Wie sich die griechische Linke selbst erledigte

(Jacobin)

Wie sich die griechische Linke selbst erledigte.

Vor fünf Jahren flog die radikale antikapitalistische Linke aus dem griechischen Parlament und überließ den rechten Parteien die Opposition gegen Alexis Tsipras‘ harten Sparkurs. Ein tragisches Lehrstück über die Folgen linken Sektierertums. Von Florian Wilde.

Niederlagen linker Kräfte aufgrund der Übermacht der Gegner und einer ungünstigen historischen Situation sind bitter. Tragisch jedoch sind Niederlagen, die im eigenen Unvermögen begründet sind.

Ein solcher Fall ließ sich vor fünf Jahren in Griechenland beobachten, als sich Laiki Enotita (»Volkseinheit«, kurz LAE) und Antarsya (»Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz«) – die führenden Gruppierungen links von Syriza – angesichts vorgezogener Neuwahlen im September 2015 nicht auf einen gemeinsamen Wahlantritt einigen konnten. Dieses Versagen wurde mit Jahren der Marginalisierung gestraft – ein Zustand, der sich seitdem nur verschlimmert hat, und für den kein Ende in Sicht ist.

Der Sommer der Hoffnung

Der Sommer 2015 war ein Schicksalsjahr für die europäische Linke. Im Spätsommer überrannten hunderttausende Geflüchtete die europäischen Grenzen. Als Reaktion darauf erlebten rechte Kräfte einen dramatischen Aufschwung – auch weil die Linke kurz zuvor in Griechenland eine historische Niederlage eingefahren hatte.

Die erste Jahreshälfte 2015 hingegen hatte noch ganz im Zeichen eines linken Aufbruchs gestanden: In Irland und Spanien schien eine Regierungsübernahme durch Linksparteien in Reichweite, und in Griechenland hatte es mit der von Alexis Tsipras angeführten Syriza erstmals seit Jahrzehnten eine linke Partei tatsächlich in die Regierung geschafft. Wellen der Hoffnung erfassten die Linke in ganz Europa nach dem Motto, »First we take Athens, than we take Berlin!«.

Syriza war nicht einfach irgendeine Linkspartei, sondern eine plurale Koalition aus Reformlinken und radikaleren Formationen, die mit einem revolutionären Anspruch in das Bündnis eingetreten waren. Ihr Programm war das radikalste Regierungsprogramm auf dem Kontinent seit den frühen 1980er Jahren. Es stand für ein Ende der Austeritätspolitik und setzte auf einen Schuldenerlass durch die Banken und die dominierenden Staaten der EU.

Doch diese zwangen der Partei erst Monate bleierner Verhandlungen auf und blockten dann alle Maßnahmen, die der griechischen Regierung Spielräume für eine fortschrittliche Sozialpolitik geboten hätten. Im Frühsommer steuerte die Auseinandersetzung auf ihren Höhepunkt zu und mündete in einem Referendum der griechischen Bevölkerung über das Diktat, dass eine Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission dem Land aufzwingen wollte.

Mit deutlicher Mehrheit votierten die Griechinnen und Griechen Anfang Juli mit »OXI!« – ein klares Nein zur Austeritätspolitik. Doch nur wenige Tage später kapitulierte die Tspiras-Regierung und verpflichtete sich zu einer Umsetzung der Memorandums-Politik der Troika. Unmittelbar darauf kündigte Alexis Tsipras für den 20. September vorgezogene Neuwahlen an. Zu den Zielen dieses Neuwahl-Manövers gehörte, eine sich abzeichnenden Syriza-Linksabspaltung zu unterbinden. Tatsächlich verließ der einst so mächtige linke Flügel um landesweit bekannte Linkspolitiker wie Panagiotis Lafazanis und Zoe Konstantopoulou mit 26 Parlamentsabgeordneten und vielen ihrer organisierten linken Strömungen die Partei und gründete die Volkseinheit (LAE), die für einen Bruch mit der EU-Troika einstand.

LAE war aber keineswegs die einzige Kraft links von Syriza. Neben der traditionskommunistischen Partei KKE, die jede Kooperation mit anderen Linkskräften prinzipiell ausschloss, bereitete auch die plural zusammengesetzte, antikapitalistische Formation Antarsya ihre Kandidatur vor. Bei letzterer handelt es sich um eine seit 2009 bestehende und in den außerparlamentarischen Bewegungen sehr aktive Wahlkoalition aus kommunistischen, maoistischen und trotzkistischen Organisationen, die teilweise aus demselben politischen Umfeld hervorgegangen waren wie die linken Strömungen, die Syriza nun verließen. Ihr bestes Ergebnis erzielte Antarsya bei den Parlamentswahlen vom Mai 2012 mit 1,2 Prozent, womit sie allerdings dennoch an der parlamentarischen Drei-Prozent-Hürde gescheitert waren.

Im September 2015 wurde dieses Spektrum der radikalen Linken plötzlich durch die schnelle Abfolge von Tsipras’ Kapitulation und der Ausrufung vorgezogener Neuwahlen vor eine unvorhergesehene Entscheidungssituation gestellt. Nun galt es, die radikale Linke nach der Kapitulation von Syriza als sichtbare, im Parlament vertretene Kraft neu aufzustellen.

Ein Blick nach Mitteleuropa

Die Situation hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der in Deutschland zehn Jahre zuvor. Damals war Gerhard Schröder Kanzler der nominell stärksten, linken Regierung der bundesrepublikanischen Geschichte: einer Koalition aus SPD und Grünen. Doch nachdem diese Regierung eine 180-Grad-Wende durchmachte und einen harten neoliberalen Kurs verfolgte, rief Schröder im Sommer 2005 überraschend Neuwahlen aus, um einer Linksabspaltung der SPD – der WASG – den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihr keine Zeit für eine Formierung zu lassen.

Während beim Bruch des linken Flügels von der Syriza zahlreiche Abgeordnete und Vorstandsmitglieder den Schritt in die LAE mitgingen, hatten sich, von dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine einmal abgesehen, nur wenige prominente Sozialdemokraten und Grüne der WASG angeschlossen, darunter kein einziger Bundestagsabgeordneter. Die WASG war bei den Landtagswahlen in NRW bereits an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, weshalb Schröder sich sicher sein konnte, dass sich die WASG durch vorgezogene Wahlen auch aus dem Bundestag heraushalten ließe. Hinzu kam, dass sich die Stimmen links der SPD weiter aufzuspalten versprachen: einerseits auf die WASG und andererseits auf die bereits bei der Bundestagswahl 2002 an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten PDS. Dieses Szenario ließ die Neoliberalen von SPD und Grünen berechtigt darauf hoffen, nach der Wahl fester denn je im Sattel zu sitzen und ihren linken Flügel in die politische Bedeutungslosigkeit manövriert zu haben – ganz so, wie es Tsipras im September 2015 gelingen sollte.

Doch WASG und PDS überraschten mit einer unerwarteten Gegenoffensive: unter dem Druck der vorgezogenen Neuwahlen entschieden sich die beiden bisher konkurrierenden Parteien zu einem gemeinsamen Antritt unter dem Label »Linkspartei.PDS« und schafften am 18. September 2005 mit einem starken Ergebnis von 8,7 Prozent den Sprung in den Bundestag. Die deutsche Linke ging also keinesfalls nur geschlagen aus den Jahren der Schröder-Regierung hervor: zwar hatten SPD und Grüne endgültig vor dem Neoliberalismus kapituliert und waren zu seinen neuen Protagonisten geworden, die mit der Agenda2010 eine in Deutschland bisher ungekannte brutale Form der Austeritätspolitik durchsetzten. Aber links von ihnen vollzog sich eine dynamische Neuformierung in einer pluralen Partei, die als DIE LINKE in den folgenden 15 Jahren zu einem Sammelbecken kapitalismuskritischer, linker Politik werden sollte.

Getrennt in der Bedeutungslosigkeit versunken

Wären LAE und Antarsya im September 2015 in Griechenland ähnlich vorgegangen, dann wäre die politische Konstellation der letzten Jahre eine andere gewesen: die Koalition aus Syriza und der rechtspopulistischen Anel, die nach den Wahlen im September wieder auf eine knappe Mehrheit kam, hätte beim Einzug einer weiteren Kraft ins Parlament keine Mehrheit finden können und wäre auf einen zusätzlichen Koalitionspartner – wahrscheinlich eine der neoliberalen Kleinparteien – angewiesen gewesen. In solch einem heterogenen Dreierbündnis dürfte Tsipras kaum eine ganze Legislaturperiode überstanden haben.

Der ehemalige linke Flügel der Syriza hätte Tsipras in der Opposition entgegengestanden und ihn wegen der einst gemeinsam vertretenen und nun von ihm verratenen Politik kritisieren können. Zugleich hätten sie sich als linke Bündnispartner für eine alternative strategische Orientierung für Syriza aufstellen können – und dann gemeinsam die Wiederaufnahme des Kampfes gegen die EU-Troika angehen können. Eine sichtbare und relevante linke Kraft hätte auch als wichtiger Bezugspunkt für soziale und gewerkschaftliche Kämpfe gegen die nun von der Syriza exekutierten europäischen Austeritätspolitik fungieren können.

Stattdessen brach die für Griechenland so prägende Welle an Generalstreiks und Massenprotesten mit der zweiten Tspiras-Regierung ab und wich einer langanhaltenden lethargischen Ebbe der Mobilisierungen. Die Frustration historischen Ausmaßes der linksradikalen aktivistischen Milieus nach der Syriza-Kapitulation wäre weit geringer ausgefallen, so eine linke Alternative mit gesellschaftlicher Relevanz existiert hätte. Und durch eine Präsenz im Parlament hätten diesen Kräften materiellen Ressourcen für den Aufbau einer neuen Linken zur Verfügung gestanden.

Objektiv betrachtet war die Lage für die antikapitalistische Linke im Frühherbst 2015 keinesfalls schlecht – im Gegenteil, sie schien geradezu einem Lehrbuch über die Erfolgsaussichten revolutionärer Kräfte zu entspringen. Eine Welle von Generalstreiks hatte in Europa eine seit den 1970er Jahren beispiellose linke Mobilisierung losgetreten. In Griechenland hatte sich die stärkste radikale Linke des Kontinents formiert und eine linksreformistische Regierung ins Amt gespült. Letztere gab dem Druck der Troika nach und begann, die sie bisher tragenden Bewegungen anzugreifen und zwang dadurch ihren linken Flügel zu einer Abspaltung.

Die Chancen für eine Neuformierung der Kräfte links von Syriza standen gut. Dafür hätten sich die Führungen von LAE und Antarsya in dieser Situation lediglich auf irgendeine Form des gemeinsamen Wahlantrittes einigen müssen, sei es als gemeinsame Liste wie in Deutschland 2005, sei es als gemeinsame Partei, sei es durch den Verzicht der einen zugunsten des Wahlantrittes der anderen Formation. In jeder dieser Varianten wäre die Geschichte der radikalen Linken in Griechenland in der zweiten Hälfte der letzten Dekade eine andere geworden.

Doch stattdessen zogen LAE und Antarsya getrennt voneinander und in Konkurrenz zueinander in die Neuwahlen und scheiterten beide an der Drei-Prozent-Hürde. LAE äußerst knapp mit 2,9 Prozent und 155.000 Stimmen, Antarsya mit gerade einmal 0,85 Prozent und 46.000 Stimmen. Zweifellos wäre bei einem gemeinsamen Wahlantritt der Sprung über die 3 Prozent – und damit also der Sprung ins Parlament – gelungen. Womöglich wäre das Ergebnis durch die Dynamik einer gemeinsamen Wahlkampagne sogar noch besser ausgefallen, als es die Zusammenrechnung beider Wahlergebnisse nahelegt. Doch beide Seiten scheiterten daran, über ihren vereinsmeierischen Schatten zu springen, sich zusammenzuraufen und damit ihrer Verantwortung für die griechische Linke gerecht zu werden. Zu groß war die Fetischisierung der jeweiligen – für Außenstehende oft kaum unterscheidbaren – Inhalten, die man selbst als die allein richtigen erachtete und von denen man glaubte, sie könnten nur innerhalb des eigenen Bündnisses ihren organisatorischen Ausdruck finden.

Beim nächsten Mal mehr Glück?

Und so nahm die Tragödie der griechischen Linken ihren allseits bekannten Lauf: Tsipras konnte mit stabiler Mehrheit die Austeritätspolitik durchsetzen und die komplette Regierungsperiode überstehen, bis er nach den nächsten regulären Wahlen 2019 einer konservativen Regierung weichen musste. Auf der Oppositionsbank saßen keine Ex-Genossen, die immer wieder den Finger in die Wunden des Verrates hätten legen können, und die antikapitalistischen Kräfte waren nicht im Parlament und wurden damit auch gesellschaftlich unsichtbar und marginalisiert.

In Folge der Enttäuschungen über eine linksreformistische Regierung hätten linke Kräfte eigentlich einen erfolgreichen Aufschwung erleben können. Doch in Griechenland geschah das Gegenteil: getrennt anstatt vereint stürzten LAE und Antarsya gemeinsam in die Bedeutungslosigkeit. Nachdem LAE bei den Wahlen im September 2015 zunächst an der Drei-Prozent-Hürde gescheitert war, verlor die Partei bei den Wahlen 2019 stolze 90 Prozent ihrer Wähler und fuhr nur noch magere 0,3 Prozent der Stimmen ein, während es Antarsya nicht gelang, aus den Niedergang der LAE irgendetwas für sich abzuschöpfen. Im Gegenteil: Auch die radikalere der beiden Formationen verlor die Hälfte ihrer Wähler und fuhr mit 0,4 Prozent ein vernichtendes Ergebnis ein. Und so liegt die bis in den Sommer 2015 sehr einflussreiche antikapitalistische Linke Griechenlands, damals die stärkste des Kontinents, heute geschlagen am Boden. Dass es auch 2019 durchaus noch elektoralen Spielraum links der Syriza gab, verdeutlicht die Partei des ehemaligen Finanzministers Yannis Varoufakis, MeRA25, die 2019 erstmalig in das Parlament einzog.

Als tragisch gilt eine Handlung im engeren Sinne erst dann, wenn ihr Ausgang ungeachtet aller guten Intentionen unausweichlich war. Vielleicht war das in Griechenland so aufgrund des historisch eingeschriebenen Sektierertums der Akteure, verbunden mit taktischer Unflexibilität und einer Überhöhung der Bedeutung der eigenen Mikro-Partei. Aber ob die Tragödie der griechischen Linken als Menetekel einer unausweichlichen Tragödie antikapitalistischer Kräfte im 21. Jahrhundert insgesamt gelesen werden wird oder ob das Jammern über diese selbstverschuldete Niederlage zu einer reinigenden Katharsis führt, wird nur die Zukunft zeigen. Zu hoffen bleibt, dass aus dieser Niederlage eine Abkehr des Sektierertums und eine neue Bereitschaft für kooperative politische Bündnisse erwächst.

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