher Bewegungen ersetzendes und auf jeden Fall behinderndes Projekt ist. Allerdings gilt hier, was auch für Betriebsräte gilt: Einen Vertreter im Betriebsrat zu haben, ist für eine oppositionelle Betriebsgruppe sinnvoll, um an Infos zu kommen und die Co-Manager nicht ganz unbeaufsichtigt zu lassen. Auch ich habe öfter befreundete Abgeordnete für sinnvolle Anfragen „benutzt“ und um Infos gebeten.
Thomas, du hast davon gesprochen, dass Linke über Machtfragen nachdenken müssen, auch Regierungsmacht. Wenn man sich die letzten Jahre anschaut: Steht nicht erstmal die Frage im Vordergrund, wie überhaupt Bewegung entstehen könnte?
TS: Diese Frage ist sicher auch wichtig. Aber wenn wir zurückschauen, was seit Seattle in der Linken und in sozialen Bewegungen geschehen ist, dann fällt darin eine prinzipielle Distanz zu Staatsmacht, Regierungsmacht, ja zur Parteiform schlechthin auf. Das war das eigentlich Gemeinsame dieser Bewegungsprozedur. Diesen prinzipiellen Ausschluss von Fragen der Staats- und Regierungsmacht und ihre ausschließliche Verknüpfung mit der gescheiterten Geschichte der Sozialdemokratie und der verschiedenen Leninismen halte ich für etwas, das zwingend aufgebrochen werden muss. Das ist eine Haltung, die sagt, so war es immer schon, so wird es also auch das nächste Mal sein. Das ist doch Quatsch. Stattdessen müsste man fragen: Wie stellt sich diese Frage im eigenen politischen Raum, hier und heute, unter unseren Bedingungen?
Wenn wir über den eigenen politischen Raum sprechen, sprechen wir von den Kräfteverhältnissen, die hier bestehen. Die in Rechnung gestellt: Kannst du im Diskussionsrahmen des Instituts Solidarische Moderne mehr sein als das „radikale Mäntelchen“ für ein rot-rot-grünes Partei- und Regierungsprojekt, wie Florian sagt?
TS: Ein „radikales Mäntelchen“ wäre ich dann, wenn das Projekt versprechen würde, den Sozialismus herbeizudiskutieren. Das tut es ja nicht. Das ISM verbindet Problematiken der antineoliberalen Bewegungen, also Fragen der gesellschaftlichen Hegemonieverhältnisse, mit Perspektiven, die sich seit dem Auftauchen der Linkspartei geöffnet haben – und das ist eine spezifische Variante von Rot-Rot-Grün. So stellt sich für die Linke in Deutschland aktuell – wenn überhaupt – die Frage von Regierungsmacht.
Diese Einschätzung über die aktuelle Konstellation würde ich teilen. Aber weshalb sollte die radikale Linke darüber ausgerechnet an einem Ort wie dem ISM nachdenken? Oder anders: Was ist deine Rolle als radikaler Linker darin?
TS: Eine der wichtigen Besonderheiten der Bewegungsprozedur seit Seattle ist die relativ enge Kommunikation zwischen moderaten und radikalen Linken. Die setze ich jetzt auch im Zusammenhang des ISM fort und wünsche mir zugleich, dass die dort aufgeworfene „Machtfrage“ auch in der außerparlamentarischen Linken breit diskutiert wird – und zwar nicht im Sinne einer „Übernahme“ der Macht, sondern präzise um das Verhältnis von gegenstaatlicher oder staatsferner Macht einerseits, staatlicher oder staatsnaher Macht andererseits. Ich wünsche mir, dass diese Diskussion nicht nur prinzipiell geführt wird, sondern strategisch und programmatisch in Bezug auf konkrete Probleme.
Florian, diese Aufgabe, die Thomas für sich beschrieben hat, gewissermaßen ein „Eisbrecher“ in der Diskussion zu sein, trifft ja gerade deine Befürchtung, richtig?
FW: Ja. Ich muss dazu sagen: Auch ich finde die Zusammenarbeit zwischen radikalen und moderaten Linken, wie es sie seit Seattle gegeben hat, einen großen Fortschritt gegenüber der alten Nischenpolitik und dem sektiererischen Diskurs der 1990er Jahre.
Ich glaube aber, dass jede Verschiebung hin zu Regierungsfragen dazu führen wird, dass die radikale Linke in ein modernisiertes Projekt kapitalistischer Herrschaft integriert wird. Dafür steht derzeit Rot-Rot-Grün. Eine große Gefahr dabei ist ein neuer Bruch zwischen radikalen und moderaten Linken, zwischen Bewegungen und Linkspartei. Das würde die Linke insgesamt schwächen.
Durch die Erfahrung, die ich als Mitglied von Rifondazione Comunista in Italien gemacht habe, bin ich in dieser Frage ein gebranntes Kind. Diese Partei war sehr aktiv in Bewegungen und hat eine starke Allianz zwischen radikalen und moderaten Kräften herausgebildet. Als sie diese Perspektive verließ, hat sie auch die Barrikade gewechselt. Das Ergebnis ist eine tiefe Depression in der italienischen Linken. Diese Erfahrung darf sich in Deutschland nicht wiederholen!
Du wirbst einerseits für Selbstorganisierung und soziale Kämpfe, aber organisierst dich zugleich im Rahmen der Partei. Du sagst, die Partei kann solche Kämpfe beflügeln und vorantreiben. Mag hat eine gegenteilige Einschätzung formuliert.
FW: Mit ihrer Entstehung hat die Linkspartei den gesamten gesellschaftlichen Diskurs verschoben. Sie hat dazu beigetragen, dass die neoliberale Hegemonie durchbrochen und neue Fenster für kritisches Denken geöffnet wurden. Ich denke auch, dass sie dazu beigetragen hat, betriebliche und gewerkschaftliche Kämpfe zu beflügeln, weil sie linke Positionen in Gewerkschaften wieder stärker gemacht und die betonartige Hegemonie der Sozialdemokraten aufgebrochen hat.
MW (lacht): Hast du Beispiele dafür? Mir fallen nämlich keine ein. Ich sehe in den Gewerkschaftsapparaten einen Kampf zwischen Alt-Sozialdemokraten (SPD) und Neu-Sozialdemokraten (Linkspartei) um Pöstchen und Mehrheiten. Ein strategischer Kampf um gewerkschaftspolitische Alternativen sieht anders aus. Das stützt viel mehr meine These, dass die Linkspartei kaum etwas Emanzipatorisches beflügelt hat – eher die Hoffnung auf Parlamente und Petitionen.
FW: Ein Beispiel: Die Mobilisierung zu den Krisenprotesten letztes Jahr am 28. März musste gegen die Gewerkschaftsführung durchgesetzt werden. Dass es aus dem gewerkschaftlichen Bereich trotzdem eine wahrnehmbare Mobilisierung gab, liegt auch daran, dass die Strömungen, die für eine Mobilisierung waren, durch die Linkspartei gestärkt wurden.
MW: Okay. Und was haben uns die Demos außer Kurzarbeit eingebracht?
FW: Ja… Meine Hoffnung war, dass die Mobilisierung radikale antikapitalistische Positionen im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt sichtbar macht. Ich hätte mir wohl gewünscht, dass die Linkspartei diesen Kampf auf ideologischer Ebene schärfer führt und praktisch stärker auf die Demonstrationen setzt. Aber dafür setze ich mich ein: dass sie das stärker und konsequenter macht.
MW: Ich sehe das anders. Die Initiative zu den Demos ging von unten aus. Und der Wunsch, möglichst breite Bündnisse zu schmieden, die Linkspartei dazu zu gewinnen, inklusive Lafontaine, und auch die Gewerkschaftslinke in den Apparaten, hat von vorneherein antikapitalistische Positionierungen verwässert, zum Beispiel in den Aufrufen. Wenn breite Mehrheiten nur zu Verwässerung führen, nützen sie uns überhaupt nichts.
Ich bin für eine breite emanzipatorische Politik und Bewegung. Die fängt für mich damit an, dass die Menschen größere Ansprüche ans tägliche Leben und ein emanzipatorisches Selbstbewusstsein und Verhalten im Alltag entwickeln. Und das schließt für mich aus, dass sie sich klein und machtlos fühlen und nach Stellvertretern rufen. Das tun sie übrigens nicht nur, weil sie sich nichts zutrauen, sondern auch aus Bequemlichkeit und zur Selbst-Entlastung. Damit sie jemanden haben, auf den sie schimpfen können.
Mag, du sagst, es muss zu einem breiten emanzipatorischen Bewusstsein, zu breiter Selbstorganisierung kommen. Gibt es bei dir eine Verbindung zwischen den einzelnen Punkten, an denen eine solche Selbstorganisierung stattfinden könnte – im Alltag, wo auch immer – und wie sieht die dann aus? Die Partei ist ja eine Idee, wie eine Verbindung, ein gemeinsamer Bezugspunkt beschaffen sein könnte.
MW: Nehmen wir die Anti-Hartz-Proteste. Ich war damals schon dagegen, alle unserer Kräfte auf die Vorbereitung einer Großdemonstration zu verschwenden. Wichtiger wären meiner Meinung nach damals wie heute dezentrale Strukturen: Anti-Hartz-Bündnisse oder Sozialforen, um den Spaltungen zwischen den Lohnabhängigen mit und ohne Job etwas entgegenzusetzen.
Zum Zeitpunkt der Hartz-Gesetzgebung waren nicht nur Erwerbslose, sondern alle Lohnabhängigen von StellvertreterInnen maßlos enttäuscht, von der Politik, der SPD, den Gewerkschaften, aber auch von Betriebsräten – bundesweit. Es gab eine Orientierung auf Selbstorganisation. Zu diesem Zeitpunkt ist die Linkspartei massiv in die Lücke gedrängt und hat damit viel Luft aus der Bewegung genommen. Mir geht es nicht um bessere Stellvertreter, sondern darum, dass sich Menschen mit dem Gedanken anfreunden, dass Konflikte zum Leben gehören. In anderen Ländern kann man hierzu viel lernen, so in Frankreich oder Italien.
Ein banales Beispiel: Was passiert mit unseren Steuergeldern? Es herrscht eine relativ abstrakte Aufregung über die Banken vor. Gleichzeitig regen sich viele über Erwerbslose auf. Das ist nichts anderes als mangelnde Solidarität innerhalb der Klasse. Nur wenn jemand etwas bekommen soll, dem es noch dreckiger geht als mir, ist es plötzlich mein Geld, das da verteilt wird. An diesem Punkt können realpolitische Forderungen von attac und teilweise der Linkspartei sinnvoll sein, z.B. bei der Frage nach einer stärkeren Rekommunalisierung des Steuerwesens, einer stärkeren Umverteilung des Steueraufkommens nach unten, wo es auch größere Mitbestimmungsmöglichkeiten geben könnte.
Ein weiterer Punkt ist in meinen Augen, dass allen klar sein muss: Ein Angriff auf andere ist immer auch ein potenzieller Angriff auf mich. Es braucht mehr Solidarität im Alltag. Schon allein wie komisch ich angeguckt werde, wenn ich den Busfahrer grüße! Viel zu viele Menschen ducken sich in der Firma, lassen sich erniedrigen und geben diese Demütigungen einfach weiter, z.B. als Kunde an die Bäckereifachverkäuferin. Menschen haben Angst, auf Hartz-IV zu kommen, tun aber nichts dafür, dass Menschen mit Hartz-IV besser leben.
FW: Ich teile grundsätzlich Mags Herangehen an Selbstorganisierung und den Bruch mit Stellvertretertum. Wir brauchen aber auch Organisationen, die die Perspektive Selbstemanzipation stark machen. Das macht die Linkspartei noch nicht. Sie ist eine Mischung aus einer linkssozialdemokratischen und einer post-stalinistischen Partei, die einen starken bürokratischen Apparat hat und eine starke parlamentarische Orientierung. Die Partei öffnet in meinen Augen aber Räume, damit Selbstorganisierung verstärkt stattfinden kann. Es ist doch nicht zentral, ob eine Forderung radikal ist oder nicht. Viel wichtiger ist, ob sie eine radikalisierende Dynamik freisetzt, weil Menschen anfangen, aktiv zu werden.
Linke Parteien sollten das Parlament im klassisch marxistischen Sinne zur Propagierung sozialistischer Positionen nutzen und Bewegungen Ressourcen zur Verfügung stellen. Linke Abgeordnete haben in meinen Augen vor allem die Aufgabe, sich mit der Autorität eines Parlamentariers vor die Werkstore und Arbeitsämter zu stellen und zu sagen: „Da ich es jeden Tag erlebe, kann ich euch sagen: Der zentrale Ort für gesellschaftliche Veränderung ist nicht das Parlament, sondern ist eure Organisierung. Wenn ihr nicht kämpft, wird sich nichts ändern.“ Die radikale Linke sollte eine solche Orientierung in die Partei einbringen und stärken.
TS: Um diese „strategischen Grundsatzerklärungen“ fortzuschreiben: Ich kann mich euch beiden anschließen und dabei Florian folgen, wenn er einen Schritt weiter als Mag geht, die Rolle der Linkspartei ins Spiel bringt und unterstreicht, dass das Verhältnis zwischen sozialer Bewegung und der politischen Linken nach beiden Seiten durchlässig ist.
Allerdings ist die politische Linke heute vielfältiger als früher und konzentriert sich nicht mehr in der Partei. Deshalb halte ich Florians Sicht für zu traditionell. In deiner Vorstellung, Florian, ist es letzten Endes doch die Partei, die allein relevant ist, wenn auch deshalb, weil sie „Bewegungspartei“ ist bzw. sein soll.
Man muss diese Grundsatzerklärungen auf die konkrete Situation beziehen. Da haben wir den Aufbruch nach Seattle, die starke Akzentuierung der Selbstermächtigung als Reflex auf die gescheiterten Prozesse davor, und entsprechend eine Unterbelichtung der „Machtfrage“. Und aktuell haben wir einen Abschwung von Bewegung, und mit Italien – Florian hat darauf hingewiesen – ein desaströses Beispiel, was den Zusammenhang von Partei und Bewegung betrifft. Das wirft die Frage auf: wie weiter? Ich kann doch nicht endlos auf das italienische Desaster starren und dann einen Sprung zurück machen zu den alten Geschichten vom „Parlament als Tribüne“ und dem ganzen anderen Kram der 1920er Jahre!
Mich interessieren z.B. die Debatten aus der Anfangsphase der Grünen, in denen es um neue Formen der Regierungsbeteiligung ging, solche z.B., in denen man sich auf ein, zwei Punkte konzentrieren wollte, die unbedingt durchgesetzt werden sollten, dafür das ganze andere Programm einfach durchwinkte und sich politisch gerade dadurch von ihm distanzierte. Das wäre heute neu zu denken, etwa im Bezug auf den attac-Dreischritt bedingungsloses Existenzgeld – Arbeitszeitverkürzung – Mindestlohn. Das könnte ein Punkt sein, den man mit Regierungsmacht durchsetzen will. Kann man das heute so denken? Kann man das neu aufnehmen? Das ist z.B. eine Frage, die gegenwärtig zu stellen wäre.
Und schließlich – denn das kam hier noch gar nicht zur Sprache: Warum ist dieser Punkt heute so interessant, gerade mit Blick auf Bewegung? Wir haben doch ganz offensichtlich einen Abschwung von Bewegung. Das ist auch nicht verwunderlich, denn ohne eine Perspektive der Durchsetzung geht auf Dauer niemand auf die Straße. Wenn es eine solche Perspektive nicht gibt, kommen immer nur die ewig gleichen – so wie am 28. März 2009.
Ist dein Argument, Thomas, aus der Position der bewegungspolitischen Schwäche über ein linkes Regierungsprojekt nachzudenken bzw. sich in die Diskussion darum hereinzubegeben?
TS: Ich glaube, dieser Abschwung ist keine grundlegende Schwächung. Ich kann mich da natürlich täuschen. Es ist in jedem Fall eine Pause, die uns zum Nachdenken zwingt über Schwächen, die wir hatten, und eine davon war, dass wir die Frage der Durchsetzung gar nicht aufgeworfen haben. Das heißt aber nicht, dass ich das Loch in Bewegung mit Spekulationen über Regierungsbeteiligung überspringen will, das wäre lächerlich.
Mag und Florian: Macht es unter dem Gesichtspunkt, die Durchsetzungsmöglichkeiten für eine Politik von unten zu verbessern, Sinn, über eine rot-rot-grüne Machtoption mitzudiskutieren?
FW: Thomas, du hast natürlich Recht, Leute gehen dann auf die Straße, wenn sie auch glauben, etwas durchsetzen zu können. Die Frage ist: Helfen uns linke Regierungsbeteiligungen dabei? Die historische Erfahrung lehrt uns da erstmal etwas anderes. Die Sozialdemokratie des Kaiserreichs konnte massive Fortschritte für den Lebensstandard der proletarischen Bevölkerung durchsetzen, ohne jemals eine Option auf Regierungsbeteiligung zu haben. Die Sozialreformen der 1950er und frühen 1960er Jahre in Deutschland bis hin zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind erkämpft worden gegenüber einer konservativen Hegemonie in der Regierung. Es gibt keinen Automatismus, dass man nur etwas durchsetzen kann, wenn linke Parteien regieren.
Im Gegenteil zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre in Europa und die rot-roten Landesregierungen in Deutschland klar, dass es zur Zeit überhaupt keine Spielräume gibt, mit linken Regierungsmehrheiten substanzielle Fortschritte durchzusetzen. Das Gegenteil ist passiert: Diese Regierungen haben eine neoliberale Politik mitgemacht und ihre eigene Basis angegriffen. Die leeren Kassen in Zeiten der Krise werden das noch verschärfen.
Hinzu kommt, dass der Block, den wir seit Seattle in der Bewegung hatten, durch die Krise aufzubrechen droht, weil der Großteil der herrschenden Klasse über eine neokeynesianische Wende nachdenkt. Über Diskussionen wie den Green New Deal werden Teile der Bewegung in ein neues Herrschaftsprojekt integriert. Ich hätte erwartet, dass da Teile von attac die Seiten wechseln. Dass Leute wie Thomas dran mitstricken, finde ich verstörend. Ich finde, wir als radikale Linke dürfen uns nicht an kapitalistischen Herrschaftsprojekten beteiligen, sondern müssen uns an ihrer Überwindung orientieren. Da hilft nur der Kampf von unten.
MW: Ich glaube, ich habe einen anderen Bewegungsansatz als ihr. Ich rekurriere nicht darauf, wofür die Menschen auf die Straße gehen oder wann sie auf die Straße gehen. Für mich tun sie das ein bisschen zu häufig und entlasten sich damit im Alltag. Was mir fehlt, ist die Verweigerung all dessen, was man im Alltag von uns will. Auch Gesetze, auch, was neoliberale Ideologie genannt wird, wird von denen, die es eigentlich nicht wollen und gegen die es sich richtet, tagtäglich umgesetzt und verfestigt. Deswegen fängt für mich so eine Alltagsverweigerung ganz im Kleinen an. So z.B. meine – bisher – gescheiterten Versuche, ARGE-SachbearbeiterInnen daran zu erinnern, dass auch sie Lohnabhängige sind. In Frankreich gibt es sehr wohl Beispiele, wo sich Menschen in ähnlicher Funktion auch öffentlich und strikt verweigern, Schikanen weiterzugeben und den Büttel zu spielen. Da hat in der Tat jeder einzelne weit mehr Spielräume als er sich eingestehen will.
Wenn wir eine Partei hätten, die es wirklich vorlebt, was mir da vorschwebt, auch in ihren Strukturen, dann würde ich sofort Mitglied werden. Andererseits denke ich – als Arbeitsökonomin, die ich jahrelang war – über effizienten Ressourceneinsatz nach: So viele engagierte Menschen sind wir nicht, dass wir allzu viele in Sackgassen wie Parteien schicken könnten. Ansonsten wäre es mir egal, wo sich wer engagiert, solange er im Alltag das lebt, was er propagiert. Allzu viele sagen, das ist ein Job zur Existenzsicherung. Das ist der Job, und die linke Politik mach ich am Wochenende oder nach Feierabend in Versammlungsräumen. Solange man das tut, tragen wir zwangsläufig im Alltag dazu bei, das, was wir bekämpfen wollen, überhaupt zur Realität werden zu lassen.
Florians Argument ist, eine starke Linkspartei schafft Spielräume dafür, dass sich Menschen in ihrem Alltag organisieren und anders verhalten, und Thomas‘ Argument war, eine linke Macht- oder Veränderungsperspektive ermutigt zur Selbstorganisierung. Was würdest du dazu sagen?
MW: Ich kenne dafür keine positiven Beispiele. Unter Alltag verstehe ich nicht, dass man vor Ort zu einer Veranstaltung der Linkspartei geht. Mit Alltag meine ich den Alltag als Lohnabhängige, als Schüler, als Steuerzahler, als Staatsbürger, als Kunden oder Klienten. Um dort aktiv zu werden, braucht man keine Mitgliedschaft, sondern einfach ein waches Auge. Wenn wir da eine breite Verweigerungsbewegung hätten, gegen Entsolidarisierung, Erniedrigung und Schikanen, dann würde sich die Organisationsfrage gar nicht mehr so stellen.
TS: Ich glaube schon, dass da mehr hinzutritt. Ich denke, dass politische Ereignisse und Erlebnisse – in meinem Fall Demonstrationen, an denen ich teilgenommen habe, aber auch Ereignisse wie z.B. die portugiesische Revolution 1974 – dazu beitragen, die politische Ebene in den Alltag zu holen. Das beinhaltet das Wissen, dass man etwas durchsetzen kann. Dafür ist auch die Frage nach den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft wichtig. Im Gegensatz zu Florian glaube ich, dass diese derzeit von einer historisch einzigartigen Instabilität geprägt sind. Natürlich haben wir derzeit keine Massenbewegungen. Doch daraus kann man nicht schließen, dass die andere Seite fest im Sattel sitzt, im Gegenteil. Das macht die Punkte möglichen Umbruchs so wichtig. Und da wäre ich im Bezug auf den Green New Deal vorsichtiger. Der ist sicher zunächst ein Versuch der Reorganisation von kapitalistischer Herrschaft. Doch sind das Ausmaß und die Dringlichkeit der ökologischen Krise so groß, dass schon die Problematisierung des Green New Deal ein Feld öffnet, in dem es ganz plötzlich turbulent zugehen kann. Darauf sollten wir uns vorbereiten, und das mit einer Durchsetzungsperspektive, von der ich glaube, das sie nur in der Kommunikation moderater und radikaler Linker ausgearbeitet werden kann, im konfliktiven Zusammenhang von gesellschaftlicher Selbstermächtigung, sozialer Bewegung und Versuchen, von links her auf Regierungsmacht Einfluss zu nehmen.
Drei Leute – drei Schlussworte?
MW: Mit dem meisten, was Thomas gesagt hat, bin ich einverstanden. Aber für mich hat gegenwärtig Vorrang: das Selbstbewusstsein und Engagement im Alltag stärken. Solange die Lohnabhängigen kapitalistisches Leistungsdenken verinnerlicht haben, können wir lange z.B. für ein bedingungsloses Grundeinkommen kämpfen. Das ist also die Pflicht, alles andere ist Kür.
FW: Thomas‘ Fragen sind spannend, aber relevant werden sie erst, wenn wir eine Massenbewegung haben. Bis dahin müssen wir uns die Frage stellen, wie wir Bewegungen bestärken, forcieren, mit anstoßen und unterstützen. Ohne eine Massenbewegung kann uns jede Regierungsbeteiligung nur schwächen.
TS: Ich würde behaupten, dass die Anzahl ins Leere gelaufener Massenaktionen der Anzahl gescheiterter Regierungsbeteiligungen von links nicht nachsteht. Wir können uns auf gar nichts gefahrlos beziehen, alles ist bisher irgendwie gescheitert. Es kommt jetzt darauf an, neue Elemente ins Spiel zu bringen und zugleich die alten neu ins Spiel zu bringen. Die Bedenken, die Florian formuliert, habe ich auch. Ankerungspunkt – und da scheinen wir uns einig zu sein – ist die Selbstermächtigung, beginnend im Alltag. Diese braucht aber Fixpunkte. Das können Organisierungsweisen sein, das können Demonstrationen sein, das können Gegebenheiten und Ereignisse mit einer anfeuernden Wirkung sein. Aber es geht nur in diesem Kreis. Dass man in diesem Kreis an jeder Stelle Scheiße bauen kann, liegt auf der Hand. Ich hoffe, das nicht zu tun.